Wörterbuch der Theaterpädagogik (erschienen 2003)

Rollenspiel

Das R ist seit den 1970er Jahren in Beratung und Weiterbildung  eine  beliebte  Praxis  (vgl.  Broich), kaum aber eine in sich geschlossene Methode. Seit ihrem Entstehen wurden viele unterschiedliche Ansätze und Techniken erarbeitet, die sich nur schwer demselben Etikett unterordnen lassen. Sehr verbreitet ist eine Form des R, in der die Teilnehmer dazu aufgerufen sind, einen vorgegebenen Spielplan möglichst genau zu erfüllen: Die Rollen sind festgelegt, die Dialoge musterhaft vorgegeben und die Interpretationsspielräume minimiert. Mit diesen vorgegebenen R sollen den Teilnehmern standardisierte Rollen- und Handlungsmuster vermittelt werden mit dem Ziel, kommunikative und situative Anforderungen optimal zu erfüllen (vgl. Birkenbihl). Diesem Verständnis vom pädagogischen R steht unter Bezug auf das > Psychodrama (vgl. Moreno) eine Auffassung der Methode entgegen, in der bei der Erfüllung der Spielanforderung auf feste Rollenmuster verzichtet wird (vgl. Mävers u. a.; Brenner u. a.; Lensch; Schaller). Die Spieler sind im Rahmen des Spiels frei, ihren eigenen Interessen und Bedürfnissen zu folgen mit der Einschränkung, das individuelle Spiel auf die Mitspieler abzustimmen, also in einem Gruppenprozess sozial zu synchronisieren.

Drei Formen des pädagogischen R lassen sich unterscheiden: das Protagonistenspiel, das Großgruppenspiel und das literarische R. Im Protagonistenspiel berichtet ein Gruppenmitglied von einer als belastend erlebten Situation, um sie dann mit den anderen Teilnehmern szenisch zu rekonstruieren und in Varianten weiterzuspielen. Die Gruppenmitglieder helfen bei der szenischen Aktualisierung des Konflikterlebens durch  die Übernahme von Zuspielerrollen und bieten durch ihre Rückmeldungen und Vorschläge Wege zur Bewältigung und Lösung des Problems. Im Großgruppenspiel wird ein Motiv (z. B. ,Traumschiff‘) durch Vereinbarung in der Gruppe oder Vorgabe durch den Leiter von der gesamten Gruppe gespielt. Hier gibt es keinen Erfahrungsvorsprung eines einzelnen Gruppenmitglieds, sondern es werden Themen gewählt, die für die psychosoziale, moralische oder kulturelle Entwicklung der Gruppe als maßgeblich gelten können. Im literarischen R dient eine Textvorlage als Ausgangspunkt des Spiels. Die Agierenden eignen sich die literarisch angedeuteten Rollen durch Rollenwahl, Einstimmungsinterview und Spiel an, wobei sie individuelle, kollektive und kulturell vorgegebene Ausdrucksmittel bei der Rekonstruktion des Spielverlaufs und des Sinngehaltes der textuellen Vorlage nutzen.

Gemeinsam ist diesen Grundformen des pädagogischen R ihre Zielsetzung: Sie sollen die anschauliche, personenbezogene Darstellung bedeutsamer inter- und intrapersonaler Situationen erleichtern und in einem Schutzraum alltagsenthobene, exemplarische Erfahrungen schaffen, um kommunikative, kulturelle oder psychosoziale Probleme spielerisch zu bearbeiten und im Rahmen der bestehenden Verhaltensmöglichkeiten oder unter Erweiterung der bisherigen Handlungsspielräume Lösungswege zu gestalten. Beim Protagonistenspiel werden drei Zielrichtungen unterschieden: Im klärenden oder psychodramatischen R geht es darum, aktuell erlebte Handlungseinschränkungen vergangener psychosozialer Situationen aus der Individualgeschichte (Rollenrestriktionen) wiederzubeleben und aufzuklären; im trainierenden R darum, künftige Situationen übend vorwegzunehmen, indem die erwarteten Schwierigkeiten thematisiert und in Form eines antizipierenden Probehandelns ausgeräumt werden; und im wunscherfüllenden R darum, Sehnsüchte, Hoffnungen und alternative Lebenswege spielerisch zu entwerfen und zu erproben (vgl. Mävers u. a.).

Ein konkretes Beispiel: In einem Seminar ,Verhandlungstraining‘ berichtet die Referentin einer Krankenkasse, dass sie regelmäßig Probleme bekommt, wenn es am Verhandlungstisch mit den Vertragspartnern laut und unsachlich zugeht. Für diese Erfahrung benennt sie eine konkrete Situation, in der es ihr so ergangen ist. Diese Situation wird nachgestellt: Die Referentin baut den Verhandlungsraum auf, besetzt die Rollen der Verhandlungsteilnehmer mit Personen aus der Gruppe (Zuspieler) und stimmt jeden einzelnen auf seine Rolle ein. Dann rekonstruiert sie den Gesprächsverlauf aus der Erinnerung, indem sie per Rollentausch auf den Plätzen der beteiligten Personen deren Beiträge nachspricht und so den Zuspielern ihren Part vorspielt. Auf diese Weise wird die reale Situation Schritt für Schritt nachgestellt bis zu dem Punkt, an dem sie für die Protagonistin schwierig wird.

Die Verhandlungsführer der Krankenkasse streiten also mit den Vertretern der Ärzte um die Honorarordnung. Der Verhandlungsführer der Gegenseite schreit unsere Vertragsreferentin an: ,Sie sind doch völlig inkompetent, sie haben doch keine Ahnung, wie es in den Praxen aussieht, die gehen alle am Stock!‘ An dieser Stelle greift der Trainer ein und fragt die Referentin: ,Wie geht’s Ihnen?‘ – ,Ich möchte am liebsten rauslaufen!‘ – ,Gut, machen Sie das!‘ Vor der ,Tür‘: ,Ich fühle mich völlig hilflos. Hier draußen kann ich aber überhaupt nichts machen.‘ – ,Was würden Sie denn am liebsten tun?‘ – ,Zurückschreien, aber das kann ich nicht.‘ – ,Was könnten Sie denn?‘ – ,Ich könnte ihm die Meinung sagen, ganz ruhig und sachlich, jedenfalls würde ich das gern.‘

Gemeinsam werden verschiedene Möglichkeiten diskutiert und in der Szene von den anderen Teilnehmern und von der Protagonistin so lange ausprobiert, bis sie das neue Verhalten als ihres annehmen kann. Die Referentin beendet die Situation mit einem Gefühl des Gelingens, mit dem Eindruck einer geglückten, auf sie zugeschnittenen und von einer Gruppe getragenen Variante. In unserem Beispiel: ,Herr Dr. A., ich möchte nicht, dass Sie in diesem Ton mit mir sprechen, das steht Ihnen nicht zu.‘

Beim literarischen R (vgl. Freudenreich u.a.; Scheller; Lensch) fällt die Ähnlichkeit zum Bibliodrama (vgl. Martin; Warns u. a.) auf. Im Vergleich zu den anderen beiden Hauptformen erscheint das literarische R einerseits spezieller, weil es als einzige Submethode an ein das Spiel vorstrukturierendes Medium, den Text, gebunden ist, andererseits aber komplexer, weil es ohne Elemente und Techniken der beiden anderen Formen nicht vorstellbar ist. Fragt man sich, wie sich die situative Spielgestaltung, das R, zur textuellen Vorlage verhält, so sind zwei Varianten denkbar: Auf der einen Seite steht die akribische Erfüllung der Textvorlage, um die Wiedergabe der wörtlichen Reden und die szenische Darstellung von Handlungsbeschreibungen. Die Spieler sind Marionetten der textuellen Rollenentwürfe. Auf der anderen Seite fungiert der Text als narrativer Impuls zu einem freien Spielgeschehen. Darüber hinaus besteht die Option, dass die Spieler in einer Art kollektivem Schaffungsprozess Handlungsketten knüpfen, die ihrem Thema eine dramatische Gestalt verleihen und ihre Ideen in eine erfahrbare Form verwandeln. Lehnen sich die Spieler bei ihrer Rollengestaltung zu eng an die textuelle Vorlage an, besteht die Gefahr, eigene Sinnbildungen bei der Spielgestaltung zu vernachlässigen, die interpretative Leistung, die der Leser-Spieler beim Verstehen des Textes und im Spiel vollbringt, zu suspendieren. Entfernen sie sich zu weit von der Textvorlage, ist es schwer, Textverstehen und Handlungsentwürfe mit den Mitspielern zu synchronisieren, denn im literarischen R wird auf die diskursive Auseinandersetzung über Gegenstand und Sinn der Textvorlage weitgehend verzichtet. Diese Einigungsprozesse verlaufen vielmehr implizit und eingebettet in das Spielgeschehen. Was dann im Spiel entsteht, hat immer einen eigenständigen Charakter. Das zustande gekommene Spiel stellt ein kulturelles Produkt dar, das die Sinnpotenziale des Textes nicht nur einlöst, sondern auch punktuell überschreitet. Drei Ebenen fließen dabei zusammen: die Individualdynamik der Spieler, also die Interessen, Bedürfnisse und Konflikte, die Welt- und Selbstsicht, die dem Spieler an der literarischen Rolle sichtbar werden und sein eigenes Lebenskonzept berühren oder  von  ihm  abweichen;  die Beziehungsdynamik, d.h. die Begegnungen der Spieler, in denen sich die Rollenträger mit ihren Rollen auf doppelte Weise zueinander figurieren; schließlich die Dynamik der Erzählung selbst, in der sich die Rahmenbedingungen der Erzählung, das Thema und die Moral der Geschichte zusammenschließen und eine zeitlich-dramatische Struktur bilden.

Zwei Formen des literarischen R lassen sich unterscheiden: das konstruierende und das rekonstruierende Spiel. Bei ersterem geht es um die Entfaltung einer Spieldynamik, die sich die Kreativität der Spieler zunutze macht und das Spiel über die Textgrundlage hinausführt. Die Literaturvorlage dient als Auslöser eines Spiels, in dem die Akteure nach Handlungs- und Entscheidungsalternativen suchen und das Textgeschehen umschreiben. Bei dieser Spielform handelt es sich im eigentlichen Sinne um ein Stegreifspiel mit einer literarischen Impulsvermittlung.

Das rekonstruierende literarische R erfordert, dass sich die Spieler in die zeitlichen Abläufe, die Handlungsorte, die Handlungen und die textuell konturierten Rollen einfinden. Es „ist als gemeinschaftlicher Versuch anzusehen, das geschriebene Wort durch Einfühlung […] zu ‚reanimieren‘, aus der Betäubungshaltung passiv-rezeptiven Kulturkonsums in eine aktive Haltung sinnlich-konkreter Textdeutung, erlebter Hermeneutik überzuwechseln. Es findet keine nur gedankliche  Auseinandersetzung  mit  dem  Text  statt, sondern die Textvorlage, […] ergänzt und ausgefüllt durch eine subjektiv-authentische Deutung der jeweiligen Rolle, wird in dieser individuell aktualisierten Form zur Grundlage dessen, wofür Dichtung eigentlich gedacht ist, nämlich zur Grundlage einer Erweiterung des Welterkennens im Zusammenhang mit Selbsterkenntnis.“ (Mävers u. a. 22)

Der Ablauf eines rekonstruierenden literarischen R ist von fünf Phasen geprägt: der Rollenwahl, dem Szenenaufbau, der Einstimmung, dem Spielablauf und dem Abschluss, der die Reflexion über den Spielablauf und das Erleben der Mitspieler beinhaltet. Zunächst wird der Text vorgetragen (z. B. Der Wolf und die sieben Geißlein). Anschließend ermuntert der Spielleiter die Teilnehmer, Rollen zu übernehmen, verabredet eine Einstiegsszene für das Spiel und veranlasst die Spieler, die ,Bühne‘ – also Andeutungen des Spielortes – mit einfachen Mitteln aufzubauen. Ab diesem Zeitpunkt werden die Spieler vom Leiter mit den Namen und Attributen ihrer Rollen angesprochen und in sog. Einstimmungsinterviews zu ihren Rollen befragt. Auf diesem Wege finden sich nicht nur die interviewten Spieler in ihre Rollen hinein, auch die Mitspieler und Zuschauer prägen sich die anderen Akteure ein und gewinnen einen ersten Eindruck von der Rolleninterpretation der Mitspieler. Dann beginnt das eigentliche Spiel an einem zuvor definierten Ort und zu einem definierten Zeitpunkt der bekannten Handlung. Dabei ist es keineswegs ausgeschlossen, dass sich der Handlungsfaden teilt und an mehreren Orten gleichzeitig verläuft oder aber an verschiedenen Orten beginnt und später zusammenkommt. Bestimmte Szenen können allerdings durch den Leiter dadurch herausgehoben werden, dass andere Handlungsfäden ,eingefroren‘ und erst nach Ablauf einer Sequenz wieder ,aufgetaut‘ werden und ihre Fortsetzung finden. Diese und andere Techniken geben dem Leiter  die Möglichkeit, das Spiel zu fokussieren, zu beschleunigen oder zu verlangsamen, Rollendistanz oder -einfühlung zu verstärken, also mit einer pädagogischen Zielsetzung ins Spielgeschehen einzugreifen, um auf den Ebenen der Individual-, Beziehungs- und Erzählungsdynamik einen Erkenntnisgewinn oder eine Abrundung zu erzielen. Zum Abschluss des Spiels verlassen die Akteure die ,Bühne‘ und kehren in die Runde zurück, wo das Nachgespräch eröffnet  wird.

Birkenbihl, Michael: Rollenspiele schnell trainiert. München 1992; Brenner, Inge/Clausing, Hanno/Kura, Monika/ Schulz, Bernd/Weber, Hermann: Das Pädagogische Rollenspiel in der betrieblichen Praxis. Hamburg 1996; Broich, Josef: Rollenspiel-Praxis. Köln 1999; Freudenreich, Dorothea/Sperth, Fritz: Stundenblätter. Rollenspiele im Literaturunterricht. Stuttgart 1983; Fritz, Jürgen: Theorie und Pädagogik des Spiels. Weinheim, München 1991; Lensch, Martin: Das pädagogische Rollenspiel als erlebnisaktivierende, szenische Trainings- und Beratungsmethode. In: e & l – erleben und lernen, 2000, H. 6; Ders.: Spielen, was (nicht) im Buche steht. Die Bedeutung der Leerstelle für das literarische Rollenspiel. Münster 2000; Mävers, Wolfram/Volk von Bialy, Helmut: Rollenspielpädagogik. Entwicklungsperspektiven für ein erlebensgegründetes Lern-Lehr-Verfahren. In: Pädagogisches Rollenspiel, 1995, H. 29/30; Martin, Gerhard Marcel: Sachbuch Bibliodrama. Stuttgart, Berlin, Köln 1995; Moreno, Jakob L.: Gruppenpsychotherapie und Psychodrama. Stuttgart 1959; Schaller, Roger: Das große Rollenspiel-Buch. Weinheim, Basel 2001; Scheller, Ingo: Szenische Interpretation. In: Praxis Deutsch, 1996, H. 136; Warns, Else N./Fallner, Heinrich: Bibliodrama als Prozeß. Bielefeld. 1994.

MARTIN LENSCH

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