Wörterbuch der Theaterpädagogik (erschienen 2003)

Theater als öffentliche Institution

Die Entstehung des eurogenen Theaters kennzeichnet eine unvergleichliche Institutionalisierung. Die alljährlich stattfindenden dionysischen Kultfeste, zu denen im Athen des 5. vorchristlichen Jhs. Theateraufführungen geboten wurden, waren staatliche, von Seiten der Polis organisierte und sanktionierte Veranstaltungen. Gesetzliche Regelungen bestimmten die Bereitstellung von Personal, die Finanzierung durch private Geldgeber und die Durchführung des Theaterfestes. Unter großer öffentlicher Anteilnahme – es darf unter den Zuschauern annähernd mit der gesamten mündigen Bürgerschaft Athens gerechnet werden – boten Laien im heutigen Sinne, nämlich Personen eben jener Bürgerschaft, die Schauspiele. Über die kultisch-rituelle Anlage hinaus waren diese Veranstaltungen Akte öffentlicher Selbstpräsentation und politisch-anthropologischer Selbstvergewisserung der Polis. In ihnen wurde parallel zum philosophischen und politischen Diskurs die Entwicklung des antiken autonomen Menschenbildes theatral verhandelt (vgl. Lehmann; Meier).

TaöI meint die öffentliche (staatliche, höfische usw.) Einrichtung von Theater. In Erweiterung des Begriffs Theaterbetrieb, welcher die personelle und technische, also innere Einrichtung eines Theaters bedeutet, ist TaöI auch über das Verhältnis zur Öffentlichkeit, für die es bestimmt ist, definiert.

Vom Mittelalter bis zum Humanismus kann nicht von  TaöI  gesprochen  werden.  Dem → Geistlichen Spiel der Kirche oder dem humanistischen → Schuldrama fehlten Charakteristika wie die eines festen oder stehenden → Ensembles oder geregelter Finanzierung. Nur das Elisabethanische Theater Englands (ca. 1595– 1620) kannte bereits neben privaten auch öffentliche stehende Bühneneinrichtungen. Deren Schauspiele standen allen Ständen offen.

Im Absolutismus und mit der Aufklärung erfolgte durch die Einrichtung höfischer Bühnen, von Hof- und Stadttheatern, die bis heute im Wesentlichen vorhandene Einbindung des Theaters in das europäische Staatenwesen. Mit der Gründung der Comédie Française 1680 durch Ludwig XIV. war das älteste neuzeitliche Staatstheater überhaupt entstanden. Das absolutistische Höfische Theater wendete sich an ein aristokratisches Publikum. Seine Aufgaben bestanden in der Allegorese und Glorifizierung des monarchischen oder fürstlichen Herrschers und in der Darstellung höfischer Ideale wie Liebe und Ehre. Mit dem engen Öffentlichkeitsspektrum dieser Bühnen waren auch Existenz und Sicherheit der Theaterbetriebe und damit der Ensembles eng an die Person des amtierenden  Fürsten gebunden.

Mit der Aufklärung und korrespondierend der Ausbildung des Bürgerlichen Trauerspiels kamen Forderungen nach wirtschaftlich und inhaltlich unabhängig operierenden Bühnen auf. Der subventionierte Bühnenbetrieb sollte „den Schauspielern selbst die Sorge nicht überlassen […], für ihren Verlust und Gewinst zu arbeiten“ (Johann Elias Schlegel zit. n. Lessing, Bd. 4, 8). Die Zwecke des festen Bühnenbetriebes sollten in der Förderung kulturnationalen Einheitsempfindens der sich entwickelnden bürgerlichen Gesellschaft, in der Emanzipation der Kunst und in der ästhetisch-moralischen Bildung des erhofften breiten Zielpublikums bestehen (vgl. Lessing, Bd.  3, Brief oder Schiller 818ff.). Von paradigmatischer Bedeutung waren die Einrichtung des Deutschen Nationaltheaters 1767 bis 1769 in Hamburg und das ab 1791 unter der künstlerischen Leitung Goethes und Schillers stehende Weimarer Hoftheater. Das Weimarer Theater sah sich v. a. der Ausbildung des autonomen Kunstwerkes im Dienste der Idealisierung von Freiheit und Humanität verpflichtet (vgl. Schiller 570ff.). Mangelnde öffentliche Resonanz verhalf diesen Bühnen aber kaum zur Breitenwirkung.

Den bis ins 19. Jh. fortbestehenden Stadt- und Hofbühnen gelang es nicht, sich aus der Bedingtheit durch höfische oder polizeiliche Kontrolle zu befreien. Schon deshalb konnten sie ihren postulierten freiheitlichen Bildungsauftrag nur unzureichend erfüllen. Entwürfe zur Verankerung des Theaters im öffentlichen Bildungssystem (Stein-Hardenbergsche Reformen) oder zu einem Theatergesetz, das den sozialen Status der Bühnenkünstler und das Verhältnis des Theaters zum Staat geregelt hätte, blieben unausgeführt. Deshalb bildeten sich am Ende des 19. Jhs. zahlreiche Theatervereine, die Vorstellungen von modernen, zeitgenössischen und als kritisch empfundenen Dramen in gemieteten Theaterräumen als geschlossene Mitgliederversammlungen unternahmen und so die Theaterzensur umgingen; zuerst 1887 das ,ThéâtreLibre‘ unter André Antoine in Paris, in Deutschland 1889 die ,Freie Bühne‘ unter Otto Brahm.

Erst mit dem Zusammenbruch der Monarchie und Errichtung der Weimarer Republik wurde die öffentliche Aufgabe des Theaters in Deutschland staatlich anerkannt. Die ehemaligen Hoftheater der Landesherren wurden von den Ländern als Rechtsnachfolger und die Stadttheater von Kommunen und Städten übernommen. An diese Art der Institutionalisierung knüpfte man in der BRD wie DDR nach dem Nationalsozialismus und der dort in der Reichstheaterkammer erfolgten Gleichschaltung der Theater wieder an.

Anders als in Ländern wie der Schweiz oder den USA, wo das Theatersystem im Wesentlichen aus privaten Gründungen hervorgegangen war und damit heute in verschiedenen privaten Rechtsträgern organisiert ist, ist das institutionalisierte Theater in Deutschland oder Österreich bis jetzt ein hauptsächlich staatliches System aus Stadt- und Landestheatern. Jüngere Formen institutionalisierten Theaters sind die seit den 1960er  Jahren  bestehenden → Kinder- und  Jugendtheater und die → Jugendclubs städtischer Bühnen.

Für die seit Jahren bestehende Krise des institutionalisierten Theaters in Deutschland, die 1993 in einem ersten Aufsehen erregenden Fall zur Schließung des ,Schillertheaters‘ in Berlin führte, werden v. a. finanzielle Gründe angeführt. Grundlegender als die Finanzmisere der Kommunen dürfte aber eine andauernde Legitimisierungs- und Akzeptanzkrise des Theaters sein. Der bis heute oft formulierte Bildungsauftrag des Theaters – einer moralisierend-aufklärerischen Auffassung meist kritisch gegenüber – bleibt in der positiven Setzung häufig unklar oder skeptisch (vgl. Iden). Es besteht kaum eine allgemeine, das öffentliche Theatersystem mehrheitlich tragende Auffassung, welcher Art dieser Bildungsauftrag vornehmlich sei – ob individueller, gesellschaftlicher, kultureller, politisch-emanzipatorischer usw. – und wie er wirke.

Brauneck, Manfred: Die Welt als Bühne. Geschichte des europäischen Theaters. 4 Bde. Stuttgart, Weimar seit 1993; Iden, Peter (Hg.): Warum wir das Theater brauchen. Frankfurt a. M. 1995; Körner, Roswitha/Pauli, Manfred: Theatersystem. In: Brauneck, Manfred/Schneilin, Gérard (Hg.): Theaterlexikon. Begriffe und Epochen, Bühnen und Ensembles. Reinbek 1986; Lehmann, Hans-Thies: Theater und Mythos. Die Konstitution des Subjekts im Diskurs der antiken Tragödie. Stuttgart 1991; Lessing, Gotthold Ephraim: Briefe, die neueste Literatur betreffend. In: Lessings Werke in 5 Bdn., Bd. 3. Berlin, Weimar 1988; Ders.: Hamburgische Dramaturgie, a.a.O., Bd. 4; Meier, Christian: Die politische Kunst der griechischen Tragödie. München 1988; Michael, Friedrich/Daiber, Hans: Geschichte des deutschen Theaters. Frankfurt a. M. 1990; Schiller, Friedrich: Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken? In: Ders.: Sämtliche Werke. Hg. v. Gerhard Fricke u. Herbert G. Göpfert, Bd. 5. München 1993; Ders.: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, a.a.O.

MARKUS ECKSTEIN

Ästhetische Bildung – Bühnentechnik – Dramaturgie – Kunsttheater – Lernen und Theater – Theaterhistoriographie  – Zimmertheater