Wörterbuch der Theaterpädagogik (erschienen 2003)

Volksbühne

1890 in Berlin als Pendant zum Verein ,Freie Bühne‘ gegründete Besucherorganisation der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung, zunächst unter dem Namen ,Freie Volksbühne‘. Während sich die ,Freie Bühne‘ unter Otto Brahm 1889 das (nicht immer realisierte) Ziel gesetzt hatte, modernen Gegenwartsstücken, die von der preußischen Zensur in öffentlichen Theatern nicht zugelassen wurden, zur Aufführung im ,geschlossenen Verein‘ zu verhelfen und zugleich in einem kleineren Kreis von Kunstsachverständigen mit neuen Kunstformen und -mitteln der Psychologisierung und Intimisierung zu experimentieren, war die V eine im engeren Sinne thp Institution. Ihre Intention war, Arbeitern zu Bildung und Unterhaltung über das → Medium Theater zu verhelfen und das bürgerliche Theaterprivileg zu brechen. Niedrige Mitgliedsbeiträge berechtigten zum Besuch einer Vorstellung pro Monat, die Plätze wurden verlost. Gespielt wurde zunächst an Sonntagnachmittagen in gemieteten Theatern, die SchauspielerInnen wurden für die einzelnen Vorstellungen verpflichtet. Die V verfügte aber über zwei eigene Regisseure (Cord Hachmann, Georg Stollberg). Die erste Vorstellung war, wie in der ,Freien Bühne‘, ein Ibsen-Stück.

Die V war von Anfang an von Richtungskämpfen um ihre politische und thp Funktion begleitet. Franz Mehring als Leiter der V 1892–1896 sah das Theater als Instrument im Emanzipationskampf der Arbeiterbewegung, während Bruno Wille, Leiter bis 1892, die Vereinsarbeit aus jeder Parteiorientierung heraus zu halten suchte und die bildungspädagogische Aufgabe in den Vordergrund stellte, analog etwa zu den um 1900 eingeführten Volkshochschulen. Willes Fraktion spaltete sich bereits 1892 mit der Gründung der ,Neuen Freien Volksbühne‘ ab. So kam es bei der von der Preußischen Zensur öffentlich verbotenen Uraufführung von Gerhart Hauptmanns Die Weber zu drei Berliner Premieren innerhalb eines Jahres in den Vereinen ,Freie Bühne‘ (26. 2.), ,Neue Freie Volksbühne‘ (15. 10.) und ,Freie Volksbühne‘ (3. 12.). Nach Mehrings Ausscheiden als Leiter näherte sich die V unter dem Signum des Bildungs- und Unterhaltungsideals wieder an, ab 1913 kam es zum organisatorischen Wiederzusammenschluss.

1914 eröffnete die V ein eigenes Haus mit festem → Ensemble, die ,Volksbühne am Bülowplatz‘, nach Entwürfen von Oscar Kaufmann, mit 2 000 Plätzen und neuester Theatertechnik. Max Reinhardt, der dem ursprünglichen thp Bildungsideal der V fern stand, war von 1915–1918 Direktor und übernahm die ästhetisch hochqualifizierten Aufführungen seiner eigenen Bühnen zu niedrigen Preisen für die Mitglieder der V. Nach dem 1. Weltkrieg weitete sich die V über Berlin hinaus aus, 1920 hatte sie bereits 290 Ortsvereine mit 350 000 Mitgliedern; diese Zahlen stiegen ständig. Als Erwin → Piscator 1924 als Regisseur und Oberspielleiter an die V engagiert wurde und dort direkt politisch engagiertes Theater machte, kam es zu permanenten Konflikten mit dem V-vorstand. Piscator verließ 1927 nach Auseinandersetzungen um die stark aktualisierende Inszenierung Gewitter über Gottland von Ehm Welk die V und gründete die 1. ,Piscatorbühne‘. Er beschrieb die Fronten mit den Devisen ,Kunst als Ausdruck des Menschlich-Großen‘ bzw. ,Kunst als Instrument der sozialen Auseinandersetzung‘ (Piscator 1980, 59). Die allgemeine Politisierung der Öffentlichkeit am Ende der Weimarer Republik erfasste dennoch die V: Zunächst rebellierte die V-jugend, organisiert in den sog. ,Sonderabteilungen‘, in Solidarität mit Piscator gegen den Vorstand unter Siegfried Nestriepke und Julius Bab und forderte ein ,Kampftheater‘ gegenüber einem ,Konsumverein‘. Diese Organisation, die immerhin 16 000 Mitglieder hatte, folgte Piscator (mit Einwilligung des Vorstands) an das neu gegründete ,Theater am Nollendorfplatz‘; sie gründete später die ,Junge Volksbühne‘. Karlheinz Martin, Intendant der V ab 1929, inszenierte dort wichtige Zeitstücke, z. B. Alfred Döblins Die Ehe (1931), aber auch Georg Büchners Dantons Tod (1929), Musik: Hanns Eisler, mit Walter Franck, Peter Lorre und Lotte Lenya. Wichtige UA der V waren in diesem politisch engagierten Zusammenhang 1928 Günther Weisenborns U-Boot S 4 (Regie: Leo Reuß) und 1930 Friedrich Wolfs Matrosen von Cattaro (Regie: Günther Stark). Heinz Hilpert war Intendant der V von 1932 bis 1934, ihm folgte Eugen Klöpfer bis 1938. In dieser Zeit des Nationalsozialismus wurde die V ,gleichgeschaltet‘: Ab 1935 existierte ein dem Naziregime genehmer Vorstand (unter Bernhard Graf Solms), das Haus in Berlin hieß nun ,Volksbühne am Horst-Wessel-Platz‘ und unterstand dem Reichspropagandaministerium. 1939 wurde der Volksbühnen-Verein aufgelöst, das Haus verstaatlicht und im 2. Weltkrieg zerstört.

Nach dem Krieg spaltete sich auch die V-bewegung: In Ostdeutschland bildete sich 1947 der ,Bund Deutscher Volksbühnen‘, der aber bereits 1953 wieder aufgelöst wurde. In der DDR sollte nun die Einheitsgewerkschaft FDGB die ursprünglichen thp Funktionen der V mit übernehmen: Verteilung von verbilligten Theaterkarten in Betrieben, kulturelle Aufklärung und Weiterbildung in den Brigaden am Arbeitsplatz. Der Erfolg dieser kulturellen Zwangsmaßnahmen war, dass gelegentlich die von Theaterinteressierten heiß begehrten Theaterplätze leer blieben, weil die Karten in Betrieben verteilt und nicht genutzt worden waren.

1948 gründete sich in Westdeutschland der ,Verband der Deutschen Volksbühnen-Vereine‘ neu; er hatte bald großen Zulauf und wurde zu einer wichtigen und einflussreichen Besucherorganisation. Piscator war 1962–1966 wiederum Direktor der (1963 fertiggestellten) ,Freien Volksbühne Berlin‘ in der Schaperstraße. Er hatte den Mut, den entscheidenden Stücken des Dokumentarischen Theaters zur Aufführung zu verhelfen. In seiner Regie kam am 20. 2. 1963 Rolf Hochhuths Stellvertreter zur Premiere, nachdem sogar der Verlag, dem der Autor sein Stück zuerst angeboten hatte, die Courage verloren und das schon im Umbruch vorliegende Stück an den Rowohlt-Verlag abgeschoben hatte, der es dann Piscator zur Aufführung anbot (vgl. Piscator 1975, 7f.). Andere wichtige UA des Dokumentarischen Theaters (u. a. Heinar Kipphardts In der Sache J. Robert Oppenheimer, 11. 10. 1964; Peter Weiss Die Ermittlung, 19. 10. 1965) folgten in seiner Regie.

Der V-Verein wurde nach dem Fall der Berliner Mauer in Ostberlin neu gegründet, beide Vereine schlossen sich nach der staatlichen Wiedervereinigung zusammen. 1990 feierte der Verein sein 100jähriges Bestehen in der ,Freien Volksbühne‘.1993 wurde deren Ensemble aufgelöst, weil der Berliner Senat die Förderung des Spielbetriebs einstellte; das Haus steht jetzt den Berliner Festspielen für Gastspiele zur Verfügung.

Eine politisch und ästhetisch überaus innovative Zeit der Ostberliner ,Volksbühne am Rosa Luxemburg Platz‘, dem Stammhaus der V, war die unter der Leitung  von  Benno → Besson  1969  bis  1978.  Als Brecht-Schüler und zugleich Vertrauter der romanischen Theatertradition, die ihre Wurzeln in der Commedia dell’Arte noch nicht verleugnet hatte, gelang es Besson, hier – gemeinsam mit den Regisseuren Manfred Karge, Matthias Langhoff, Fritz  Marquardt– eine neue Art von→ Volkstheater ins Leben zu rufen. Seine eigenen Inszenierungen (etwa Gozzis König Hirsch, 1972, Shakespeares Wie es Euch gefällt, 1975, und Hamlet, 1976, seine Lehrstück-Versuche in Berliner Betrieben), aber auch die ,Spektakel‘-Inszenierungen von Karge/Langhoff im gesamten Haus und Umfeld (etwa ,Spektakel 2‘ 1975 mit der parallelen Aufführung von 12 Zeitstücken, darunter der UA von Heiner → Müllers Schlacht/Traktor) oder die erste Wiederaufführung von Müllers bis dahin tabuisiertem Stück Die Bauern 1976 (Regie: Fritz Marquardt) machten Theater zu einer Angelegenheit von Forum und Fest zugleich.

Nach der sog. Wende übernahm Frank Castorf die Intendanz und führt – in stark modifizierter Form – auch Ideen der frühen V weiter: vergleichsweise preiswerte Theaterplätze, eine sowohl ästhetisch internationale als auch topographisch lokale Orientierung des Hauses, so dass die V heute als eines der wichtigsten Kunstinstitute Deutschlands und zugleich als eine Art soziokulturelles Zentrum insbesondere jüngerer Leute gelten kann.

Bab, Julius: Wesen und Weg der Berliner Volksbühnenbewegung. Berlin 1919; Balitzki, Jürgen: Castorf, der Eisenhändler. Theater zwischen Kartoffelsalat und Stahlgewitter. Berlin 1995; Braulich, Heinrich: Die Volksbühne. Berlin 1976; Chung, Hyun-Back: Die Kunst dem Volke oder dem Proletariat? Die Geschichte der Freien Volksbühne in Berlin 1890–1914. Frankfurt a. M. 1989; Irmer, Thomas (Hg.): Volksbühne. Frank Castorf – Intendanz. Berlin 2002; Pforte, Dietger (Hg.): Freie Volksbühne Berlin 1890–1990. Berlin 1990; Piscator, Erwin: Vorwort zu Rolf Hochhuth: Der Stellvertreter. Berlin 1975. Ders.: Rechenschaft (1). In: Ders.: Theater. Film. Politik. Hg. v. Ludwig Hoffmann. Berlin 1980; Schwerd, Almut: Zwischen Sozialdemokratie und Kommunismus. Zur Geschichte der Volksbühne 1918– 1933. Wiesbaden 1975; Streisand, Marianne: Intimität. Begriffsgeschichte und Entdeckung der ,Intimität‘ auf dem Theater um 1900. München 2001; Treusch, Hermann u. a.

(Hg.): Spiel auf Zeit. Theater der Freien Volksbühne 1963– 1992. Berlin 1992.

MARIANNE STREISAND

Arbeitertheater – Arbeitsfelder der Theaterpädagogik – Dramaturgie – Lehrstück – Theaterhistoriographie – Volkstheater