Wörterbuch der Theaterpädagogik (erschienen 2003)

Theatralität

Der T-begriff hat nicht nur in der neueren theater- und kulturwissenschaftlichen Forschung eine besondere Relevanz, seine Verwendung erweist sich auch in anderen Wissenschaften als äußerst produktiv; zugleich besteht jedoch die Gefahr von Beliebigkeit und Affirmation (vgl. Schramm 1990; Kotte 1998, 2002; Vaßen; zuerst und vor allem Münz).

Entstanden ist der T-begriff vor allem im Kontext der Theateravantgarde der 1960er/70er Jahre, der Theater-Anthropologie und Theatersemiotik sowie der Ethnologie und Cultural Studies. Ein weiterer, nicht so bekannter Bezugspunkt ist die russische → Theaterhistoriographie und ihr Theaterbegriff teatralnost im ersten Drittel des 20. Jhs. (vgl. Baumbach in Münz), und Anfang des 20. Jhs. beginnt mit Adolphe von Appia und Edward Gordon Craig nach Jahrhunderten der Dominanz von Literarizität eine Re-Theatralisierung des Theaters.

Den Begriff theatralisch, aus lat. theatralis (zum Theater gehörig), gibt es seit dem 18. Jh. in zwei Bedeutungen: (1.) das Theater, die Schauspielkunst betreffend, bühnenwirksam und (2.) übertrieben, überzogen, pathetisch, schwülstig, gespreizt. In Abgrenzung zu der zweiten negativen Bedeutung entsteht im letzten Drittel des 20. Jhs. der Begriff theatral, bei dem zugleich die Verdopplung der beiden Endsilben -al und -isch vermieden wird. Damit vergleichbar differiert der Neologismus T, gebildet nach frz. théatralité, Gegenbegriff zu literarité (vgl. u. a. Pavis), mit Theatralik.

T ist zunächst Oberbegriff für die kollektiv produzierten, heterogenen Aspekte einer Theaterinszenierung und benennt somit die spezifische ,Ästhetizität‘ (vgl. Fischer-Lichte, Bd. 1, 196) des Theaters, zu der die gesprochene Sprache (Prosodie), Mimik, Gestik und Bewegung/Proxemik (Kinesik), Kostüme, Masken, Frisur und Schminke, Requisiten, Dekoration und Beleuchtung des Bühnenraums, Musik und Geräusche sowie audiovisuelle → Medien gehören, aber auch die spezifische → Kommunikation von Bühne und Publikum, entsprechend der Formel von Roland Barthes: Theater – Text = Theatralität. Versteht man die Inszenierung als theatralen Text, kann dieser mit Fischer-Lichte als eine ,strukturelle Transformation‘ (ebd., Bd. 3, 43) des dramatischen Textes verstanden werden mit der Inszenierungskonzeption als Zwischenglied dieser Intertextualität. Dieser Vorgang wird vor allem gelenkt von dem theatralen Potenzial, das den Theater-Text konstituiert. Als theatrale Aspekte im Text mit ihrer inszenatorischen Intentionalität sind vor allem die Regieanweisungen zu nennen, aber auch verdeckte szenische Beschreibungen, Titel, Zwischentitel und Projektionen, Auftritte, Abgänge und Szenenschlüsse, Handlungsrhythmus und Zeitbrüche sowie die Dialogführung (vgl. Vaßen).

Die spezifische dramatisch-theatrale Intertextualitätsrelation (vgl. Höfele) beinhaltet keine lineare Entwicklung oder gar eine Reduktion vom literarischen Text zur Inszenierung. Jede Aufführung als eigenständige Kunstpraxis eröffnet vielmehr neue Perspektiven und veränderte Sichtweisen auf den literarischen Text, eine ,werktreue‘ Inszenierung, gespielt sozusagen ,vom Blatt‘, ist deshalb nicht realisierbar.

T ist aber nicht auf das Theater als Kunstform und den Theatertext begrenzt. Als grundlegende kulturwissenschaftliche Kategorie ermöglicht T die Analyse eines Selbstverständnisses von Sozietät, das sich nicht mehr primär in statischen Produkten, z. B. Texten und Monumenten, ausdrückt, sondern in theatralen Prozessen außerkünstlerischer gesellschaftlicher Realität, die nach Kotte wie das Theater über Darstellung ( → Performance) und Zurschaustellung (ostentazione) hinaus als ,Hervorhebung selbst und ihrem Erkanntwerden als Hauptfunktion‘ (vgl. Kotte 1998) konstituiert sind. Anders als bei Burns wird hier die Kategorie der Wahrnehmung nicht rezeptionstheoretisch verabsolutiert, eine Subjektivierung von T wird vermieden. T manifestiert sich z. B. in → Ritualen und Kulten, Zeremonien, Festen und Feiern, Aufmärschen, Umzügen und Versammlungen, Spielen und Wettkämpfen, also in Cultural Performances (vgl.→ Schechner; Fiebach), aber auch in Inszenierungen von Freizeit, Kultur, Sport (vgl. Heuner), Religion und Politik (vgl. Dörner; Gabler) sowie in alltäglichem Rollenverhalten (vgl. Belgrad). Die T-Begrifflichkeit, z. B. Rolle, Inszenierung oder Szene, wird dabei nicht mehr metaphorisch verwendet, wie z. B. in der barocken Theatermetapher, sondern hat als heuristisches Prinzip eine reale Basis.

Damit T nicht zu einem undifferenzierten Modewort im Sinne von ,alles Theater‘ wird, sondern als Begriff Erkenntniswert und damit gesellschaftliche Relevanz erhält, wurde in den 1980er Jahren in der damaligen DDR von Rudolf Münz und anderen der grundlegende kulturwissenschaftliche theatergeschichtliche Ansatz des T-gefüges entwickelt, ein umfassenderer Ansatz als Schramms magisches Dreieck von Wahrnehmungsstil, Bewegungsstil und semiotischem Stil (vgl. Schramm 1996). Dabei wird T als ein konkretes Gesellschaftsformationen jeweils unterschiedlich konstituierendes Verhältnis von vier wichtigen T-feldern bestimmt: (1.) Theater als offizielle Kunstinstitution und spezifisches Kunstprodukt; (2.) ,Theater‘ als T der Alltagswelt, „Selbstdarstellung im Alltag […], soziales Rollenspiel, Veranstaltungsverhalten […], Elemente der Alltagsunterhaltung“ (Münz 69); dabei geht es sowohl um öffentliche Inszenierungen und soziale Rollen als auch um „spielerische Subjektentfaltung als ästhetische Inszenierung von Lebenswelt“ (Belgrad 34) im Sinne von T der Individuation. Dagegen stehen (3.) ein Anti-Theater als kritische Gegenwelt sowohl zum → Kunsttheater als auch zur öffentlichen T des Lebens in  ihren  Herrschaft  stabilisierenden  Formen. Diese „,unnatürlich[en]‘,  d. h.  supra-artifiziell[en]“ (Münz 70) gewohnten Wahrnehmungen und Verhaltensweisen verunsichernden ,Theater‘-Formen, etwa die Commedia dell’Arte oder der Harlekin, widersetzten sich „der Tendenz, Kunst-Theater zu sein, blieben auf der Position von ,Theater‘, nahmen dabei den Zuschauer/ Teilnehmer mit, um sich gemeinsam von den Übeln des ,Theaters‘ (des Lebens) zu bewahren“ (Münz 287); (4.) das Nicht-Theater bzw. die Ablehnung von Theater in einem Spannungsfeld von politisch motivierter Zensur und Verbot bis zur völligen Ausgrenzung und grundsätzlichen Negation, basierend auf einer ideologisch  fundierten  Orientierung  am  Identitäts-Ideal etwa bei Platon, den Kirchenvätern, Puritanern und vielen Sozialutopisten.

Kotte schreibt diesen Ansatz von T als Verhältnis in seinen Überlegungen zu einer ,Theorie der Theaterhistoriographie‘ fort. T wird dabei – historisch zutreffend – nicht mehr vom Theater abgeleitet, sondern – in Umkehrung der wissenschaftlichen Perspektive – „auf die Schau bezogenes Verhalten des Alltags“. Daraus, so Kottes Hypothese, „generiere[n] Theaterformen“ (Kotte 2000, 7) – „Theatralität konstituiert Gesellschaft, Gesellschaft Theater“ (Kotte 2000, 9).

Ohne explizit ein derart umfassendes T-verhältnis zu formulieren, entwickeln Joachim Fiebach und andere im Rahmen von Cultural Studies ebenfalls einen weiten, gesellschaftskonstituierenden T-begriff, der sich vor allem auf „Vorgänge sozio-kultureller und politischer Kommunikation, für die darstellerische Tätigkeiten eine wesentliche Rolle spielen“ und die„mit dem gestisch-mimisch-verbal tätigen Körper und/ oder seinen mediatisierten Bildern operieren“, bezieht. Diese theatralen Vorgänge sind insofern „ein erheblicher historischer Wirkungsfaktor“, weil sie „als symbolische Aktionen […] ein erhebliches Gewicht in […] historischen Kontexten“ (Fiebach 183) haben.

Bei diesem theatralen Potenzial handelt es sich um Cultural Performance, wie sie auch aus anthropologischer Sicht von Schechner, aus ethnologischer u. a. von  Geertz, → Turner  oder  Balandier  (vgl.  Fiebach 204) entwickelt wurde. Diese „nichtdisziplinäre, historisch-vergleichende Theatralitätsforschung“ intendiert „gesellschaftliche Phänomene, Geschichten, […] als Darstellungen zu fassen“ (Fiebach 193, 195). → Performance als umfassender kulturwissenschaftlicher Begriff darf allerdings trotz Berührungspunkten nicht mit Performance Art verwechselt werden, jenem einmaligen, in der Regel nicht wiederholbaren und nicht repräsentierenden prozesshaften Kunstakt eines Performers.

Schon immer gab es T von nicht-künstlerisch konstituierten Handlungen und Haltungen, in Europa etwa besonders sichtbar am Hof Ludwig XIV., aber ihre strukturelle Relevanz hat in den letzten Jahrzehnten in den, durch die, ja letztlich als Inszenierung (vgl. Fischer-Lichte u. a.; Willems) für die neuen elektronischen → Medien  eine  neue  Qualität  erlangt.  Damit aber spielt ästhetische T von Theater, aber auch Film und Video als Modell für Alltagstheatralität aktuell eine wichtige Rolle. Genesis und Geltung im Verhältnis von Theater und T stimmen nicht überein, sondern stehen zueinander in einer widersprüchlichen Beziehung.

Erfahrung als Leben konstituierender Faktor verschwindet heute zusehends und an ihre Stelle tritt eine medial vermittelte und folglich medial zugerichtete Wahrnehmung; entsprechend wird Weltverständnis bestimmt von theatralisierter Medienrealität. Ich inszeniere mich und andere oder anderes, also bin ich. In wechselnden ,Outfits‘ wird der jeweilige ,Lifestyle‘ in ,Environments‘ als inszenierte Lebensumgebung ausgestellt. Gesellschaftliche Prozesse und politische Entscheidungen konzentrieren sich nicht mehr auf interpersonales Handeln, öffentlichen Dialog und politische Konzeption oder Reflexion, sondern auf theatrale Regie; es geht darum, sich politisch in Szene zu setzen und Gesellschaft als Spiel in Gang zu halten. Die Warenform schließlich verändert sich bis zu theatralen Prozessen, die sozial-ästhetischen Kapitalformen (vgl. Bourdieu) werden zu sozial-theatralen.

Heutige kapitalistische Erlebnisbzw. ,Inszenierungsgesellschaft‘ (Willems) sowie ihre unterschiedlichen Realitätsebenen und deren Hierarchie und Relevanz können mit der Kategorie T genauer analysiert werden.

In thp, d. h. am eigenen Leib erfahrenen und zugleich reflexiven T-prozessen kann man sich – je nach Intention und Orientierung – dieser globalen Theatralisierung folgen und/oder praxisnahe Kritik und Widerständigkeit erproben, z. B. als Erfahrung von interpersonaler Präsenz, lebendiger Körperlichkeit oder bewusster Langsamkeit, als ästhetisch-theatrale Wahrnehmungsschulung, als Wissen um theatrale Prozesse oder als Störung von medial vermittelten Alltagserfahrungen.

Arnold, Sabine R. u. a. (Hg.): Politische Inszenierung im 20. Jahrhundert. Zur Sinnlichkeit der Macht. Wien u. a. 1998; Barthes, Roland: Essais critiques. Paris 1964; Belgrad, Jürgen: Theatralität im Alltag. Spielerische Subjektentfaltung als ästhetische Inszenierung der Lebenswelt. In: Korrespondenzen, 1996, H. 27; Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Frankfurt a. M. 1982; Burns, Elisabeth: Theatricality. A Study of Convention in the Theatre and in Social Life. New York u. a. 1973; Dörner, Andreas: Politainment. Politik in der medialen Erlebnisgesellschaft. Frankfurt a. M. 2001; Fiebach, Joachim: Keine Hoffnung. Keine Verzweiflung. Versuche um Theaterkunst und Theatralität. Berlin 1998; Fischer-Lichte, Erika: Semiotik des Theaters. 3 Bde. Tübingen 1983; Dies./Pflug, Isabel (Hg.): Inszenierung von Authentizität. Tübingen, Basel 2000; Früchtl, Josef/Zimmermann, Jörg (Hg.): Ästhetik der Inszenierung. Frankfurt a. M. 2001; Gabler, Neal: Das Leben, ein Film. Die Eroberung der Wirklichkeit durch das Entertainment. Berlin 1999; Heuner, Ulf: Die theatralische Auflösung des Fußballs oder Andi Möller ist an allem Schuld. Zur alltagssprachlichen Verwendung des Begriffs ,theatralisch‘. In: Weimarer Beiträge, 1999, Höfele, Andreas: Drama und Theater. Einige Anmerkungen zur Geschichte und gegenwärtigen Diskussion eines umstrittenen Verhältnisses. In: Forum Modernes Theater, Bd. 6, H. 1; Kotte, Andreas: Theatralität. Ein Begriff sucht seinen Gegenstand. In: Forum modernes Theater, 1998, H. 2; Ders.: Zur Theorie der Theaterhistoriographie. In: Mimos. Zs. der Schweizerischen Gesellschaft für Theaterkultur, 2002, H. 1; Münz, Rudolf: Theatralität und Theater. Zur Historiographie von Theatralitätsgefügen. Hg. v. Gisbert Amm. Berlin 1998; Pavis, Patrice: Problèmes de sémiologie théatrale. Montreal 1976; Schechner, Richard: Theater-Anthropologie. Spiel und Ritual im Kulturvergleich. Reinbek 1990; Schramm, Helmar: Theatralität und Öffentlichkeit. Studien zur Begriffsgeschichte von ,Theater‘. In: Weimarer Beiträge, 1990, H. 2; Ders.: Karneval des Denkens. Theatralität im Spiegel philosophischer Texte des 16. und 17. Jahrhunderts. Berlin 1996; Seitz, Hanne (Hg.): Schreiben auf Wasser. Performative Verfahren in Kunst, Wissenschaft und Bildung. Essen 1999; Vaßen, Florian: Kunstform Theater und alltägliche Theatralität in der Mediengesellschaft. In: Zs. für Literaturwissenschaft und Linguistik, 2001, H. 124; Willems, Herbert/Jurga, Martin (Hg.): Inszenierungsgesellschaft. Ein einführendes Handbuch. Opladen, Wiesbaden 1998.

FLORIAN VASSEN

Inszenierung – Leiblichkeit – Magie – Theater als öffentliche Institution – Theaterhistoriographie – Theaterwissenschaft – Theatralisierung (von Lehr- und Lernprozessen) – Zielgruppe