Wörterbuch der Theaterpädagogik (erschienen 2003)

Mimesis

In der griechischen Philosophie bezeichnete mimeisthai den Prozess der Nachahmung und wurde von Aristoteles als kreativer Schaffensakt, von Platon jedoch als bloße Nachahmung der Erscheinungswelt gewertet, der keine Teilhabe an der Idee oder Wahrheit  der  Erscheinungen  wie  etwa  in  der  Methexis zukommt.

In der Renaissance gewinnt die M in der bildenden Kunst den Charakter eines schöpferischen Vorgangs mit starken Eigenanteilen des nachahmenden Subjekts, das seinen Blick auf den besonderen Ausdruck der nachgeahmten Tatbestände legt. Die ersten künstlerischen Selbstbildnisse können als Zeichen des zunehmenden Bewusstseins einer subjektiven Selbstschöpfung im mimetischen Prozess angesehen werden.

Auf der Grundlage der Phantasiebegabung des Menschen erscheint es sinnvoll, den Begriff der Nachahmung um den der ,Vorahmung‘ zu erweitern. Die mimetische Antizipation noch nicht gestalteter Wirklichkeiten im Spiel, in der Kunst und der planenden Arbeit setzt nach- und ,vorahmende‘ Tätigkeit von Menschen in das dialektische Spannungsverhältnis sozialer Lebensprozesse und ihrer Geschichtlichkeit. Mimetische Aneignungsformen von Wirklichkeit – sei es vergangener oder zukünftiger – haben ihren Ursprung im Übergangsfeld des Heraustretens des Menschen aus den Naturzusammenhängen und der damit verbundenen Sichtweise der Welt als etwas Anzueignendes. Sie ist verknüpft mit der Dialektik der Arbeit als besonderer Naturzusammenhang des Menschen, nimmt aber als Zeichensystem Merkmale der anzueignenden Welt in sich auf – im Unterschied zu den symbolhaften, nur rationalen Abbildungsformen der Welt.

Insofern die eigentlichen bedürfnisbefriedigenden konkreten Gebrauchswerteigenschaften der Umwelt in ihrer symbolischen Repräsentation nicht mehr enthalten sind, sich ihre Aneignungsform immer stärker von der biologischen Organisation der menschlichen Arbeit entfernt, verliert auch das Subjekt seine menschliche Grundorientierung und folgt der abstrakten Wertvorstellung einer technologischen Rationalität, die auf eine stete, evolutive Perfektionierung der Naturaneignung als ,Selbstzweck‘ hinausläuft. Das Selbstbewusstsein der Subjekte entsteht nun aus dem ungegenständlichen, quantifizierenden, von Bedürfnissen abstrahierenden Vergleich mit anderen Tauschsubjekten. Die Subjekte definieren sich unter Absehung von ihrer bedürftigen und notwendigen Einbindung in den gesellschaftlich-arbeitsteiligen Prozess der Naturaneignung nur noch unter den Aspekten des Tausches bzw. der Überoder Unterlegenheit im Tauschakt. Der Tauschpartner wird stets nur als Mittel für den eigenen Wertausdruck (also als Äquivalentform) genommen; seine Eigenschaften als Bündnispartner in der gemein-samen Aneignung von Wirklichkeit zwecks Bedürfnisbefriedigung sind zusammen mit den mimetischen Anteilen in der Verständigung über die gemeinsamen Zwecke verloren gegangen. Karl Marx kennzeichnet diesen Prozess als Warenfetisch oder Mystifikation des Tauschverhältnisses. In seinen Frühschriften taucht dieser Entfremdungsgedanke unter dem Aspekt der Spiegelung auf (vgl. Marx 279ff.).

In der Tauschwertabstraktion sieht Marx den Verlust der Selbstanteile des jeweils anderen in der aneignenden, auf Verfügung zielenden Form des abstrakten Wertvergleichs der konkreten Arbeit der Tauschpartner. Ihre konkreten Beziehungen spiegeln sich in einem Quidproquo der Warenwerte, denen keine konkrete Eigenschaft mehr mimetisch anhängt. In der Geldform wird jede mimetische Beziehung zur stofflichen Wirklichkeit aufgehoben. In der Geldform wäre auch mit dem mimetischen Bezug jeder Sinn für das Enigmatische der menschlichen Existenz aufgehoben. Unter diesem Aspekt erhält die M die Qualität, das prinzipiell Andere des Gegenübers nachzuempfinden, ohne es seiner Einmaligkeit zu berauben (vgl. Lévinas). Wesentlich für die besondere Qualität dieser Erfahrungsvorgänge ist, dass einerseits nicht Ausdruck und Darstellung auseinanderfallen und andererseits die Spaltung von erkennendem Subjekt und zu erkennendem Objekt  aufgehoben wird.

Vor allen Trennungen und Differenzierungen besteht eine Gemeinsamkeit zwischen Natur und Mensch, die heute sogar von den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen über die Entstehung der Erde und des Lebens bestätigt wird (vgl. Gebauer u. a.).

Dem Verlust der expressiven Funktion und der Festschreibung des neuen Logozentrismus setzt Walter Benjamin die inhärenten Widersprüche des abstrahierenden Sprachgebrauchs entgegen. So verbleiben selbst in den Abstraktionen universeller Schriftbilder Rudimente des sprachlichen Gestus und stets verlangt die Schrift die zurückübersetzende Konkretisierung durch die mimetische Imaginationsfähigkeit. Dem entspricht etwa die Beobachtung der Hirnforschung, dass linear-sequenzielle wissenschaftliche Aussagen selbst von den Wissenschaftlern immer wieder ins Dialogische zurückübersetzt werden müssen. Benjamins Überlegung geht nun in die Richtung, dass auch die universellste Sprache nicht ihren mimetischen Ursprung leugnen kann, in der Sprache der Moderne also in komprimiertester Form eine konkrete Geschichte des Menschen verborgen liegt, die auf ihre Wiederaneignung durch mimetische Rezeption wartet, wobei in der Abstraktion auch die Bindung der M an die Magie (den Mythos) überwunden wäre, demnach also eine Aussicht auf die unverstellte Geschichte bieten würde.

In der Semiotik werden mimetische Zeichen unter dem Begriff Ikon zusammengefasst, einer Zeichenklasse, die dadurch definiert ist, dass das Zeichen figural-qualitative Merkmale der bezeichneten Tatbestände aufweist und dadurch entschlüsselt werden kann. Da die mimetischen Zeichen eine enge, wenn auch durch den Interpreten vielfach gebrochene (z. B. ironische, verzerrende, abstrahierende) Beziehung zum bezeichneten Tatbestand haben, operieren sie stets mit dem ästhetischen Wert oder der Ausdrucksqualität des Bezeichneten selbst. Im mimetisch-theatralen Spiel entstehen dadurch höchst komplexe Verhältnisse, z. B. zwischen dem Rollenträger und der Rollenfigur, die in der ThP ganz bewusst zur Sozialisation und Individuation der Spieler eingesetzt werden (vgl. Fischer-Lichte; Weintz; Jenisch).

Die ThP findet in der M wohl ihr wichtigstes Arbeitsprinzip, wobei sie gerade auf die psychologischintermedialen Interaktionsformen zurückgreift. Nicht nur in der Rollenarbeit, sondern auch bei der Entwicklung reflektierender Impulsketten in der Improvisationsarbeit kommen die verschiedenartigsten Spiegelungsund Nachbildungsformen zum Tragen, in denen die Spieler ein permanentes Zwischenstadium von entgrenzender Teilhabe und begrenzender Impulsgebung entwickeln müssen. Die in solcher Situation ermöglichte Gegenwartsidentität des gemeinsamen Spiels überschreitet latent die im Alltag verdinglichten Tauschverhältnisse der Spielsubjekte und lässt ästhetische Augenblicke entstehen, denen für Zuschauer wie auch Beteiligte eine gewisse Magie anhaftet und die den eigentlichen Zauber der theatralen Arbeit ausmachen.

In diesen Momenten ist in einer negativen, leeren Form das im Alltagsprocedere unabgegoltene Versprechen auf ein Menschsein jenseits des konkurrenzhaften Aneignungsdenkens der technologischen Rationalität angedeutet, da über die mimetischen Operationen der Spieler die Besonderheit der Impuls vermittelnden Spielangebote nicht in Eigenes umgewandelt, sondern beantwortet werden. Das empfangene Andere bleibt als solches im Spiel – es wird nicht kommentiert, verändert, interpretiert, sondern gilt den Spielern als reiner Ausdruck, auf die sie die richtige Antwort finden können.

Benjamin, Walter: Über das mimetische Vermögen. In: Ders.:  Sprache  und  Geschichte  –  Philosophische Essays.Stuttgart 1992; Fischer-Lichte, Erika: Semiotik des Theaters. Eine Einführung, Bd. 1: Das System der theatralischen Zeichen. Tübingen 1983; Gebauer, Gunter/Wulf, Christoph: Mimesis. Kultur – Kunst – Gesellschaft. Reinbek 1992; Jenisch, Jakob: Der Darsteller und das Darstellen. Grundbegriffe für Praxis und Pädagogik. Berlin 1996; Lévinas, Emmanuel: Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie. Freiburg, München 1999; Marx, Karl: Ökonomisch-philosophische Manuskripte. Leipzig 1970; Weintz, Jürgen: Theaterpädagogik und Schauspielkunst. Ästhetische und psychosoziale Erfahrung durch Rollenarbeit. Butzbach-Griedel 1998; Wulf, Christoph: Ästhetische Wege zur Welt. Über das Verhältnis von Mimesis und Erziehung. In: Lenzen, Dieter (Hg.): Kunst und Pädagogik. Erziehungswissenschaft auf dem Weg zur Ästhetik? Darmstadt 1990.

HANS-JOACHIM WIESE

Authentizität – Didaktik – Lernen und Theater