Wörterbuch der Theaterpädagogik (erschienen 2003)

Spielleitung

 

Spiel steht der sprachlichen Herkunft nach für „Kurzweil, unterhaltende Beschäftigung, fröhliche Übung […] meist jedoch bedeutet ,spielen‘ ein Spiel treiben, musizieren, mimisch darstellen“ (Duden 1989, 690). Leitung lässt denken an ,anleiten‘, ,mit etwas vertraut machen, beibringen, einführen‘. Als sinn- und sachverwandte Wörter für Spielleiter wird einzig auf Regisseur verwiesen (vgl. Duden 1986, 618). Das StandardWörterbuch Englisch übersetzt Spielleiter als Quizmaster (im Fernsehen) und als Tourneur (im Roulett). Auch hier ein Verweis zum Regisseur (vgl. Duden/ Oxford). Im Niederländischen, als Schmelztiegel des mitteleuropäischen Sprachraumes, wird der Spielleiter, niederländisch spelleider, definiert „als iemand, die een spel, toneelstuk enz. leidt“ (als jemand, der ein Spiel, Theaterstück usw. leitet – vgl. Kramers Pocketwoordenboeken).

Berufsständisch dokumentiert sich auch die S einzig im Kontext des Berufstheaters und verweist hier auf die Wirkungs- und Arbeitsfelder der Schauspielregie (z. B. Oberspielleiter, Spielleiter in Stadt- und Staatstheatern). S im Selbstverständnis der ThP fokussiert die Anleitung darstellender Spiel- und Gestaltungsprozesse im Kontext des < Darstellenden Spiels (theatrale Methoden und Gestaltungsformen zum Zwecke des Erlebens und Gestaltens von Welt), des Darstellenden Verhaltens (theatrale Methoden und Gestaltungsformen als Mittel zur Selbstverständigung und Selbstbildung) und der Darstellenden Kunst (vgl. Wiese u. a.). Hier verbindet sich das Spiel im Sinne einer unterhaltenden respektive unterhaltsamen Beschäftigung als Mittel der Aneignung von Welt mit der ästhetischen Gestaltung von Wirklichkeit im Kontext des Schauspiels.

Eine in diesem Selbstverständnis aufgehobene Form der S dokumentiert sich im Kontext des Darstellenden Spiels zu Anfang des vergangenen Jhs. in der Arbeit Asja → Lacis’, dargelegt und begründet im Programm eines proletarischen Kindertheaters von Walter → Benjamin. Lacis schreibt: „Ich war überzeugt, dass man die Kinder durch das Spiel wecken und entwickeln könne. Einfach wäre es gewesen – ein passendes Kinderstück finden, die Rollen verteilen, mit den Kindern proben und die Aufführung fertigstellen. […] Die Kinder spüren unablässig einen fremden Willen, der sie leitet und zwingt – den Willen des Regisseurs. Auf diesem Weg hätte ich mein Ziel nicht erreichen können – ihre ästhetische Erziehung, die Entwicklung ihrer ästhetischen und moralischen Fähigkeiten.“ (zit. n. Brenner 26)

„Das improvisierte Spiel war für die Kinder Glück und Abenteuer. Das Stück öffentlich aufzuführen wurde erst dann diskutiert, als die Arbeit in den einzelnen Sektionen zur Synthese drängte. Da entstand die Forderung eines kollektiven Tuns […] und der Wunsch, das Spiel auch den Kindern der ganzen Stadt zu zeigen. Die öffentliche Aufführung wurde zu einem Fest. […] Unsere Methode hatte sich bewährt. Wir erhielten den Beweis, dass es richtig war, die Leiter gänzlich zurücktreten zu lassen. Die Kinder glaubten, dass sie alles selber machten – und spielend schafften sie es. Ideologie wurde den Kindern nicht aufgedrängt und nicht eingedrillt, sie eigneten sich an, was ihren Erfahrungen entsprach.“ (Hoffmann 85)

Dazu Benjamin im Programm eines proletarischen Kindertheaters: „Die Aufführungen dieses Theaters sind nicht wie die der großen Bourgeoisietheater  das eigentliche Ziel der angespannten Kollektivarbeit, die in den Kinderklubs geleistet wird. Hier kommen Aufführungen nebenbei, man könnte sagen: aus Versehen zustande, beinahe als ein Schabernack der Kinder, die auf diese Weise einmal das grundsätzlich niemals abgeschlossene Studium unterbrechen.“ (Benjamin 81)

Theatrale Methoden und Gestaltungsformen des Darstellenden Spiels und des Darstellenden Verhaltens als methodisches Prinzip im Schaffensprozess der Darstellenden Kunst lassen sich im frühen 20. Jh. ansatzweise in der S von Rudolf Mirbt und Martin Luserke im Kontext der Laienspielbewegung ausmachen.

„Als Teil der Jugendbewegung definiert sich die Laienspielbewegung aus der kritischen Ablehnung gegenüber einem am klassischen Bildungskanon orientierten Schultheater, das die theatrale Darstellung als einen Teil der Unterweisung über das literarische Drama begreift, sowie in Distanz zum Vereins- und Dilettantentheater, das sich dem Schwank und der Komödie sowie der Nachahmung des professionellen Theaters verschrieben hatte, ohne über ausreichende darstellerische Mittel zu verfügen.“ (ebd. 79)

S im Sinne der ThP bedarf neben der ästhetischen auch der psychosozialen Spielleiterkompetenz (vgl. Weintz 353f.). „Innerhalb der Rollenarbeit muss die Spielleitung die Akteure ermutigen, gleichzeitig sie selbst zu sein und über sich hinauszugehen. Dies kann nur geschehen, indem Spieler und Spielleitung die dem Stoff/Text angemessenen Emotionen, Motivationen und Aktionen durch Selbsterforschung einfühlend herausarbeiten und den adäquaten Spielvorgang durch handelndes Erproben und im steten Wechsel von Improvisation, Fixierung und Variation allmählich zu strukturieren versuchen.“ (ebd. 354)

Verwandte Arbeitsweisen finden sich in den Konzepten professioneller Schauspiel-Lehrer: „Brechts Spielleitung war viel unauffälliger als die der bekannten Regisseure. Er vermittelte denjenigen, die ihm zusahen, nicht den Eindruck, als wolle er mit den Schauspielern ,etwas gestalten, was ihm vorschwebte‘; sie waren nicht ,seine Instrumente‘. Vielmehr suchte er mit ihnen zusammen die Geschichte, welche das Stück erzählte, und verhalf jedem zu seinen Stärken.“ (→Brecht 760)

Chantal Guerrero sagt zur Regiearbeit von George →Tabori:  „Er  betont  dagegen  seine  anregende  und betreuende Funktion gegenüber den Schauspielern und dem Geschehen. ,Ich mache ja kaum Regie. […] Ich bin […] nur ein Ideenlieferant und Animateur.‘“ (Guerrero 27)

Was hier Regie-Haltungen in der inszenatorischen Arbeit widerspiegelt, wird in der ThP, die sich in aller Regel an nicht-professionelle Darsteller richtet, zur condition sine qua non, denn „Im theaterpädagogischen Prozess arbeiten die Spieler mit theatralischen und anderen Mitteln immer auch an ihren eigenen persönlichen Herkünften, Befindlichkeiten und Potentialitäten. Daher muss selbst der Theaterpädagoge, der ehrgeizige ästhetische Ziele verfolgt, die Reflexion von Spieler und Gruppensituation sowie seines eigenen Leitungsverhaltens in seine Arbeit einbeziehen, denn ästhetisch-theatralische Arbeit mit Gruppen ist auch psychosoziale Gruppenarbeit.“ (Weintz 359)

Eine Strukturierung theatraler Lernprozesse findet sich im Kernzielemodell von Lidwine Janssens. Darin unterscheidet sie fünf Kompetenzbereiche, aus denen sich zugleich das notwendige didaktische Anforderungsprofil für eine adäquate S ableiten lässt. So steht am Anfang die Aktivierung und das Training des Vorstellungsvermögens, gefolgt von der Übersetzung der Vorstellung in eine Lebensäußerung (Stimme, Haltung,→ Bewegung, Mienenspiel). Hier spricht Janssens vom ,dramatischen Instrument‘ und meint damit den Körper als Ausdrucks- und Gestaltungsmittel. Die → Interaktion, das Zusammenspiel, ist der dritte Bereich, in dem es gilt, Vorstellungen und Äußerungen mit Mitspielern zu teilen und in ein produktives Miteinander zu überführen. Die ,absichtsvolle Gestaltung‘ spielerischer bzw. ästhetischer Prozesse als Darbietung für Zuschauer sowie die ,Reflexion‘ spielerischer und/ oder ästhetischer Prozesse nennt Janssens als letzte Kompetenzbereiche (vgl. Janssens 18f.).

In dialektischer Spannung zu diesen Kompetenzen, die sich an die Schrittfolgen eines thp Prozesses binden, betonen Hans-Joachim Wiese u.a. eine für S unabdingbare Aufmerksamkeit für die ,ästhetischen Momente‘, die querliegen zu den Planungen und Zielvorgaben und sich weniger als Wegmarken, denn als Ereignis Raum und Zeit verschaffen (vgl. Wiese u. a.).

„In einem gewissen Sinne muss der Theaterpädagoge den Spielraum absichtslos betreten, er muss empfänglich bleiben für die Ereignisse des Spielgeschehens.“

Neben der absichtsvollen Verwandlung von Körper, Räumen und Zeiten zum Zwecke der ästhetischen Gestaltung tritt hier die ,existentielle Selbstreferenz‘ der Beteiligten, die ,sich zeigt‘ als individuelle oder Gruppen-Bewegung und so das Geschehen vor und neben den Begriffen und Plänen färbt und wahrhaftig macht (vgl. Wiese u. a.). Dem dienen nicht zuletzt die thp  Eingangs-Rituale  der  Erwärmungen,  Übungen und Spiele als Mittel der Subjektentgrenzung, der Eroberung von Spielräumen, in denen sich etwas absichtsvoll und unversehens zugleich ereignen soll.

Demnach bildet sich zwischen dem Kompetenzspektrum des Impulsgebens, Auf-den-Weg-Bringens und Begleitens, des Festhaltens und Verknüpfens und dem Kompetenzbereich für das im Moment Einfallende, Zufallende, Sich-Zeigende die Identität von S im thp Prozess. Diese Identität konkretisiert sich weniger in der handwerklichen Geschicklichkeit, denn in der Haltung des Spielleiters, der sich wach und geschmeidig zwischen den Polen des Planens und Festhaltens und des Loslassens und Findens zu bewegen versteht. Im semi- oder nichtprofessionellen Theaterbetrieb (Freie Theatergruppen, → Schul – und Amateurtheater) verbinden sich zudem mit S weitere Aufgabenfelder  in  sämtlichen  Bereichen  des  Produktions- und Veranstaltungsmanagements.

Benjamin, Walter: Über Kinder, Jugend und Erziehung. Frankfurt a. M. 1969; Brecht, Bertolt: Neue Technik der Schauspielkunst. In: Ders.: Gesammelte Werke. Schriften zum Theater 2. Frankfurt a. M. 1990; Brenner, Hildegard (Hg.): Asja Lacis. München 1976; Duden. Das Herkunftswörterbuch. Mannheim 1989; Duden. Die sinn- und sachverwandten Wörter. Mannheim 1986; Duden/Oxford. Standardwörterbuch Englisch. Mannheim 1989; Guerrero, Chantal: George Tabori im Spiegel der deutschsprachigen Kritik. Köln 1999; Hentschel, Ulrike: Theaterspielen als ästhetische Bildung. Weinheim 1996; Hoffmann, Christel: Theater für junge Zuschauer. Berlin 1976; Janssens, Lidwine: De Kunst Van Het Spelen. Amsterdam 1999; Kramers Pocketwoordenboeken. Nederlands. Amsterdam 1986; Weintz, Jürgen: Theaterpädagogik und Schauspielkunst. Butzbach-Griedel 1999; Wiese, Hans-Joachim/Günther, Michaela/Ruping, Bernd: Darstellendes Spiel und Darstellendes Verhalten als Grundlage theatraler Gestaltung. In: Korrespondenzen, 2003, H.  42.

JÖRG MEYER

Lampenfieber – Methodik – Regie – Theatralisierung (von Lehr- und Lernprozessen)