Wörterbuch der Theaterpädagogik (erschienen 2003)

Schultheater

Das S in seiner tradierten Verankerung in der Pädagogik zeigt Entwicklungslinien von der moralischen und humanistisch-rhetorischen Erziehung (protestantisches S in Norddeutschland, Jesuitentheater in Bayern und Österreich) hin zu einem volkstümlichen Spektakel in deutscher Sprache, wie auch von der Einweisung in die bürgerliche Lebenspraxis (Aufklärung) zur Gestaltung der Lebenskunst in der Moderne (Wilhelm Schmid). Reformpädagogik und  Jugendbewegung mit Laienspiel und Landschulheim um 1900 suchen nach jugendnahen kreativen Ausdrucks- und Darstellungsformen in Eigenproduktionen (Martin   Luserke, Rudolf Mirbt u. a.). Jugendtheater steht immer im Zusammenhang mit dem Theaterleben der Gesellschaft (vgl. Nickel) und ist von (kultur-)politischen Rahmenbedingungen abhängig, z. B. in der Zeit des Wiederaufbaus nach 1945: Nachholen ausländischer Dramatik/Renaissance Brechts/Vorliebe für humane ,Essentials‘. In den 1970er/80er Jahren, mit dem gesellschaftspolitischen Anstoß von 1968, prägen Subjektorientierung, Öffnung hin auf den politischen Lebenskontext auch das S; gefragt sind Eigenproduktionen, die dem aktuellen Problembewusstsein der Jugendlichen Ausdruck geben; dazu die produktive Auseinandersetzung mit dem professionellen Kinder- und Jugendtheater. In den frühen 1990er Jahren stand die Integration der Spiel-Landschaft der neuen Bundesländer ins Haus, eine produktive Begegnung gegenseitiger Selbstvergewisserung, manifest geworden in den ostdeutschen Treffen der ,Schultheater der Länder‘ (Rostock 1996, Dresden 1997, Mühlhausen 1999, Magdeburg 2000, Berlin 2001, Cottbus 2002). Theaterspielen unter den Bedingungen der Institution Schule zielt auf Theatermachen in der Schule von Schülern für Schüler. In Abgrenzung zum professionellen Kinder und Jugendtheater, Freien Theater, Amateurtheater ist das Theater in der Schule (kulturföderalistisch  bedingt  auch:  Darstellendes  Spiel/ Schülertheater/Schulspiel/Darstellen und Gestalten/ Theater) Schulfach und Kunstform zugleich. Es bietet den Schülern Möglichkeiten, ihre spezifischen Ausdrucksbedürfnisse, ihre Inhalte wie auch ihre soziale Lernbereitschaft in eigener künstlerischer Gestaltung wahrzunehmen.

Eindeutig sind die Rahmenvorgaben in der Schule auf Lernen und Leistung mit inhaltlichen und zeitlichen Effizienzkriterien ausgerichtet; allerdings wird im Selbstverständnis der Theatermacher S gerne als kreativer Freiraum gegen die Verschulung verteidigt. Aus diesem Nischenplatz heraus führen solche Lehrpläne, die den pädagogisch-ästhetischen Stellenwert des Theaterspielens  als  Teil  ästhetischer  Bildung  (vgl. Hentschel) auf der Ebene der Lernbereiche und Inhalte wie auch der Methoden und der Bewertung festschreiben. Die Bandbreite geht von den besonderen Spiel-Chancen der Grundschule über ,Szenisches Lernen‘ als Modul des Fachunterrichts bis zum ,Darstellenden Spiel‘ als Abiturfach in Sekundarstufe II (Hamburg/Bremen) und tragen damit zur verbindlichen Qualitätssicherung bei, die der Profilbildung des S als eines künstlerischen Faches neben Musik- und Kunsterziehung gerecht wird. Die Forderung eines ,subjektiven Curriculums‘ (vgl. Kösel) zeigt deutlich den Anspruch auf Schülerorientierung im Erwerb von Basis-Qualifikationen als ästhetische und soziale Kompetenzen. Auch das Lehrer-Schüler-Verhältnis erfährt damit eine neue Gewichtung.

Im Umfeld der Schule (Eltern, Gemeinde, Verbände, Wirtschaft u. a.) unterstützt man S gerne als einen Beitrag zur Schulkultur und die Aktivitäten der Theatergruppe(n) werden eingebunden in die Ausgestaltung des von der Schulgemeinde verantworteten Schulprofils.

Ein Theaterlehrer braucht thp Professionalität, wie sie die seit den 1970er Jahren massiv geforderte Lehrerfort- und Weiterbildung (an zentralen/regionalen Instituten der Lehrerfortbildung der Länder) anbietet, vor allem die erst allmählich greifende Hochschul-Ausbildung, die sich z. B. in den Studiengängen für Theaterpädagogik/Darstellendes Spiel in Hannover/ Hildesheim/Braunschweig und Erlangen-Nürnberg inzwischen etabliert hat.

Das S speist sich in seinen aktuellen Inhalten aus zwei unterschiedlichen Richtungen, die aber unter dem Zugriff aktiver Schülerbeteiligung zu ähnlichen Präsentationsformen kommen. So werden literarische Vorlagen gern als Steinbruch aus der Perspektive jugendlicher Suche nach Identität genutzt und können genauso wie Eigenproduktionen die Lebensumwelt der Spieler artikulieren und darstellen.

Das Ringen um eine schülernahe Präsentationsform bedeutet auch ein Ringen um zeitgemäße Qualitätskriterien, in produktiver Anverwandlung zeitgenössischen Theaters. Anders als im beruflichen Theater zählt hier der Spielprozess in der Gruppe, als Garant für ein glaubhaftes Spielprodukt, das von der Aura des Authentischen lebt.

Es bleibt das Verdienst der Landesarbeitsgemeinschaften als freiwillige Interessengruppierung in den Bundesländern, bundesweit vernetzt durch die ,Bundesarbeitsgemeinschaft für das Darstellende Spiel in der Schule‘, S-treffen auf lokaler, regionaler und überregionaler Ebene in Gang gebracht zu haben, als Arbeitstreffen mit Aufführungen, Fachtagungen und Werkstätten. Mit dem S der Länder seit 1985 wurde ein Forum der lebendigen Auseinandersetzung geschaffen, das in der Vernetzung der Länder Impulse zur Konsolidierung und Weiterentwicklung des aktuellen S setzt. Das Forschungsprojekt Das Darstellende Spiel an den Schulen (2 Bde., München 1992) konnte auf der Grundlage differenzierter empirischer Erhebungen die notwendige Einrichtung eines regulären Schulfachs mit universitärer Ausbildung der Fachlehrer auf breiter Basis untermauern (vgl. auch: ,Internationale Theaterwoche Korbach‘ ab 1949/50; ,Theatertreffen der Jugend‘, Berlin, seit 1980; Internationale Theaterwerkstatt Scheersberg seit 1957 u. a.).

S sollte sich zu einem öffentlich wirksamen Faktor im Kontext der Schulkultur etablieren, als Sprachrohr von Schülern für Schüler. Das anarchische Kreativpotenzial, als spannungsreiches Verhältnis zwischen dem Realen und dem Imaginären, eingebunden in die pädagogische Verantwortung des Theaterlehrers, kann die Gewähr dafür sein, dass Theaterspielen als ein Event der Schul-Kultur auch im schulischen Umfeld als integrierter Teil der Jugendkultur wahrgenommen wird. Im Kern geht es dabei um eine Weiterentwicklung der ästhetischen Bildung, in der ernsthaft praktizierten Schülerbeteiligung am theatralen Gestaltungsprozess, die zur Selbstqualifizierung (Kernkompetenzen) beiträgt und damit mehr Verantwortung für schulische Entwicklungsprozesse freisetzt. Mit der jugendnahen Inszenierung unserer Wirklichkeit, auch mit den Neuen Medien, kann dort Sprengkraft entstehen, wenn die ästhetische Erziehung als bildungspolitische Herausforderung angenommen wird und authentische Schülerbeteiligung mit eigenwilligen Theaterformen auf sich aufmerksam macht.

Orte thp Bildung: Bundesarbeitsgemeinschaft Spiel und Theater. Falkenstr. 20, 30449 Hannover; Bundesarbeitsgemeinschaft für das Darstellende Spiel in der Schule. Hammarskjöldring 17a, 60439 Frankfurt a. M. (Joachim Reiss); Kinderund Jugendtheaterzentrum in der BRD. Schützenstr. 12, 60311 Frankfurt a. M. (Dr. Gerd Taube); Bundesverband Theaterpädagogik. Genter Str. 23, 50672 Köln.

Belgrad, Jürgen (Hg.): TheaterSpiel. Ästhetik des Schul- und Amateurtheaters. Hohengehren 1997; Bubner, Klaus/Mangold, Christiane: Schule macht Theater. Braunschweig 1995; Das Darstellende Spiel an den Schulen. Teil A: Forschungsprojekt. Teil B: Expertentagung. Für die BAG für das Darstellendes Spiel in der Schule hg. v. Elinor Lippert und Heribert Schälzky. München 1992; Giffei, Herbert (Hg.): Theater machen. Ein Handbuch für die Amateur- und Schulbühne. Ravensburg 1982; Hentschel, Ulrike: Theaterspielen als ästhetische Bildung. Weinheim 2000; Koch, Gerd (Hg.): Theatralisierung von Lehr-Lernprozessen. Berlin, Milow 1995; Kösel, Edmund: Die Modellierung von Lernwelten. Elztal-Dallau 1997; Kulturelle Bildung und Lebenskunst. Ergebnisse und Konsequenzen aus dem Modellprojekt ,Lernziel Lebenskunst‘.  Remscheid   2001; Leeker, Martina (Hg.): Maschinen, Medien, Performances. Theater an der Schnittstelle zu digitalen Welten. Berlin 2001; Lippert, Elinor (Hg.): TheaterSpielen. Bamberg 1998; Nickel, Hans-Wolfgang: Schultheater. In: Brauneck, Manfred/Schneilin, Gérard (Hg.): Theaterlexikon.  Reinbek 1992; Rellstab, Felix: Theaterpädagogik, Bd. 4: Handbuch Theaterspielen. Wädenswil 2000; Theater in der Schule. Hg. für die Körber Stiftung Hamburg und die BAG Darstellendes Spiel in der Schule v. Barbara van Kaik, Elinor Lippert, Gerhard Lippert, Gunter Mieruch. Hamburg 20001; Vaßen, Florian/Hoffmann, Klaus (Hg.): Theater und Schule. Konzepte und Materialien. Hannover  1995.

ELINOR LIPPERT

Ausbildung – Erzähltheater – Festival der Amateurund Schultheater – Theater im Klassenzimmer – Unternehmenstheater