Wörterbuch der Theaterpädagogik (erschienen 2003)

Reformpädagogik

R bezeichnet eine breite Offensive zwischen Kinderpsychologie und Kulturkritik für die Erneuerung der Erziehung, die um 1890 mit einer radikalen Schulkritik einsetzte, nach 1918 auch neu erschlossene pädagogische Handlungsfelder, insbesondere die Sozialpädagogik und die Volksbildung, bestimmte und 1933 mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten tendenziell  beendet wurde.

R artikulierte sich in verschiedenen europäischen Ländern, aber auch in den Vereinigten Staaten als Programm für eine Neue Erziehung, die die Entwicklung des Kindes und das Recht auf ein Eigenleben der Jugend zum Ausgangspunkt erzieherischen Handelns machte.

Der pädagogische Aufbruch im letzten Drittel des 19 Jhs. hatte zwei Wurzeln: Zum einen wurde die R stark durch die neue Kinderpsychologie und die experimentelle Pädagogik beeinflusst, die eine Fundamentalkritik am didaktischen Materialismus, den Methoden der Lehrerfrage, des Memorierens und am pädagogischen Drill begründete. Die Eigentätigkeit der Schüler sowie die Berücksichtigung der Entwicklungsabhängigkeit der geistigen Arbeit sollten dagegen die Grundprinzipien einer erneuerten Pädagogik werden.

Die andere Wurzel der reformpädagogischen Offensive, die kultur- und lebensreformerisch inspirierte Kritik der gesellschaftlichen Modernisierung, nahm die Entfremdungszwänge der modernen Arbeits- und Lebensverhältnisse in den Blick. Mit dem künstlerischen Expressionismus suchte die Kunsterziehung die Erneuerung der Kultur in den vitalen Potenzialen der verschütteten Persönlichkeit. Der verflachenden Tätigkeit des Verstandes müssten das Gefühl, die Phantasie und die irrationalen Kräfte des Menschen übergeordnet werden, so Julius Langbehn, der mit seinem Buch Rembrandt als Erzieher (1890) neben Ellen Key (Das Jahrhundert des Kindes, 1900) zu einem der wichtigsten Stichwortgeber der R  wurde.

Bereits vor dem Krieg, verstärkt aber nach 1918, wurde die stark expressionistische, persönlichkeitspädagogische Ausrichtung der Pädagogik ,vom Kinde aus‘ durch eine ausgeprägte Gemeinschaftsorientierung relativiert. Die Erfahrung des verlorenen Krieges spielte hier ebenso eine Rolle wie das Eindringen ehemaliger Jugendbewegter in die pädagogischen Berufe.

Ungeachtet der großen Unterschiede zwischen den einzelnen reformpädagogischen Konzepten lassen sich doch gemeinsame pädagogische Prinzipien identifizieren: Die neue Pädagogik sollte vom Kind ausgehen und im Vertrauen auf seine Entwicklungspotenziale die Entfaltung seiner schöpferischen Potenziale unterstützen. Als formale Bildungskonzeption ging es ihr in erster Linie um die Entwicklung von generellen Fähigkeiten und weniger um die Vermittlung eines bestimmten stofflichen Korpus. Die Eigenaktivität des Kindes im Lernprozess, die Anschaulichkeit der Präsentation, der Anregungsgehalt des Lernmaterials und die kreative, künstlerische und handwerkliche Arbeit standen im Mittelpunkt. Und schließlich wurde mit dem Einfluss der Jugendbewegung die bildende Wirkung der Gemeinschaft betont.

Entlang der skizzierten pädagogischen Grundprinzipien lassen sich fünf zentrale methodische Innovationen unterscheiden: Kunsterziehung: Die Kunsterziehungsbewegung begann als Reform des Zeichen- und Werkunterrichts. Als Mentor der Kunsterziehung gilt der Direktor der Hamburger Kunsthalle, Alfred Lichtwark. Stand zunächst die Erziehung zur Genussfähigkeit im Vordergrund, so wurden mit der Ausweitung auf den Deutschunterricht, Musik, Gymnastik und Tanz auch zunehmend die schöpferische Aktivität des Kindes betont.

Selbsttätigkeit und Selbsterziehung: Die Pädagogik ,vom Kinde aus‘ hatte den didaktischen Grundsatz begründet, dass es darum gehe, die in der kindlichen Persönlichkeit im Keim enthaltenen Kräfte durch eine zurückhaltende, unterstützende Pädagogik zu lösen und zu entfalten. Maria Montessori hat diesen didaktischen Grundsatz im Prinzip des ,bildenden Spiels‘ verdichtet. Die Entwicklung und Ausdifferenzierung zunächst der allgemeinen Empfindungsfähigkeit, später der kognitiven Kompetenz, wird durch das Angebot entsprechenden Materials angeregt.

Arbeitsschule: Im Mittelpunkt der Arbeitsschulkonzeption steht die Tätigkeit des Kindes und der Ernsthaftigkeitscharakter der Lernaufgabe. Differenzen zeigen sich allerdings bei einer genaueren Betrachtung des Arbeitsbegriffs: War für die Konzeption des Leipziger Lehrervereins die Förderung der kognitiven Entwicklung durch Aktivierung zentral, so stellte Georg Kerschensteiner die praktische, handwerkliche Tätigkeit in den Mittelpunkt, und Hugo Gaudig akzentuierte die selbsttätige geistige Erarbeitung von Bildungsgütern. Jenseits dieser Differenzen unterschieden sich die deutschen Arbeitsschulkonzeptionen wiederum deutlich von der Erziehung zur industriellen Produktion, wie sie Pawel P. Blonskij propagierte. Parallelen zur Arbeitsschule lassen sich auch in der Pädagogik Célestin Freinets  finden,  in  der  Dalton-Plan-Methode Helen Parkhursts oder in der Projektmethode John Deweys und William H. Kilpatricks.

Gesamtunterricht: Mit dem Gesamtunterricht verbindet sich eine fundamentale Kritik am fächerspezifischen und lehrplangebundenen Unterricht. Gesamtunterricht knüpft an die natürlichen Interessen und Initiativen des Kindes an und bezieht seinen heimatlichen Lebensraum ein. Das Fragerecht des Kindes und das Gespräch mit Kindern waren Grundprinzipien der Arbeit Berthold Ottos. Einen anderen Akzent setzte der Leipziger Lehrerverein, der seit 1911 in zahlreichen Versuchsklassen ein Konzept des gebundenen, d.h. systematisch geplanten Gesamtunterrichts praktizierte.

Gemeinschaftserziehung: Dem gemeinschaftlichen Arbeiten und Lernen wurde eine erzieherische Wirkung sui generis zugesprochen. Die Landerziehungsheime von Hermann Lietz, die Freien Schulgemeinden Gustav Wynekens, die Jena-Plan-Pädagogik Peter Petersens, die Hamburger Gemeinschaftsschulen, die neue Sozialpädagogik und die ,neue Richtung‘ in der Volksbildung, alle stellten die bildende und versittlichende Wirkung der Gemeinschaft ins  Zentrum.

Nachdem die Geschichtsschreibung der R lange von der Deutung Herman Nohls beherrscht wurde, legten differenzierte historische Einzelstudien die Einseitigkeit von Nohls Kanonisierung und seines Phasengesetzes der pädagogischen Bewegung offen. Die kritische Rekonstruktion verschiedener reformpädagogischer Konzeptionen und Leitbegriffe (Gemeinschaft, Volk, Leben) aus dem Kontext der antimodernistischen Kulturkritik und Lebensreform hat auch die These vom vollständigen Abbruch der R im Jahre 1933 in Frage gestellt und die subpolitische Färbung verschiedener Ansätze deutlich gemacht (vgl. Rülcker u. a.). Die Datierung der R auf den Zeitraum zwischen 1890 und 1933 wird insbesondere von Jürgen Oelkers mit dem Argument, dass moderne Pädagogik schon immer R gewesen sei, in Zweifel gezogen (vgl. Oelkers). In Abgrenzung zu Oelkers weist Heinz-Elmar Tenorth allerdings auf die zentrale Bedeutung der modernisierungsinduzierten Zäsur um 1890 hin. Diese habe erst zur Ausbildung einer zentrale Probleme der modernen Gesellschaft bearbeitenden R geführt (vgl. Tenorth). Die Erforschung der pädagogischen Reformoffensive zwischen 1890 und 1933 ist noch lange nicht abgeschlossen. Sowohl im Hinblick auf die konkrete Unterrichtspraxis als auch auf die programmatische Selbstverortung der Aktivisten im zeitgenössischen Reformdiskurs liegen bislang nur wenige Einzelstudien vor.

Depaepe, Marc: Zum Wohl des Kindes? Pädologie, pädagogische Psychologie und experimentelle Pädagogik in Europa und den USA 1890–1940. Weinheim 1993; Nohl, Herman: Die pädagogische Bewegung in Deutschland und ihre Theorie. Frankfurt a. M. 1988; Oelkers, Jürgen: Reformpädagogik. Eine kritische Dogmengeschichte. Weinheim, München 1989; Rülcker, Tobias/Oelkers, Jürgen (Hg.): Politische Reformpädagogik. Bern u. a. 1998; Scheibe, Wolfgang: Die reformpädagogische Bewegung. Eine einführende Darstellung. Weinheim, Basel 1994; Tenorth, Heinz-Elmar: Geschichte der Erziehung. Einführung in die Grundzüge ihrer neuzeitlichen Entwicklung. Weinheim, München 1988.

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