Wörterbuch der Theaterpädagogik (erschienen 2003)

Rhetorik

Die R erlebte ihre erste Hochphase in der sophistischen Aufklärung (Protagoras, Gorgias, Isokrates), die die Rede als ein in gesellschaftlichen Figurationen universell einsetzbares Mittel ansah. Die Sophisten entwickelten erste Argumentationstechniken. Dagegen sah Platon in der sophistischen R eine bloße Scheinkunst, die zur Wahrheitsfindung untauglich sei. Mit seinem Verdikt gegen die R lieferte er die Grundlage jeglicher Kritik an R bis in die heutige Zeit. Widersprochen wurde ihm von seinem Schüler Aristoteles, der R als gleichberechtigtes Gegenstück zur philosophischen Dialektik behandelte und das bis heute wichtigste Lehrbuch schrieb, in dem die Prinzipien rhetorischer Argumentation erläutert werden.

Zeugnisse über die weitere Entwicklung der R haben wir erst wieder aus der römischen Zeit, seit ca. 90 v. Chr. Das älteste – nach seinem Adressaten benannte – erhaltene Lehrbuch Rhetorica ad Herennium behandelt die Produktionsstadien und Hauptgattungen der Rede. Mit den Lehrgebäuden von Cicero und Quintilian, die den Redner und seine sprachlichen Qualitäten in den Vordergrund stellen, wird die R neben der Philosophie zum „wirkungsmächtigsten Bildungssystem der europäischen Geschichte umgestaltet“ (Ueding 2002, 8).

Im christlichen Mittelalter wird die R für die Bibelauslegung und Predigtlehre rezipiert (v. a. Augustinus De doctrina christiana); in den Zeiten von Renaissance und Humanismus prägte sie das gesamte gesellschaftliche Leben einschließlich Schule und Universität. Zur Zeit der Aufklärung entstanden muttersprachliche Lehrbücher und damit national differenzierte Ausrichtungen der R. Mit der Französischen Revolution und der Entwicklung einer kritischen Publizistik wurde der Schwerpunkt wieder auf die politische Bedeutung gelegt. Bis heute nicht geklärt sind die Gründe für ihren Verfall Ende des 18. Jhs.

Als wissenschaftliche Disziplin erlebt sie in den 1930er Jahren im angloamerikanischen Bereich (new rhetoric) einen neuen Aufschwung, in den 1950er Jahren im französischen und erst ab 1960 im deutschsprachigen Bereich. Mittlerweile gibt es ein Interesse an R in allen wissenschaftlichen Bereichen, gilt sie „als eine auf Beobachtung und Reflexion gegründete Erfahrungswissenschaft, die […] zwar keine Erkenntnis vermittelt, dafür aber eine von allen Wissenschaften in Anspruch genommene Disziplin der sprachlichen Kommunikation ist“ (Ottmers 6).

R meint die Theorie und Praxis der menschlichen Beredsamkeit in ihren mündlichen, schriftlichen und durch Medien vermittelten Formen. Dass sie sowohl Theorie als auch praktische Redekunst ist, wird gekennzeichnet durch die Begriffe Theorie und Angewandte R, die zusammen die Allgemeine R bilden.

„Als wissenschaftliche Disziplin beschäftigt sich die Rhetorik mit der Analyse sprachlicher oder der Sprache analoger Kommunikation (körperlicher Beredsamkeit), die wirkungsorientiert, also auf die Überzeugung des Adressaten hin ausgerichtet ist (persuasive Kommunikation).“ (Ueding 2002,  1)

Ihr sytematisches Prinzip beruht auf den Stadien der Rede: In der Inventio geht es um die Zuordnung zur Redegattung und das Auffinden der Argumente (Topik). Gegliedert wird der Stoff in der Dispositio; Hilfe bietet hier die Lehre von den vier Redeteilen (exordium, narratio, argumentatio, conclusio). Im dritten Stadium, der Elocutio, werden stilistische Fragen behandelt, also etwa Figuren, Tropen, Sprachrichtigkeit und Angemessenheit. Auch hier hat die R umfangreiche Theorien entwickelt. Im Stadium der Memoria wird die Rede mittels mnemotechnischer Regeln eingeprägt, um schließlich in der Actio durch Mimik, Gestik und Sprechtechnik verwirklicht zu  werden.

Ein breites Publikum verbindet mit R den Bereich der Schulungen und Trainings, die zumeist auf niedrigem wissenschaftlichen Fundament aufbauen. Entscheidender für die Entwicklung der R ist ihre Bedeutung in der rhetorischen Argumentationstheorie in der Jurisprudenz und der Philosophie, die Adaption der Topik und der Textinterpretation in der Literaturwissenschaft, die Entwicklung einer R der Massenmedien, das Verständnis als Bildungssystem und Theorie wirkungsbezogener Kommunikation in der Tübinger R und innerhalb der Theorie und Praxis der mündlichen Kommunikation in der Sprechwissenschaft.

Knape, Joachim: Was ist Rhetorik? Stuttgart 2000; Ottmers, Clemens: Rhetorik. Stuttgart, Weimar 1996; Ueding, Gert: Klassische Rhetorik. München 2000; Ders.: Moderne Rhetorik. München 2000; Ders.: Was ist Rhetorik? http:// www.uni-tuebingen.de/Rhetorik/definition/rhetorik.htm. 07.02.2002.

FRANCESCA VIDAL

Dramaturgie – Erzähltheater – Geste – Kommunikationstraining – Medien / Medium – Sprechen – Sprecherziehung  – Unternehmenstheater