Wörterbuch der Theaterpädagogik (erschienen 2003)

Theater im Klassenzimmer

Lange Zeit galt in der bundesdeutschen Kinder- und Jugendtheaterszene als unumstößliches Dogma, dass – um die Wirkung des Theatererlebnisses zu steigern – die Schulen zu den Theatern zu kommen haben. Nach einzelnen Stücken wie Schussel und Dussel des Niederländers Ad de Bont oder das → ,unsichtbare Theater‘ Mohammed des Dänen Peter Seligmann in den 80er Jahren hat sich Ende der 90er Jahre des letzten Jhs. eine breite Bewegung hin zu mobilen Produktionen entwickelt, die als TiK den Schulen angeboten werden. Die Gründe hierfür sind ein vielfältiger Mix, z. T. spielen ökonomische Aspekte hinein, so, wenn z. B. die Burghofbühne Dinslaken mangels eigener Spielräume grundsätzlich in Klassenzimmern auftritt, oder aufgrund  der  Kleinheit  der → Ensembles  wie  z. B. beim JungenForumUlmerTheater. Zum Teil aber spiegelt  sich  in  diesen → Projekten  der  Wunsch  der Macher, sich mit der unmittelbaren Lebenswelt seiner Zuschauer auseinander zu setzen. Nicht zuletzt ist das TiK auch Ausdruck eines neuen Selbstbewusstseins der ThP an den Theatern, denn als Genre ist das TiK grundsätzlich in thp Aktionen eingebettet – von einfachen Problemdiskussionen bis hin zu einem ganzen Set an Spielübungen und -aktionen. Dass sich hier ein ureigenes Feld für die ThP an den Theatern auftut, resultiert aus der grundsätzlichen Problemorientiertheit des TiK. Häufig werden Schulprobleme als Stoff aufgegriffen oder es werden Biographien erzählt, in denen sich Probleme jugendlicher Identitätsfindung oder Gesellschaftsorientierung – wie z. B. die Findung einer jungen Frau, die Geschichte eines Säufers oder eines angeblich AIDS-Infizierten – widerspiegeln. Zu den wichtigsten ästhetischen Bedingungen des TiK gehört, dass keine Theateratmosphäre geschaffen wird, also nicht mit Scheinwerfern usw. gearbeitet oder ein eigenes Bühnenbild verwandt wird. Benutzt werden hingegen die Gegenstände des Klassenzimmers, Schultische, Stühle, Wandtafel u. a. Dieser Verzicht auf ein theatralisches Ambiente dient einerseits der Fokussierung auf das behandelte ,Problem‘, bedingt andererseits aber hohe Forderungen an die darstellerischen Qualitäten der bzw. des Schauspieler(s): Er muss nicht nur zur direkten → Kommunikation mit seinem Publikum in der Lage sein (im TiK gibt es keinen Ort, wo er sich verstecken könnte), sondern ebenso in voller Wachheit auf die Reaktionen seiner Zuschauer eingehen können. Schließlich ist hier das wichtigste Kriterium für die Schauspielkunst die Wahrhaftigkeit der Darstellung. Gerade in den Einpersonenstücken, die innerhalb des Spielplans des TiK die große Mehrzahl bilden und sich darüber hinaus oft der ,Erzähltheater‘-Form bedienen, ist es absolute Notwendigkeit, die Illusion zu erzeugen, dass hier der Schauspieler gerade ,seine‘ Geschichte erzählt. Diese Wahrhaftigkeit, in der zwar die Differenz zwischen Person und Rolle im Prozess aufrechterhalten wird, korrespondiert damit, dass auffällig oft in den Aufführungen mit Mitteln eines ,unsichtbaren Theaters‘ von Augusto → Boal  gearbeitet  wird.  Allerdings  werden diese Mittel als Fiktion gesetzt, eine vollständige Umsetzung scheitert am deutschen Schulsystem: Das Geld für die Eintrittskarten wird vorher eingesammelt, so dass das TiK seinen ,Überraschungseffekt‘ bei den Zuschauern verliert. Die Mehrzahl der TiK-Produktionen sind Erzähltheaterstücke, in denen ein Schauspieler ,seine‘ Geschichte erzählt, daneben gibt es – seltener – auch Zweioder gar Dreipersonenstücke, die aber auch in ihren Strukturen narrativ geprägt sind. Das TiK wendet sich an alle Schulstufen. Wenn dabei die reinen ,Problem‘-Stücke sich eher an Schüler der Sekundarstufe I und II wenden, so verzichtet das TiK auch in der Grundschule nicht auf ,Probleme‘, aber sie werden auffälligerweise spielerischer – und damit theatralischer – umgesetzt. Hierzu gehört, dass Kinder durch Spielübungen in den Prozess der Aufführung direkt miteinbezogen werden, aber auch vorgeführt wird, welche lebenspraktischen Orientierungen in → Märchen liegen können.

Mittelstädt, Eckhard (im Auftrag der ASSITEJ): Grimm & Grips 16. Jahrbuch für Kinder- und Jugendtheater 2002/03. Frankfurt a. M. 2002 [mit den Vorträgen und Aufsätzen zu Festival ,Theater im Klassenzimmer‘ in Dresden im Februar 2002; in Vorbereitung]; Staatsschauspiel Dresden/Theater Junge Generation Dresden/Landesbühne Sachsen (Hg.): Theater im Klassenzimmer. Ein Festival. Dokumentation von Caren Fischer. Dresden 2002 [Bezug über ASSITEJ, Schützenstr. 12, 60311 Frankfurt a. ].

MANFRED JAHNKE

Authentizität – Erzähltheater – Minidrama – Mitspiel(theater) – Prozess und Produkt