Wörterbuch der Theaterpädagogik (erschienen 2003)

Selbsttäuschungstheorie und Bewusstheitstheorie

Im Zusammenhang mit der Emanzipation des Bürgertums von den Zwängen der feudal-absolutistischen Herrschaft sowie mit der geistigen Offensive der Aufklärung, hat sich um die Mitte des 18. Jhs. das bürgerliche Drama und in Verbindung damit die neue Erscheinungsform des Illusionstheaters herausgebildet. Mit seiner pädagogischen Grundintention, mit seiner Fundierung auf der dramatischen Literatur und seiner realistisch-psychologischen Spielweise ist diese Theaterform bis zum Ende des 19. Jhs. die dominierende gewesen. Die beiden Vordenker des neuen Theaters, Denis Diderot und Gotthold Ephraim Lessing, haben ihre Konzeptionen in Opposition gegen das höfische Theater und die klassizistischen Tragödien von Pierre Corneille und Jean Racine entwickelt. Um die Illusionierung sicherzustellen, bekämpfen sie vor allem die direkte Wendung der Schauspieler an das Publikum. Nach ihrer Auffassung muss das Bühnengeschehen als eine in sich geschlossene Welt erscheinen. Beim Zuschauer soll die Illusion erweckt werden, dass er der Wirklichkeit selbst gegenübersteht.

Um diesen Anspruch zu erfüllen, reicht es nicht mehr, dass der Schauspieler – wie das im höfischen Theater und auch im Volkstheater der Wandertruppen der Fall war – bestimmte Darstellungskonventionen handwerksmäßig beherrscht. Es müssen Talente und Begabungen hinzukommen, welche ihn befähigen, die der Interpretation bedürftige neue bürgerliche Dramatik mit ihren komplexen Charakteren zu deuten und auf individuelle Weise zu verkörpern. Das Schauspielen war zu einem theoretischen und pädagogischen Problem geworden.

Im Mittelpunkt der Diskussion stehen zwei Essays: L’Art du théatre (1750) von Francesco Riccoboni und Le Comédien (1747) von Pierre Rémond de Sainte-Albine. Beide behandeln die für das neue bürgerliche Theater absolut zentrale Frage, ob der Schauspieler die Gefühle der von ihm dargestellten Figur empfinden soll oder nicht. Die beiden Autoren vertreten entgegengesetzte Standpunkte. Die Grundthese von Sainte-Albine (229) lautet: „Wollen die tragischen Schauspieler uns täuschen, so müssen sie sich selbst täuschen. Sie müssen sich einbilden, daß sie wirklich sind, was sie vorstellen; eine glückliche Raserei muß sie überreden, daß sie selbst diejenigen sind, die man verrät, die man verfolgt. Alsdann […] werden sie zu unumschränkten Gebietern über unsere Seelen.“ Sainte-Albine vertritt also die Auffassung, dass die Illusionierung des Zuschauers nur durch die Identifikation des Schauspielers mit der von ihm dargestellten Figur möglich ist.

Dieser als Selbsttäuschungstheorie bezeichneten Ansicht eines theaterfremden Literaten steht die Bewusstheitstheorie des aus einer Komödiantenfamilie stammenden und selbst als Schauspieler erfahrenen Riccoboni gegenüber. Auch dessen Schrift hat Lessing übersetzt. Ihre Hauptthese lautet: „Ausdruck nennt man diejenige Geschicklichkeit, durch welche man den Zuschauer diejenigen Bewegungen, worein man versetzt zu sein scheint, empfinden läßt. Ich bin niemals der Meinung gewesen, daß man darein versetzt ist, habe vielmehr allzeit als etwas Gewisses angenommen, daß wenn man das Unglück hat, tatsächlich zu empfinden, man außerstande ist, zu spielen.“ (Riccoboni 90) Ihre überzeugendste Formulierung hat der Bewusstheitstheoretiker, der Dramatiker, Kritiker und Philosoph Denis Diderot gegeben. In seinem 1767 entstandenen, jedoch erst 1830 publizierten Dialog Paradox über den Schauspieler finden sich Sätze wie diese: „Ich verlange [von einem Schauspieler] sehr viel Urteilskraft; für mich muß dieser Mensch ein kühler und ruhiger Beobachter sein, ich verlange daher von ihm Scharfblick, nicht aber Empfindsamkeit [sensibilité]. […] Was mich in meiner Meinung stärkt, ist vor allem die Unausgeglichenheit der Darsteller, die aus der Seele heraus spielen. Erwarten sie von ihnen keinerlei Einheitlichkeit; ihr Spiel ist abwechselnd kraftvoll und schwächlich, feurig und kalt, flach und erhaben. Sie werden morgen an der Stelle versagen, an der sie heute glänzten; dagegen werden sie an der Stelle glänzen, an der sie am Abend zuvor versagt haben. Spielt dagegen ein Schauspieler aus der Überlegung heraus, auf Grund des Studiums der menschlichen Natur, in beharrlicher Nachahmung eines ideellen Modells, aus der  Einbildungskraft und aus dem Gedächtnis, so wird er aus einem Guß, in allen Vorstellungen ein und derselbe und immer gleich vollkommen sein. […] Alles hat er abgewogen, miteinander abgestimmt, einstudiert und in seinem Kopf zurechtgelegt.“ (Diderot 484) Das von Diderot behauptete Paradox besteht also wesentlich darin, dass der ganz und gar ,gefühllose Mensch‘ der beste ,Darsteller von Gefühlen‘ sein kann.

Einen zwischen Selbsttäuschungstheorie und Bewusstheitstheorie vermittelnden Standpunkt nimmt Lessing ein. Er fordert die Einheit von Verstand und Gefühl. Als Methode dahin zu kommen, hält er den Weg von außen nach innen ebenso für gangbar, wie den von innen nach außen; in der Hamburgischen Dramaturgie heißt es: „Ein Akteur (der nur nach einem guten Vorbilde spielt) soll zum Beispiel die äußere Wut des Zornes ausdrücken; ich nehme an, dass er […] die Gründe dieses Zorns weder hinlänglich zu fassen, noch lebhaft genug sich vorzustellen mag, um seine Seele selbst in Zorn zu setzen: Und ich sage; wenn er nur die allergröbsten Äußerungen des Zorns einem Akteur von ursprünglicher Empfindung abgelernet hat und getreu nachzuahmen weiß, […] so wird dadurch unfehlbar seine Seele ein dunkles Gefühl von Zorn befallen, welches wiederum in den Körper zurückwirkt, und da auch diejenigen Veränderungen hervorbringt, die nicht bloß von unserem Willen abhängen. […] Kurz: er wird ein wahrer Zorniger zu sein scheinen.“ Egal, welchen Weg der Schauspieler geht, das Resultat muss jedenfalls für Lessing eine Mischung aus ,Begeisterung und Gelassenheit‘, aus ,Feuer und Kälte‘ sein, in der je nach Beschaffenheit der Situation, „bald dieses, bald jenes hervorsticht“ (Lessing 36). Lessing erkennt also den Akt des Schauspielers als einen grundsätzlich aus emotionaler Identifikation und kontrollierendem Bewusstsein zusammengesetzten Prozess. Vor dem Hintergrund dieser Erkenntnis erweist sich der Streit zwischen den Vertretern der Selbsttäuschungstheorie und denen der Bewusstheitstheorie als einer um ,des Kaisers Bart‘.

Bender, Wolfgang: Schauspielkunst im 18. Jahrhundert. Stuttgart 1992; Diderot, Denis: Paradox über den Schauspieler. In: Ders.: Ästhetische Schriften, Bd. 2. Berlin, Weimar 1967; Lessing, Gotthold Ephraim: Hamburgische Dramaturgie. In: Lessings Werke, 5. Teil. Berlin, Leipzig, Wien, Stuttgart [o.J.]; Riccoboni, Francesco: Die Schauspielkunst. In: Lessings Werke, 12. Teil, a.a.O.; Sainte-Albine, Pierre Rémond de: Der Schauspieler. In: Lessings Werke, 12. Teil, a.a.O.

PETER  SIMHANDL

→ Authentizität – Illusion im Theater – Theaterhistoriographie