Wörterbuch der Theaterpädagogik (erschienen 2003)

Story Dealer

„Angenommen alle Kontinente sind entdeckt, die Sterne zu weit weg, der Alltag zubetoniert mit Aufgaben und Pflichten, die Freizeit zugeklebt von Süßigkeiten – welche Hoffnungen blieben da, diesem geschlossenen Universum noch zu entkommen?“ Diese Zeilen stammen aus dem Manifest der SD, geschrieben in den späten 1980er Jahren. Die anfangs lose Gruppe engagierter Künstler, Soziologen, Pädagogen und Psychologen, die Kinderreisen des Bezirksamtes Kreuzberg in Berlin unter dem Label ,Phantastische Reisen‘ durchführten, war zu einem Kern geschmolzen, der sich seither mit Aktionen im öffentlichen Raum beschäftigt und im Berliner  Telefonbuch (2002) unter ,Agentur für Wirklichkeitsherstellung‘ zu finden ist.

Ähnlich  dem → ,Unsichtbaren  Theater‘ Augusto → Boals fehlt bei SD-Aktionen die Trennung zwischen Bühnen- und Publikumsraum. Die Aktionen sind charakterisiert durch erfundene, aufs→ Spiel gesetzte Wirklichkeit mit offenem Horizont. Grundlage ist ein Stoff, dessen Erleben vom Mitteilen und – um verständlich zu sein – von der sprachlichen Organisation in Form von Geschichten, also der Story lebt. Da sich im Prozess einer Geschichte alle Anwesenden zu Akteuren entwickeln, die sich in die inszenierte Geschichte verstricken und sie vermittels ihres Handelns weiterschreiben, gibt es keine Zuschauer mehr. Zur bekanntesten, auf Medien orientierte Aktion wurde die 1996 am Berliner Kurfürstendamm abgehaltene

,Dritte Weltmeisterschaft im Sub-City-Fishing‘. Hier lässt sich eine gewisse Nähe zu den an Dada anknüpfenden Situationisten feststellen. In Anlehnung an Prinzipien des→ Happenings stehen im Zentrum weiterer Aktionen der SD die bildnerische und körperliche Ausdruckskraft ihres Klientel (Tanz- und Malrituale), in denen Mythen und Symbole den Ausgangspunkt für einen kollektiven Schöpfungsakt bilden (ein Bild/eine  Choreographie).

SD-Aktionen sind geprägt von Kunst- und Theatertheorien der → Avantgarde-Bewegung (vgl. Duchamp; Artaud) und zielen auf die Aufhebung der Grenzen zwischen Kunst und Leben, Bühne und Publikum. Ihre Aktionen sind für Außenstehende oftmals von realen Ereignissen nicht mehr unterscheidbar. Sie gerinnen, unter dem philosophischen Segel des Konstruktivismus, zu Realität.

Dieser Ansatz ist seit den ,Phantastischen Reisen‘ provokativ und deshalb umstritten, zumal kritisch hinterfragt wird, inwieweit die Präfigurierung der SD ein ästhetisches Handeln außerhalb der ,Spielwissenden‘ überhaupt zulässt. Im aufklärerischen Sinne fehlt jeder Hinweis auf die ,wirkliche Wirklichkeit‘, es sei denn, man betrachtet genauso kritisch die Annahme, dass eine – wie auch immer – ausgewiesene Veranstaltung die Einsehbarkeit der tatsächlichen Wirklichkeit vergrößere.

Artaud, Antonin: Das Theater und sein Double. Frankfurt a.1989; Boal, Augusto: Theater der Unterdrückten. Frankfurt a. M. 1979; Duchamp, Marcel/Lebel, Robert: Von der Erscheinung zur Konzeption. Köln 1972; Geisslinger, Hans: Imagination der Wirklichkeit. Frankfurt a. M., New York 1992; Ders. (Hg.): Überfälle auf die Wirklichkeit. Berichte aus dem Land der Story Dealer. Heidelberg 1999.

KIRSTEN  HENSE

„Als-ob“ – Happening – Ritual – Zuschau-Spieler