Wörterbuch der Theaterpädagogik (erschienen 2003)

Schuldrama

Historisch ist mit S das protestantische S des 16. und 17. Jhs. gemeint. Es steht in der Tradition des humanistischen Dramas, besonders hinsichtlich der Aufführungsbedingungen und der Trägerschaft. Ursprünglich  an  den  Universitäten  entstanden,  wird  es von Lehrern und Studenten getragen, wie etwa 1497 die Aufführung von Johannes Reuchlins Henno an der Universität Heidelberg. Die Bühnensprache ist Latein. Musikalische Einschübe sind schon fester Bestandteil der Aufführungen.

Mit Ende der frühhumanistischen Phase – ca. Ende der 20er Jahre im 16. Jh. – hat sich das lateinische Drama fest an den Lateinschulen etabliert. Ein Lehrer studiert mit den Schülern zumeist die Aufführung ein, wobei die Schulung in der lateinischen Sprache wie auch Anweisungen für richtiges Benehmen im Mittelpunkt der Probenarbeit stehen. Diese direkte didaktische Funktion vermittelt sich in engem Zusammenhang mit der Aufgabe der Lateinschule, die herrschenden Eliten für Kirche und Kommune auszubilden. Neben den Dramen u. a. von Reuchlin oder Konrad Celtes, die sich häufig mit biblischen Stoffen auseinandersetzen, werden insbesondere die Stücke des Terenz als ,Muster bürgerlicher Bildung‘ in Szene gesetzt, seltener der ,derbe‘ Plautus und nur ausnahmsweise einmal eine griechische Tragödie. Wenn die Aufführungen anfangs im Freien stattfinden, wo ein Podest aufgestellt wird, so wechselt man mit der Zeit in die Säle. Anfangs wird auf der sog. ,Badezellen‘- oder ,Terenzbühne‘ gespielt, einer flachen Reliefbühne, auf der die Handlungsorte nebeneinander aufgestellt und durch einen Vorhang zum Publikum hin abgeschlossen werden können. Entsprechend der didaktischen Funktion steht in der Spielweise die Deklamation einschließlich einer zeichenhaften Gebärdensprache im Vordergrund. Zwischen den zumeist fünf Akten sind jeweils musikalische Einlagen eingeschoben, teils instrumental, teils chorisch. Eröffnet wird die Aufführung mit einem Prolog, der mit dem argumentum nicht nur eine knappe Inhaltsangabe vorstellt, sondern oft auch Hinweise gibt, wie das Publikum die Handlung verstehen soll. Zu den Vorstellungen, zu denen ein Eintrittsgeld erhoben wird, ist in Residenzen der Hof eingeladen, in Städten die Bürgerschaft, so dass die Aufführungen zu einem wichtigen kulturellen Begegnungsort werden. Zum Zeitpunkt der Reformation hat sich das humanistische Drama vielerorts fest etabliert, wobei mittlerweile der Prolog auch in deutscher Sprache stattfinden kann, aber in der Aufführung wird nach wie vor Latein gesprochen. Der Reformator Martin Luther selbst hat sich für die Beibehaltung des S ausgesprochen. In seinen Tischreden merkt er an: „Comödien zu spielen soll man um der Knaben in der Schule willen nicht wehren, sondern gestatten und zulassen, erstlich daß sie sich üben in der lateinischen Sprache, zum andern, daß in Comödien fein künstlich erdichtet, abgemahlet und fürgestellet werden solche Personen, dadurch die Leute unterrichtet und ein Iglicher seines Amts und Standes erinnert und vermahnet werde, was einem Knecht, Herrn, jungen Gesellen und Alten gebühre, wol anstehe, was er thun soll.“ (Luther 431) Wenn Luther derart auch das Theater als Instrument einer moralischen Erziehung definiert, umgeht er zugleich die Verurteilung des Theaters als unmoralisch durch die Kirchenväter wie Augustinus, denn „grobe Zoten und Buehlerey“ könne man auch in der Bibel nachlesen. Indem Luther im Theater derart eine Möglichkeit sieht, die reformatorischen Grundsätze zu propagieren, spezifiziert er nur die Grundlagen des humanistischen Dramas und kann dessen Spielpraxis adaptieren.

In der Entwicklung des protestantischen S kann man drei Schwerpunkte ausmachen: der Wittenberger Kreis um Luther und Philipp Melchanthon, Sachsen mit den Zentren Breslau und Zwickau sowie das Straßburger S um Johannes Sturm. Durch die Umstellung von der Badezellen auf eine Raumbühne, in der sich die Schüler nun durch den Raum zu bewegen haben, eröffnen sich andere Inszenierungsmöglichkeiten. Eine weitere Neuerung ist, dass nun teilweise auch in deutscher Sprache gespielt wird (die erste nachgewiesene fand 1507 in Augsburg statt); seit 1518 wird an Orten, wo zwei S-aufführungen im Jahr in Szene gesetzt werden, zu Fastnacht eine deutschsprachige Inszenierung angeboten. Gleichwohl gilt nach wie vor das Primat des Lateinischen, wie eine Zwickauer Schulordnung aus dem Jahre 1523 belegt: An jedem Mittwoch soll „dernach eyn Comedien Terentii, den sie gar außwendigk können, zur sterckung des gedechtnus, besserung deß aussprechens und all anderen geschicklichkeiten, yn gegenwart aller, geretzytirt werden“. Nach wie vor bildet Terenz eine wesentliche Stütze des Spielplans. Wenn auch nach wie vor biblische Stoffe im Repertoire von zentraler Bedeutung sind, so findet nun eine klare Abgrenzung vom mittelalterlichen religiösen Theater statt. Die Stoffe werden im Sinne einer moralischen Schaubühne verbürgerlicht. Vereinzelt wird das Theater auch direkt der Propaganda unterstellt, so erzählt Thomas Naogorg in seiner Tragoedia nova Pammachuis (1538) die Geschichte des Christentums bis zur Reformation. Mit der Zeit übernehmen die S innerhalb einer Kommune durch ihren regelmäßigen Spielbetrieb eine Art Stadttheaterfunktion, ohne die pädagogische Grundorientierung aufzugeben. Um eine möglichst breite Publikumswirkung zu erreichen, sucht man nun nach großen Räumen. So verfügt das Straßburger S über eine im Freien aufgeschlagene Bühne von sieben Meter Tiefe und dreißig Meter Breite, später kommen noch eine Hinter und eine Oberbühne hinzu. Langsam machen sich auch die neue in Italien entwickelte Theaterarchitektur geltend sowie barocke Vorläufereinflüsse, wie der Einsatz von Maschinen und aufwändigen Kostümen. Für die Ulmer Lateinschule entwickelt Joseph Furtenbach die sog. ,Telaribühne‘ nach italienischem Vorbild: Hier wird die Bühne schon ganz nach der neuen Zentralperspektive als Kulissenbühne eingerichtet, für die die Telari (perspektivisch angeordnete Säulen, die gedreht werden können) eine schnelle Verwandlung ermöglichen. Eine besondere Entwicklung nimmt das protestantische S in Breslau, wo zwei Gymnasien – das Elisabeth- und das Magdalenengymnasium – miteinander wetteifern. Sowohl Andreas Gryphius, der Einflüsse der ,Nederlandsche Schouwburg‘ aufnimmt, als auch Daniel Caspar von Lohenstein, der sich in seinen Tragödien Gestaltungsmittel des Jesuitentheaters aneignet, haben ihre Komödien und Tragödien an diesen Schulen aufführen lassen. Zugleich gehören sie zu den wesentlichen Vertretern der Barockdramatik, die mit ihrem klaren Formwillen – wenn in der Aufführungspraxis auch nach wie vor ihre Spiele von den Reyen, den musikalisch strukturierten Zwischenspielen, unterbrochen werden – auch das Drama als literarische Gattung in Deutschland mitbegründet haben. Mit der nun einsetzenden Professionalisierung durch Wandertruppen und durch die Gründung von Hofbühnen verliert gegen Ende des 18. Jhs. das protestantische S an gesellschaftlicher Bedeutung, ohne jedoch ganz zu verschwinden.

Asmuth, Bernhard: Daniel Caspar von Lohenstein. Stuttgart 1971; Borcherdt, Hans Heinrich: Das europäische Theater im Mittelalter und in der Renaissance. Reinbek 1969; Brauneck, Manfred: Die Welt als Bühne. 1. Bd. Stuttgart 1993; 2. Bd. Stuttgart 1996; Fischer-Lichte, Erika: Kurze Geschichte des deutschen Theaters. Tübingen 1993; Kaminski, Nicola: Andreas Gryphius. Stuttgart 1998; Kindermann, Heinz: Das Theaterpublikum der Renaissance, 2. Teil. Salzburg 1986; Knudsen, Hans: Deutsche Theatergeschichte. Stuttgart 1959; Luther, Dr. Martin: Werke. Kritische Gesamtausgabe. Tischreden in 6 Bdn., Bd. 1. Weimar 1912.

MANFRED JAHNKE

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