Wörterbuch der Theaterpädagogik (erschienen 2003)

Scham

Die etymologische Bedeutung des Begriffes S verweist auf einen zentralen Aspekt der Psychodynamik des S-affekts: S geht auf die indogermanischen Wurzel kam/ kem zurück, was soviel wie verbergen, bedecken oder verhüllen bedeutet (vgl. Kluge). Das vorangestellte ,s‘ (skam/skem) fügt die reflexive Bedeutung hinzu (sich bedecken, verhüllen).

S ist ein schmerzhaftes Gefühl. Wer sich schämt, der sieht sich den Blicken anderer in einer Situation ausgesetzt, in der – zumindest im Erleben des Betroffenen – etwas sichtbar wird, was nicht für das Licht der Öffentlichkeit bzw. für die Augen anderer bestimmt ist. Daher der mit der S verbundene (Schutz-)Impuls, nicht mehr hinzusehen, den eigenen Blick zu senken, seine eigene Unsichtbarkeit zu wünschen.

Das Theaterspiel ist prädestiniert für S-konflikte, da es das Sich-Zeigen, Sich-Darstellen und Aus-sich-Herauskommen erfordert. Mit ihm geht einher, was konstitutive Bedingung von S-affekten ist: exponiert zu sein. Wer sich exponiert, läuft Gefahr, etwas zu zeigen und sichtbar werden zu lassen, was abgelehnt oder belächelt zu werden droht. Dies können besonders intime und verletzbare Aspekte der Persönlichkeit sein. Zumeist jedoch evozieren solche Situationen S, in denen wir das Gefühl haben, uns in einer unangemessenen oder defizitären Art und Weise zu zeigen.

S setzt die Fähigkeit voraus, sich selbst zum Objekt der Anschauung und Beurteilung machen zu können. Diese Fähigkeit entwickelt sich, wenn dem Kind mit etwa zwei Jahren bewusst wird, dass es von außen/ anderen beobachtet und bewertet werden kann und es lernt, von sich selbst Abstand zu nehmen und sich gleichsam von außen zu betrachten. Bei der S steht das Ansehen auf dem Spiel. Jeder hat ein in Teilen bewusstes und in Teilen unbewusstes Bild davon, wie er sein und auf welche Weise er gesehen werden möchte. S verweist auf dieses Idealbild des eigenen Selbst, gegen das das Subjekt beschämend abfällt. Sie resultiert aus der Diskrepanz zwischen dem Idealbild des eigenen Selbst und dessen mangelhafter Realisierung. Stolz entsteht, wenn diese Spannung aufgehoben zu sein scheint. Sind die Ansprüche des Ich-Ideals besonders hoch und den Möglichkeiten/Fähigkeiten eines Akteurs nicht angemessen, haben S-konflikte einen guten  Nährboden.

Grundsätzlich lassen sich drei Formen der S unterscheiden: Das Gefühl selbst, die Angst vor einer Bloßstellung (S-angst) und die (Haltung der) S-haftigkeit, die der schmerzlichen Erfahrung von S/Beschämung durch besondere Vorsicht und Zurückhaltung vorbeugen will (vgl. Wurmser). Die ThP wird mit all den genannten Formen konfrontiert, sie stößt in der S auf einen Gegenspieler, der die Arbeit behindern oder sogar gefährden kann. Da S-ängste und -konflikte meist in maskierter Form auftreten, sind sie schwer zu erkennen; sie können sich hinter ganz verschiedenen Verhaltensweisen verbergen. Masken der S können Hemmung, Vermeidung, Spott, Albernheit oder auch vermeintliche Unverschämtheit sein. S-ängste können sich auch in >Lampenfieber ,übersetzen‘. Affekte können sich auf den Akt des Sich-Zeigens und/oder auf spezifische Inhalte einer Darstellung beziehen. Ist im zweiten Fall das Spezifische, was zum Ausdruck gebracht wurde, Quelle der S, so ist es im ersten Fall der Umstand, dass überhaupt etwas zum Ausdruck gebracht ,zur Schau gestellt‘ wurde. S-konflikte/-ängste können den Wunsch und das Vermögen eines Akteurs, sich im Theaterspiel zu exponieren, sich zu zeigen und das Publikum zu ,fesseln‘ hintertreiben. S-ängste haben jedoch auch eine wichtige Funktion: Sie weisen uns auf die Gefahr einer potenziellen Bloßstellung hin und warnen uns davor, leichtsinnig‘ Strebungen der Zeigelust nachzugeben. Sie hemmen die Bereitschaft, unser Intimstes zu entäußern, und schützen insofern den Kern unserer Persönlichkeit.

Kluge, Friedrich: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Berlin 1975; Schorn, Ariane: Scham und Entfremdung. In: Journal für Psychologie, 1998, H. 1; Wurmser, Leon: Das Problem der Scham. In: Jahrbuch der Psychoanalyse, Bd. 13. 1981; Ders.: Die Maske der Scham. Berlin u. a. 1997.

ARIANE SCHORN

Schau- und Zeigelust