Wörterbuch der Theaterpädagogik (erschienen 2003)

Regenbogen der Wünsche

Bis zum Ende der 1970er Jahre zielte Augusto Boals ,Theater der Unterdrückten‘ vorrangig auf die Auseinandersetzung mit sichtbaren Formen von politischsozialer Repression. Da Boal aber aufgrund seines langen Europa-Aufenthalts (ab 1978) und seiner Kontakte zu therapeutischen Einrichtungen häufig mit Formen internalisierter Unterdrückung (wie Selbstzweifel, Einsamkeit, Kontaktarmut, Kommunikationsschwierigkeiten usw.) konfrontiert wurde, entwickelte er seit Mitte der 1980er Jahre Methoden, bei denen die (inneren) Konflikte des einzelnen Subjekts ins Zentrum des Spiels rückten. Diese sog. ,prospektiven‘ (auslotenden) und ,introspektiven‘ (nach innen gewandten) Techniken fasste Boal dann ab 1990 – auch in Buchform – unter dem Namen RdW zusammen.

Solche Techniken wollen unter Beteiligung der gesamten Gruppe subjektive Wahrnehmungen, Erlebnisse, Interessen, Konflikte oder Blockaden ausloten, die (vermeintlichen) Erwartungen des sozialen Umfelds kritisch in Betracht ziehen und Beziehungsmuster aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchten. Der Protagonist soll durch das eigene Spiel wie durch Beobachtungen und szenische Beiträge seiner Mitspieler (ZuschauSpieler) Anregungen erfahren, die eigene Sicht zu differenzieren, verschüttete Ressourcen aufzuspüren, Bedürfnisse klarer zu formulieren und alternative Verhaltensstrategien zu erproben. Blinde Flecke im eigenen Selbstbild können so ausgeleuchtet und eingeschliffene Rituale überprüft werden. Dabei geht es nicht um vorschnelle Lösungen, sondern um das Erkennen der Muster, aufgrund derer bisherige Lösungen scheitern. Die ‚new techniques‘ aus dem RdW sind jedoch nicht nur für Gruppenprozesse, sondern  auch  für  eine  Theater und Rollenarbeit geeignet, die den körpersprachlichen Ausdruck differenzieren oder die Annäherung an eine Bühnenfigur durch identifikatorische Spielweisen erleichtern will (vgl. auch Ruping 61ff.).

Bei den auslotenden Methoden ragen insbesondere die Techniken ,Bild und Gegenbild‘, ,Kaleidoskopbild‘ und ,Rashomon‘ heraus. Allen drei Übungsformen ist gemeinsam, dass sie die Perspektive des Protagonisten durch die Assoziationen, Visionen und Aktionen der übrigen ZuschauSpieler erweitern wollen.

Die introspektiven Techniken sind komplexer und zielen eher auf den Problemkern. So präsentiert beim ,Analytischen  Bild‘  der  Protagonist  einen Alltags-konflikt, zu dessen Lösung er – rückwirkend betrachtet – gerne auf eine andere Weise beigetragen hätte. Die ZuschauSpieler demonstrieren anschließend Haltungen, die sie im Spiel des Protagonisten beobachtet haben. Dieser wählt aus den verschiedenen Varianten die ihm adäquat erscheinenden Haltungen für die im Anschluss erfolgende Re-Improvisation der Szene aus, wobei die Mitspieler darauf achten, dass er dabei nicht wieder auf die unerwünschten Verhaltensweisen zurückgreift.

Bei der Übung ,Regenbogen der Wünsche‘, die der Sammlung an neuen Übungen auch den übergeordneten Namen gab, hat der Protagonist die Möglichkeit, seine diffusen Emotionen und Bedürfnisse zu ordnen. Dabei soll er mit Hilfe seiner Mitspieler – im Hinblick auf den zur Debatte stehenden Konflikt – das Spektrum seiner (zum Teil konfligierenden) Wünsche ausloten sowie sein zentrales Interesse erkunden. Dieser Klärungsprozess soll bewusstere und gezieltere Handlungsweisen ermöglichen, die im Rahmen erneuter Improvisationen erprobt werden können.

,Das Bild des Antagonisten‘ will innerhalb eines Konflikts den Blick für die Gegenseite, für den Antagonisten schärfen. Ausgangspunkt für die szenischen Improvisationen sind hier die Standbilder aller Akteure zu einem bestimmten Thema, die Assoziationen der Protagonisten zu ihren jeweiligen Gegenspielern sowie Ergänzungen der Mitspieler im Hinblick auf das Verhaltensrepertoire des Antagonisten.

Beim ,Polizisten im Kopf‘ richtet der Protagonist – ausgehend von gegenwärtigen Blockaden im Umgang mit anderen – den Blick auf sein soziales Umfeld oder seine Vergangenheit. Konkrete Personen oder Repräsentanten von Institutionen (wie Verwandte, Freunde, Lehrer, Priester), die die Umgangsweise mit einer Problemkonstellation offenbar beeinflussen, sollen aufgespürt und in eine räumliche Konstellation gebracht werden. Dabei soll sich der Protagonist bei der erneuten szenischen Auseinandersetzung auf einer surrealen Ebene mit den blockierenden oder störenden Instanzen auseinandersetzen – auch mit Hilfe der Mitspieler, die als Antikörper oder Hilfs-Ich agieren. Dieses Format ist zweifellos das intensivste innerhalb der neuen Techniken. Seine Anwendung sollte ausschließlich unter  der  Anleitung  einer  erfahrenen  Spielleitung erfolgen und der zur Debatte stehende Konflikt weder den Hauptakteur noch die mitspielende Gruppe überfordern.

Viele der neueren Techniken Boals können auch im Rahmen einer künstlerisch ausgerichteten thp Arbeit mit Gewinn eingesetzt werden. So lassen sich  einige der prospektiven Bilder-Techniken hervorragend nutzen zur Differenzierung der körpersprachlichen Mittel, während die introspektiven Methoden Anregungen bieten bei der Annäherung an eine Bühnengestalt über analoge biographische Aspekte. Es ist daher nicht verwunderlich, dass Boal Ende der 1990er Jahre bei seiner Arbeit mit der britischen Royal Shakespeare Company vorrangig auf Techniken aus dem RdW zurückgegriffen hat.

Die Techniken der RdW sind zur Zeit noch in der Erprobungsphase. Daher gibt es nur wenige veröffentlichte Rückmeldungen über ihren konkreten Einsatz. Aufgrund ihrer Komplexität erscheinen sie für den Rahmen routinierter thp Prozesse nur bedingt geeignet, zumal sie sich bei der bloßen Lektüre nur schemenhaft erschließen. Ausgehend von eigenen Erprobungen des Autors im Bereich der Hochschuldidaktik (Germanistik und Sozialpädagogik) sowie im Rahmen der Fortbildung von Multiplikatoren (Schwerpunkte: Gewaltprävention, Konfliktmanagement und Rollenarbeit) wird aber deutlich, dass sich die neuen Techniken – bei behutsamem und gruppenadäquatem Einsatz – sowohl für Prozesse der Selbsterforschung und intensiven Kommunikation in Gruppen hervorragend eignen als auch für eine auf das innere Erleben abzielende Theaterarbeit.

Boal, Augusto: Theater der Unterdrückten. Übungen und Spiele für Schauspieler und Nicht-Schauspieler. Frankfurt 1. 1989; Ders.: Der Regenbogen der Wünsche. Methoden aus Theater und Therapie. Bearb. v. Jürgen Weintz. Seelze-Velber 1999; Ders.: Legislative theatre. Using performance to make politics. London 1999; Feldhendler, Daniel: Psychodrama und Theater der Unterdrückten. Frankfurt a. M. 1992; Ders.: Augusto Boal und Jakob Levy Moreno. Theater und Therapie. In: Ruping 1991; Gorius, Maria/Weintz, Jürgen/Wilkens-von Hein, Friederike: Mut zur Demokratie. Über eine Multiplikatorenfortbildung zu den neuen Boal-Techniken. In: Korrespondenzen, 2002, H. 40; Institut für Jugendarbeit des Bayrischen Jugendrings in Gauting (Hg.): Theater macht Politik. Die Methoden des Theaters der Unterdrückten in der Bildungsarbeit. Gauting 1995; Neuroth, Simone: Augusto Boals Theater der Unterdrückten in der pädagogischen Praxis. Weinheim 1994; OffTheater (Hg.): Der Regenbogen der Wünsche. Videoprotokoll eines Workshops mit Augusto Boal zu den neuen Techniken. VHS-Format. Neuss 2000; Ruping,  Bernd (Hg.): Gebraucht das Theater. Die Vorschläge von Augusto Boal. Erfahrungen, Varianten, Kritik. Lingen, Remscheid 1991; Ruping, Bernd/Weintz, Jürgen: Das Theater der Unterdrückten ist wirklich Theater. In: Korrespondenzen, 1999, H. 34; Thorau, Henry: Augusto Boals Theater der Unterdrückten in Theorie und Praxis. Rheinfelden 1982; Ders.:   Durch   Millionen   Mikrorevolutionen   die Makrorevolutionen der Zukunft vorbereiten. Augusto Boals Theater der Unterdrückten und J. L. Morenos Psychodrama. In: PsychoDrama, 1991, H. 1; Weintz, Jürgen: Theaterpädagogik und Schauspielkunst. Ästhetische und psychosoziale Erfahrung durch Rollenarbeit. Butzbach-Griedel 2002; Wilckens-von Hein, Friderike/Gorius, Maria: Der Regenbogen der Wünsche. Die ‚neueren‘ Techniken Augusto Boals in der theaterpädagogischen Praxis. In: Korrespondenzen, 2002, H. 41; Zeitschrift für befreiende Pädagogik der Paulo-Freire-Gesellschaft. Es braucht Mut, glücklich zu sein, 1995, H. 10.

JÜRGEN WEINTZ

Kommunikation – Playback Theatre – Psychodrama