Wörterbuch der Theaterpädagogik (erschienen 2003)

Revue

Die R ist eine offene theatralische Form mit langer theaterhistorischer Tradition über Europa hinaus (vgl. Fiebach 131ff.; Huang-Hung 273) und für die ThP von zentraler Bedeutung. Sie ist ein synthetisches Genre, das verschiedenste performative Formen aufnehmen und insofern in besonderem Maße an die Erfahrungen und Fähigkeiten von SpielerInnen anknüpfen kann. Charakteristisch bei aller Vielfalt ihrer historischen Prägungen ist die mögliche Herabsetzung der Grenzen zu anderen, auch außertheatralischen Kommunikationsformen, in die sie eingelassen werden kann (Fest, Jahrmarkt, Salon, Versammlung/ Meeting, Straße). Sie ist eine theatrale Gebrauchsform, die vorrangig zu Zwecken der unterhaltsamen Gesellung, weltanschaulich-politischen Verständigung und Aufklärung eingesetzt wurde. Ihre Dramaturgie ist den Potenzialen der darstellenden Künste zu  direkter  Kommunikation  zwischen  Darstellern und Zuschauern verpflichtet (Schau, Einzüge, Paraden, Attraktionen, Masken, Allegorien, Typagen). R-formen können „Rezeption in der Zerstreuung“ (Benjamin u. a. 1039) in besonderer Weise organisieren. Der abgelenkte Zuschauer wird nicht als ein zu Belehrender behandelt, es wird zumeist an die vorhandenen Fonds sozialer, politischer, kultureller Erfahrungen, Kenntnisse und Interessen angeknüpft; sie bilden den Stoff. Häufig existiert eine Affinität zu komischer, satirischer Behandlung der Gegenstände, emanzipatorische Impulse werden über Unterhaltung kommuniziert.

Daneben gab es vom französischen Jahrmarktstheater des 18. Jhs. bis zum 20. Jh. auch stärker literarisierte Formen  der R.  So  stellte  Bertolt  Brecht  für  die 1930er Jahre fest, dass die „Revueform literarisiert“ worden sei und einige wertvolle Verfahren bereitstelle für das „Bedürfnis nach naivem, aber nicht primitivem, poetischem, aber nicht romantischem, wirklichkeitsnahem, aber nicht tagespolitischem Theater“ (Brecht 13). Kennzeichnend für die literarisierten Formen ist die Auflockerung einer kausal-final gebauten Fabelstruktur zugunsten lose gefügter Szenen, eines episodischen Aufbaus. Die organisierende Rolle geht vom thematischen Bezug aus, oft als ,roter Faden‘ bezeichnet. R arbeitet zumeist mit überhöhten Formen der Figurengestaltung, unterschieden von Darstellungsmethoden und dramaturgischen Mustern, die auf eine Durchführung von Rollen, individuellen Charakteren und ihrer Entwicklung hin angelegt sind.

So ist das populäre, mit den Jahrmärkten verbundene, in revueartigen Dramaturgien gearbeitete Theater auch von den künstlerischen Avantgarden zu Beginn des 20. Jhs. im Zuge einer ,Retheatralisierung‘ (Georg Fuchs) des Theaters als Traditionslinie gewürdigt worden.  Wsewolod  Meyerhold  hatte  in  seinem  berühmten Aufsatz Balagan (das russische Jahrmarktstheater) bereits 1912 auf die Bedeutung der nichtliterarischen Traditionen – der Spektakel, der Jongleurs und Pantomimen, der Masken, Harlekine und des Jahrmarktes – hingewiesen. Sein Interesse galt Formen, die „Tiefe und Konzentration, Kürze und Kontraste“ realisieren konnten (vgl. Meyerhold 93). Seine Arbeiten nach der Revolution im Rahmen des ,Theateroktober‘, insbesondere in der Kooperation mit Wladimir Majakowski bei der Inszenierung von Mysterium buffo. Drama in 6 Akten mit Zirkus und Feuerwerk zeigen die Möglichkeiten eines politischen R-theaters.

Dass sich das R-theater auffällig als Amateurtheater entwickelte und bis heute ein bevorzugtes thp Genre bildet, ist in den 1920er Jahren in Sowjetrussland wie in Deutschland zu beobachten. Die besondere Eignung zu operativem Gebrauch (u.a. schnelle Ein- und Umstellungen auf Themen, Publikum, Kommunikationsstrategien) wurde für die politische Agitation und Propaganda in den Agitprop-Bewegungen genutzt. Die berühmten ,Blauen Blusen‘ (so benannt nach ihrem ,Kostüm‘, dem blauen Arbeitsdress) gingen 1924 aus dem Moskauer staatlichen Institut für Journalistik hervor, riefen weitere Truppen im ganzen Land und – nach einem Gastspiel 1927 – auch in Deutschland hervor. Ihr Ausgangspunkt war die Darbietung einer „lebenden Zeitung“ (vgl. Hoffmann u. a. 241). Theaterhistorisch bedeutend in der deutschen politischen  R  ist  v. a.  Erwin  Piscators  R.R.R.  [Revue Roter Rummel] (1924) und Trotz alledem (1925). Mit R.R.R. unternahm Piscator, der schon im Proletarischen Theater (1920/21) mit R-dramaturgien experimentierte, unter dem Eindruck der „Auflösung der bürgerlichen Dramenform“, einen Beitrag zum Wahlkampf der KPD. Er beobachtete den Erfolg der bürgerlichen R als Massenphänomen und verwies gleichzeitig auf Kommunikationsformen politischer Art in den ,Bunten Abenden‘, die er im Rahmen der Internationalen Arbeiterhilfe (IAH) organisiert hatte (vgl. Piscator 60ff.). R interessierte ihn als operatives Genre zu aktueller Aussage („Vieles war roh zusammengehauen, der Text völlig unprätentiös, aber gerade das erlaubte bis zum letzten Augenblick die Einschaltung der Aktualität.“, ebd. 61). Dazu montierte er (mit dem Autor Felix Gasbarra) einen temporeichen Nummernwechsel, der die Aufmerksamkeit des Publikums mit allen sinnlichen Mitteln beanspruchte, „unter skrupelloser Verwendung aller Möglichkeiten: Musik, Chanson, Akrobatik, Schnellzeichnung, Sport, Projektion, Film, Statistik, Schauspielerszene, Ansprache“ (ebd.). Piscator arbeitete in R.R.R. mit einer in der R-dramaturgie häufig verwendeten Technik, der Conférence. Die Conférenciers nehmen eine besonders publikumsnahe Position ein, können als ,Geschichten-Erzähler‘ fungieren. Differenz und Vielfalt dieser Funktion wird sichtbar, betrachtet man den Arlequin der französischen Comédie Italienne, der Spielmacher und Philosoph ist, im Gegensatz zum wortlosen ,Fräulein Nummer‘ in den modernen bürgerlichen Schaurevuen der 1920/30er Jahre. Piscator leitete seine Conférence aus der alten Operette mit ihren commère und compère (einer Art klatschendem Paar) her. Er besetzte sie mit den sozialen Masken des Proleten und Bourgeois, „die durch eine locker gefügte Handlung verbunden, den Ablauf des Ganzen vorwärtstrieben und die einzelnen Bilder interpretierten“ (ebd. 62). Sie betraten die Bühne in einem lauten Streit aus der Mitte des Publikums und verkörperten das Thema (Klassenkampf). Damit hatte Piscator einen Typus der politischen R kreiert, der in der Weimarer Republik vor allem in Spieltrupps des Kommunistischen Jugendverbandes (KJVD) fortgesetzt wurde (vgl. Hoffmann u.a. 185ff.). Hier wurde die soziale Typage erweitert (Junker, General, Pfaffe) und ein optisches, verkürzendes Signalement ganz im Sinne der ,Schaubude‘ bevorzugt.

Schon um 1900 hatte es ein (an Paris orientiertes) Rtheater in Berlin gegeben (Metropoltheater), dessen Dramaturgie einem thematischen Jahresrückblick verpflichtet war. Darin wurden Schauplätze, Ereignisse, Personen, Bildungsgüter als optische Versatzstücke ironisch ,revueisiert‘. Es gab bunte, belebte Aufzüge, Kostümschau, schnellen Wechsel der Orte und Milieus, ausgiebigen Einsatz des Balletts (vgl. Schneidereit 134ff.). Nach dem 1. Weltkrieg ist ein sprunghaftes Anwachsen von R-produktionen in europäischen Metropolen wie auch in Nordamerika zu beobachten. Mochten die R ursprünglich nationale Besonderheiten besessen haben, spielten diese nun inhaltlich keine Rolle mehr. Resultat dieser Entwicklung war, dass die R „ohne viel Änderung und Zutat unter den Hauptstädten der Erdkugel ausgetauscht werden“ (Kutscher 130) konnte. Dieser Umbau der R zu einer international standardisierten Form des bürgerlichen Unterhaltungstheaters illustriert auch Auswirkungen der Internationalisierung von Kapitalprozessen auf das Geschäftstheater. Gleichzeitig sind die auf die ,reine‘ Schau gestellten R der 1920er Jahre Ausdruck des von der Großstadt geprägten Umbaus der Wahrnehmungsweisen. Den neuen sinnlichen Oberflächen (Straße, Warenhaus, Kino usw.), dem visuellen Erscheinungsbild der Dinge,   den   neuen   Geschwindigkeiten  musste eine „Alphabetisierung“ des Sehens folgen, die die „anschwellenden Wirklichkeiten“ (Léger 124) bewältigen helfen konnte. Die arrangierte Warenwelt, die eine schnelle Rhetorik des Reizes entwickelt hatte (die „gewaltige Bühnenregie des Lebens“, Léger ebd.), fand ihre Entsprechung in den R-produktionen von Erik Charell, Hermann Haller und James Klein. Titel wie Schön und schick („eine Revue vom Auto und seinen Chauffeuren und Fahrgästen“), An alle und Achtung Welle 505 verweisen auf ein Massenpublikum, das von dem Spektakel vor allem der Ausstattung angezogen werden sollte. Zu den stereotypen Gestaltungsmitteln dieser R gehörten die aus der amerikanischen Praxis tradierten Girl-Truppen (z. B. die Tiller Girls der Haller Revuen), die, in ihrer uniformen Ausstaffierung, den „Massenartikel in das Triebleben des Großstädters eingeführt“ (Benjamin 87) haben. Die Zurschaustellung schöner Oberflächen, der unbekümmerte ,Verbrauch‘ von Formen, Inhalten, Milieus in thematischer Zurichtung auf ein Massenpublikum hat ausgangs der 1920er Jahre zu einem (von Kritikern zeitig diagnostizierten) Ende dieser Form geführt (vgl. Léger 130). Formen in ihrer Bewegtheit, Verwandlungsfähigkeit, Virtuosität, Improvisationskraft und Bildhaftigkeit sind von vielen Theaterpraktikern und -theoretikern als vielfältige Verfahren bereitstellende Gattung gewürdigt worden. Besonders nachdrücklich haben Walter Benjamin und Bernhard Reich die R als Modernisierungsmedium gefeiert. Am Beispiel einer fiktiven Londoner Hamlet-Aufführung  im  Jahr der ,Erstaufführung‘ stellen sie auch Shakespeare in die R-tradition: „Eigentlich sind das alles ja keine Stücke, sondern nur zwei oder drei handlungsführende Hauptszenen, um diese sind dann eine Reihe von Einlageszenen gruppiert […]. Im übrigen treibt in ihnen der Schauspieler sein Wesen und der Dichter ist abgesetzt.“ (Benjamin u.a. 170ff) Damit sei auch eine Freiheit des Zuschauers verbürgt, der nach Belieben kommen und gehen kann und seine ,Glanznummer‘ favorisiert. Die rhetorische Frage ihres gemeinsamen Aufsatzes Revue oder Theater wird ganz eindeutig zugunsten  der  R beantwortet.

Benjamin, Walter: Das Paris des Seconde Empire bei Baudelaire. Berlin 1971; Ders./Reich, Bernhard: Revue  oder Theater. In: Brauneck, Manfred (Hg.): Theater im 20. Jahrhundert. Reinbek 1986; Brecht, Bertolt: Über das Volksstück. In: Berliner Ensemble. Helene Weigel (Hg.): Theaterarbeit. Berlin, Frankfurt a. M. 1961; Fiebach, Joachim: Theater in Afrika. Berlin 1986; Hoffmann, Ludwig/ Hoffmann-Ostwald, Daniel: Deutsches Arbeitertheater 1918–1933. Berlin 1972; Huang Hung: Das chinesische Theater. In: Kindermann, Heinz (Hg.): Fernöstliches Theater. Stuttgart 1966; Jaquot, Jean: Vorstellung. Rahmen und Ziele einer Forschung. In: Les Fêtes da la Renaissance, Bd. 3. Paris 1975; Klemperer, Victor: Geschichte der französischen Literatur im 18. Jahrhundert. Halle 1966; Klingler, Oskar: Die Comédie Italienne in Paris nach der Sammlung Gherardi. Dissertation. Zürich 1901; Kutscher, Arthur: Grundriß der Theaterwissenschaft. München 1936; Léger, Fernand: Conférence über die Schaubühne. In: Einstein, Carl/Westheim, Paul (Hg.): Europa Almanach. Potsdam 1924; Majakowski, Wladimir: Das Schwitzbad. Berlin 1982; Ders.: Mysterium buffo. Leipzig 1963; Meyerhold, Wsewolod: Balagan. In: Meyerhold, Tairow, Wachtangow. Theateroktober. Leipzig 1967; Piscator, Erwin: Das politische Theater. Berlin 1968; Schneidereit, Otto: Berlin, wie es weint und lacht. Berlin 1972.

CHRISTA HASCHE

Arbeitertheater – Fragment – Freies Volkstheater – Geselligkeit – Theater als öffentliche Institution – Theaterhistoriographie