Wörterbuch der Theaterpädagogik (erschienen 2003)

Gestus

Das lateinische gestus, Partizip des Verbes gerere (tragen, sich benehmen), bezieht sich vor allem auf die physische Haltung oder die Bewegung des Körpers und genauer auf das Gebärdenspiel des Redners oder Schauspielers (das verwandte, althochdeutsche gibarida etymologischer Stamm von ,Gebärde‘ –  bedeutet ,Benehmen‘, ,Aussehen‘, ,Wesen‘). Insofern deutet lateinisch gestus auf alles, was mit Mimik zu tun hat (Gesichtsausdruck, Körperhaltung und Körpersprache). Um 1500 kam zunächst das Wort ,Geste‘ in Verbindung mit öffentlichen Spaßmachern ins Deutsche und um 1800 das Wort ,Gestus‘, erweitert jetzt auf Tonfall und Verhalten im Allgemeinen. So ergab sich im Laufe des 17. und 18. Jhs. die Rhetorik der Leidenschaften als eine Sprache der Gesten und die klassische Ausdruckskunst als die Gestik schlechthin. In diesem Zusammenhang unterscheidet man zwischen der Geste, einem konkreten Signal, wie z. B. das Kopfnicken, das eine innere Haltung durch eine körperliche Bewegung ausdrückt, und der weniger konventionalisierten Gebärde (auch Gebärdenspiel und Gebärdensprache), einer Bewegung, die Empfindung oder Willen ausdrückt.

Lessings Hamburgische Dramaturgie fasst G als Mittel des Schauspielers, das Symbolische oder das Allgemeine der Moral sinnlich bzw. anschaulich zu machen: „Es sind dieses, mit einem Worte, die individualisierenden Gestus“ (Viertes Stück vom 12. Mai 1767). Nicht explizit dem Gestischen verwandt, aber gedanklich fortgeführt und ausgeweitet wird die schöne Bewegung von Schiller. Er sieht sie als Beweis moralischer Schönheit, als ein nicht intentionaler, sondern charakterlicher Ausdruck der Person (Über Anmut und Würde, 1793). Die Folgen dieser Entwicklung des ,Ausdrucks‘ als Form eines inneren Erlebnisses, einer seelischen Erregung spitzten sich in expressionistischen Theaterinszenierungen  zu,  wo  die  Geste  das  Wesen  der Persönlichkeit oder Seele offenbaren sollte. Hier war der  Ansatzpunkt  für   Bertolt  Brecht,  dessen  G  als kalkulierter Effekt die unmittelbare Gleichsetzung von Haltung und Ausdruck verhindern sollte. Seine Kritik der Klassik und des Expressionismus im Laufe der frühen 1920er Jahre ging allmählich mit seinem Interesse an einer entindividualisierten Psychologie einher. Vor allem ab 1927 wandte er sich einer ,Soziologisierung‘ der Ästhetik zu, d. h. er konzentrierte sich auf eine Theorie der interpersonalen Beziehungen, die den Menschen in seiner gesellschaftlich bestimmten Funktionalität versteht. Insofern sind die Wurzeln des Gestischen in Brechts Neuformulierung des Subjekt-Begriffs zu suchen: Der G sperrt sich gegen die Innen-Außen-Spaltung des bürgerlichen Subjekts. Die Innerlichkeit als subjektkonstituierender Raum, wie sie das ganze postromantische Denken beherrschte, verschwindet. Den Menschen als ,Objekt‘ zu sehen, ermöglicht es dem Stückeschreiber Brecht, innere Vorgänge oder Haltungen nach außen zu wenden, offen zu legen und durch Stilisierung bearbeitbar zu machen. So wird z. B. Macheath in der Dreigroschenoper zuerst durch die rein äußerliche Beschreibung charakterisiert und eingeführt (1. Akt, 1. Szene), bevor er überhaupt sichtbar wird, denn: „Auch der Mensch, und zwar der fleischliche Mensch, ist nur mehr aus den Prozessen, in denen er und durch die er steht, erfassbar“ (GBA 24, 67). So war das, was im bürgerlichen Diskurs als Bewusstsein verstanden wird, schon immer draußen in der ,Welt‘, d.h. eine Funktion der gesellschaftlichen Verhältnisse. G zählt neben Verfremdung und Haltung zu den Hauptbegriffen in Brechts Theorie des epischen bzw. dialektischen Theaters, die direkt bei der Aufführungspraxis ansetzen. Die Vorführung des G, einer typisierten Verhaltensform, ermöglicht es, Vorgänge, die bislang als innerlich begriffen wurden, nach außen zu wenden und damit thp wie sozialanalytisch verfügbar zu machen. Er setzt Theaterereignis und Gesellschaft in Beziehung, indem er hinter beobachteten Vorgängen die strukturell bestimmten Ursachen andeutet. Am präzisesten lässt sich die Vorführung eines G als Zeigen der „Beziehungen von Menschen zueinander“ (GBA 23, 188) verstehen. Von der Haltung, die, gleichfalls das sog. Innere nach Außen tragend, feste Dispositionen betrifft, unterscheidet sich der G dadurch, dass er soziale Verhältnisse in Bewegung zeigt. In der thp Praxis finden beide Begriffe oft synonym Verwendung. Der gleichfalls benachbarte Begriff der Verfremdung bezeichnet einerseits den Effekt der gestischen Stilisierung und andererseits die Voraussetzung für die soziologische Einsicht, auf die der Einsatz des G zielt. Theatertheoretische Überlegungen finden sich bei Brecht vor allem in den Jahren 1929 bis 1932, als er im Rahmen seiner Lehrstückpraxis radikale Antworten auf das bürgerliche Theater suchte, und wieder 1935 bis 1948 im Exil, als er die begrenzten Möglichkeiten einer bühnenpraktischen Arbeit mit theoretisierenden Überlegungen kompensieren konnte. Da Brecht sich vornehmlich auf eigene Erfahrungen bezog, verwandelten sich seine Begriffe der Praxis entsprechend, d. h. unter historischen Bedingungen und auf historische Bedingungen reagierend. Insofern ist es schwierig, eine feste, stimmige Definition für sie im Nachhinein zu abstrahieren. Gerade der Begriff des G, der nach Elisabeth Hauptmanns Tagebucheintragung vom  23. 3. 1926 wohl schon im Rahmen von Brechts Überlegungen zu dem Stück Mann ist Mann mündlich verwendet wurde (vgl. Sinn und Form. Brecht-Sonderheft 2, 1957, 243), oder allgemeiner „das sogenannte gestische Prinzip“ (GBA 22.1, 556), ist nicht so systematisch ausgearbeitet wie etwa der später ausformulierte Begriff der Verfremdung. Gewonnen aus der dialektischen Theaterpraxis um 1930 (vgl. Die dialektische Dramatik, GBA 21, 435), hat er G zuerst als übergreifende Kategorie der Kunst und der Sprache ausführlich erörtert, und zwar im grundlegenden Aufsatz Über reimlose Lyrik mit unregelmäßigen Rhythmen (GBA 22.1). Allmählich wurde er die Grundlage für eine bald polemische, bald pragmatische Reflexion über das Theater, und Brecht selber benutzte ihn so inflationär, dass das Gestische – als Teil seiner theoretischen Auseinandersetzung mit der offenen Form des nicht mimetischen Realismus – für seine ganze Bühnenpraxis stehen könnte. In diesem Zusammenhang scheint G ein flexibel einsetzbares Wort für das komplexe Zusammenführen von theatralischen Mitteln und gesellschaftlichem Anspruch zu sein.

Das Inventar von körperlicher Gestik, Tonfall und Blicken betont das Sinnliche, das, was sichtbar, hörbar und fühlbar ist, aber „selbstverständlich handelt es sich um gesellschaftlich bedeutsame Gestik, nicht um illustrierende und expressive Gestik“ (GBA 22.1, 158; vgl. die Beispiele in Über gestische Musik, 329ff.). Das Inventar weitet sich zu einer Montage aus, die musikalische Elemente (Liedtexte, das Vortragen der Lieder, die Musik), die Sprache (die Wahl der Worte, die Sprechweise), die Bühnenausstattung (Gebrauch von Requisiten, Kostüm, Maske) und die Bühnenarchitektur (Licht, Dekors) einschließen kann. Nach seinem Besuch in Moskau im März 1935, wo er das Gastspiel des chinesischen Schauspielers Mei Lan-fang erlebte, begann Brecht, den Begriff G im Rahmen seiner umfassenden erkenntnistheoretischen Überlegungen mit anderen Begriffen wie dem Epischen, dem V-Effekt, der Fabel und dem Realismus schlechthin zu verbinden. Ihn interessierte im asiatischen Theater das Repertoire stabiler, unterscheidbarer Bedeutungsrelationen, die über Generationen weiter gereicht werden, nicht jedoch sein Konventionalismus, der in Starre, Geschichtslosigkeit und Künstlichkeit ausartete. Gerade der Zeige-Charakter, „das doppelte Zeigen“ oder das Zeigen des Zeigens im chinesischen Theater schien ihm nützlich, um die Distanz zwischen Schauspieler und Figur sowie zwischen Schauspieler und Zuschauer zu schaffen. Da der Schauspieler es weiß und auch zeigt, dass ihm zugesehen wird, wird die Illusion des ungesehenen Zuschauers hier gebrochen (vgl. Über das Theater der Chinesen, GBA 22.1, 126). Diese Wirkung des Zeigens gehört zum Ziel des  G.

Die intentionale Seite des Gestischen verknüpft einen konkreten Vorgang mit einer abstrakteren Form des Handelns, das ins Exemplarische und Typische übergeht. Die Trennung zwischen Schauspieler und Figur produziert z. B. einen intellektuellen und emotionalen Raum, in dem der kritische Beobachter auf bekannte Typen und Geschichten trifft. Hier entstehen Möglichkeiten für eingreifendes Denken, für Alternativen und Veränderungen. Im skandinavischen Exil fand Brecht Gelegenheit, Gedanken und Notizen auf dieser Grundlage für eine zusammenfassendere Darstellung seiner Theatertheorie zu sammeln. Was das Gestische betrifft, entwarf er Die Straßenszene (1938, untertitelt mit Grundmodell einer Szene des epischen Theaters, GBA 22.1, 370ff.), in der eine alltägliche Situation – der Augenzeuge eines Verkehrsunfalls demonstriert für die Umstehenden, was passiert ist – zu Überlegungen führt, wie Schauspieler und Regisseur die gesellschaftliche Funktion des ,Gesamtapparatus‘ deutlich machen können. In der ThP lässt der Begriff in seiner formalen und politischen Resonanz eine Kritik der Repräsentation artikulieren.

Benjamin, Walter: Was ist das epische Theater? 1. Fassung 1931, 2. Fassung 1939. In: Ders.: Gesammelte Schriften II. Frankfurt a. M. 1977 [darin Abschnitt V: Der zitierbare Gestus]; Brecht, Bertolt: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Gesamtausgabe. 30 Bde. u. Registerbd. Hg. v. Werner Hecht u. a. Frankfurt a. M. 1989–2000 [GBA]; Cohen, Robert: Brechts Furcht und Elend des III. Reiches und der Status des Gestus. In: Brecht-Jahrbuch 24, Waterloo/Canada 1999; Engelhardt, Jürgen: Gestus und Verfremdung. Studien zum Musiktheater bei Strawinsky und Brecht/Weill. München, Salzburg 1984; Heinze, Helmut: Brechts Ästhetik des Gestischen. Versuch einer Rekonstruktion. Heidelberg 1992; Jameson, Frederic: Lust und Schrecken der unaufhörlichen Verwandlung aller Dinge. Brecht  und  die  Zukunft.  Hamburg  1998  (darin  Teil  2: Gestus); Pavis, Patrice: Der Gestus bei Brecht. In: BrechtJahrbuch 23. Berlin 1997; Ritter, Hans Martin: Das gestische Prinzip bei Bertolt Brecht. Köln 1986; Schumacher, Ernst: Das Gestische in der darstellenden Kunst des Ostens und Westens. In: Ders.: Schriften zur darstellenden Kunst. Berlin 1978.

MARC SILBERMAN

Avantgarde – Bühnenbild – Bühnenräume – Bühnentechnik – „Didaktisches Theater“ – Dramaturgie – Lehrstück – Modellspiel / Modellstück – Schauund Zeigelust – Selbsttäuschungstheorie und Bewusstheitstheorie – Theaterlied – Theatralität