Wörterbuch der Theaterpädagogik (erschienen 2003)

Puppentheater

Abgesehen vom P als Institution wird mit dem Begriff P hier eine spezifisch theatralische Form kultureller Kommunikation (Taube 20f.) bezeichnet, die durch besondere Tätigkeiten von Personen (Puppenspieler) mit gewissen als Puppen zu bezeichnenden Gegenständen bestimmt ist. Da Puppe (von lat. pupa: Mädchen, Puppe) nur plastische Figuren bezeichnet, wird in der Forschung zunehmend der Terminus F verwendet. Die besonderen Tätigkeiten verwirklichen sich vor allem im Vorstellen des Gebrauchs oder der Funktion von Puppen (Figuren) und ihren Eigenschaften, d. h. im direkten Handeln der Träger des Puppenspiels wie im (in)direkten Handeln der Rezipienten mit Puppen.

Gegenüber anderen Zielfeldern kultureller Kommunikation (wie etwa Schauspiel, TV-Spiel, Hörspiel) wirkt im P die Erkenntnis von der sinnbildenden Funktion der Kommunikation für die Verknüpfung eines stofflichen, leblosen Gegenstandes (ein Plastikspielzeug, Apfel, eine Büchse usw.) mit der lebendigen, subjektiven Tätigkeit des Puppenspielers (vgl. Kavrakova-Lorenz 231). Im Ergebnis dieser Verknüpfung (Animation) entsteht ein Bild bzw. eine erlebbare subjektbezogene Figur, die weder mit dem Gegenstand, noch mit dem Spieler identisch, sondern ein Anderes ist, das in der Vorstellung des Rezipienten wirkt und im Kommunikationsprozess weiteren Sinn erfährt. Auf die Eigenart dieser Tätigkeiten wird rekurriert, um einen möglichst weiten Gegenstandsbereich zu erschließen. In der Folge stellt das P in der künstlerischen Kommunikation nur einen Aspekt dar, und es können noch andere Aspekte im pädagogischen (rhetorischen und/oder rehabilitativen) Kontext betrachtet werden. Damit erweist sich das Handeln mit der Puppe nicht als Endziel des Kommunikationsprozesses, sondern als Medium eines gemeinsamen humanen Anliegens, einer Intention, eines handlungsleitenden Interesses.

Im Theaterbereich wird noch allgemein unterschieden zwischen dem ,reinen P‘, dem ,multimedialen‘ Theater der Schauspieler und Puppen sowie einem Theater der Mischformen, in dem u. a. Puppen als darstellerisches Element verwendet werden (vgl. TrilseFinkelstein u. a. 703).

In der künstlerischen Kommunikation bedeutet P, (1.) dass der (oft) text(re)produzierende Spielende – im „Prozess der Verlebendigung im Vorfeld der Sinngebung“ (Kavrakova-Lorenz 232) – Gegenstände als Material gebraucht; (2.) dass der Spieler ihnen und ihren Eigenschaften Bewegung, (unmittelbar oder medienvermittelt) Sprechausdruck, gar ,Haltung‘ verleiht; (3.) dass der Spieler die Puppe gewissermaßen in ein ,Subjekt‘ umwandelt, das Zeichen gibt und (4.) dass diese ,Umwandlungsfähigkeit‘ (ebd. 233) Sinnbildung bewirkt.

„[…] diese seltsamen Bewegungen, diese feinen oder schnarrenden Puppenstimmchen, die denn doch wirklich aus ihrem Munde kamen – es war ein unheimliches Leben in diesen kleinen Figuren, das gleichwohl meine Augen wie magnetisch auf sich zog“ (Storm 323). Die emotional kommunikative Bereitschaft der Rezipienten wird aktiviert, auf das Puppenspiel einzugehen, und es werden ihnen besondere Phantasieleistungen abverlangt. Kann sich ein Rezipient der Puppe selbst, der Puppe und den Bewegungen, der Puppe und der Melodie noch verweigern, so fällt das beim Zusammenwirken von Puppe und Sprechausdruck schwer; hier ist die tägliche Notwendigkeit – in dialogische Prozesse zu treten – so groß, dass sich dem kaum jemand entziehen kann. In welchem Maße das gelingt, hängt mit von den künstlerischen Fähigkeiten und Fertigkeiten des Puppenspielers ab, die Eigenart der Puppenbewegung und die dem Text innewohnenden Denkbewegungen  auch  im  Sprechen auszudrücken, d.h. seine Spielrolle(n) sprecherisch zu differenzieren und auch flexibel zu gestalten (vgl. Barthel 28ff.).

Goethe (49) hat in seinen Kinderjahren erlebt, wie vielseitig die Anregungen sind, die von der Beschäftigung mit dem P ausgehen: „[…] so hat doch diese kindliche Unterhaltung und Beschäftigung auf sehr mannigfaltige Weise bei mir das Erfindungs- und Darstellungsvermögen, die Einbildungskraft und eine gewisse Technik geübt und befördert, wie es vielleicht auf keinem andern Weg in so kurzer Zeit, in einem so engen Raume, mit so wenigem Aufwand hätte geschehen können“. Tatsächlich befähigt der mediale Charakter der Puppe das Kind etwa zu praktisch-sinnlichen Tätigkeiten als modellbildende. Dazu gebraucht das Kind einen Gegenstand (Puppe, Figur) auf besondere Weise, indem es den – mit spezifischen Funktionen für die ,Quasi-Realität‘ seines Spieles – ,thetisch‘ ausstattet (vgl. Kavrakova-Lorenz 237). Mit den Gegenständen erleben Kinder so ganze Lebensräume oft sehr emotional und sind dabei Denkspieler und (oft) ,Sprechspieler‘ (vgl. Geißner 57).

Auch PädagogInnen sollten hier die Imagination – gebildet aus den eigenen, angelesenen oder den übernommenen Erfahrungen – als „Erlebnispotential dieser (Rollen-)Spiele“ (Steinmann 216) anerkennen und sie für die Entwicklung in der rhetorischen Kommunikation (Gesprächs- und Redefähigkeit) von Kindern und Jugendlichen häufiger nutzen. In der rehabilitativen Kommunikation wird von einer Mutter-Kind-Behandlung berichtet, in der versucht worden ist, Konflikte zwischen Mutter und Kind mit Hilfe des P zu lösen (Deidenbach zit. bei Fiedler u. a. 214f.). Eltern können hier tatsächlich lernen, wie Situationen spielerisch herstellbar sind, in denen das sprachauffällige Kind ohne Anspannung spricht. Wie in künstlerischen Aufführungen und Sprechspielen lässt sich P so gestalten, dass Anforderungen an das Hören, Hörverstehen und Hörhandeln sowie an das Sprechdenken des Kindes sukzessiv verändert und gesteigert werden: Vorlesen, Nachsprechen, Mitsprechen, Fragen, Informieren, Klären, Streiten; Sprechausdruck.

Innerhalb der künstlerischen Kommunikation verfügt das P über einen großen Stil-, Themen-, Formen- und Technikbereich, der vom Kasper-Theater bis zur Darstellung weltliterarischer Stoffe, von der Varieté-Nummer bis zur Oper, vom Schattenbis zum MaskenTheater reicht und sich oft vermischt, so dass es mitunter schwierig ist, eine genaue Bestimmung des P im Ensemble der gesellschaftlichen und kommunikativen  Entwicklung vorzunehmen.

Die Anfänge des wahrscheinlich aus Persien importierten europäischen Handpuppenspiels, bei dem die meist nur aus Kopf und Körper bestehende Puppe von den Fingern des Spielers bewegt wird, belegen den volksnahen Charakter dieser Gattung. Im Mittelpunkt der seit dem 17. Jh. regelmäßig auf Messen und Jahrmärkten auftretenden kleinen Ensembles steht die lustige Person, die Pulcinella in Italien, der Polichinelle in Frankreich, der Punch in England, der Jan Klaassen in Holland, der Tschantees im Flämischen. In Deutschland wird der Meister Hämmerlein vom italienisch beeinflussten Putschenelle, dem Pickelhäring und dem Hans Wurst abgelöst, die im 18. Jh. zu beliebten Helden von rund 30 fahrenden Ensembles erwachsen. Um 1800 übernehmen die P den von Johann Laroche im Wiener Volkstheater  geschaffenen  Kasperl,  für  den  Franz Graf Pocci in der zweiten Jh.hälfte Stücke von literarischem Rang schreibt. Im 20. Jh. wird die Schöpfung der 1921 von Max Jacob gegründeten ,Hohnsteiner Puppenspiele‘ in Hartenstein/Erzgebirge, der mit seinem gemütvollen Humor oft nachgeahmte Kasper, zur erfolgreichsten Handpuppenfigur in Deutschland.

Nach dem 2. Weltkrieg ist das P auch für Erwachsene (zunächst in der DDR) von breiter Bedeutung. Unter dem Eindruck der künstlerischen Erfolge des 1931 in Moskau geschaffenen Staatlichen P von Sergej Obraszow sind – neben einigen privaten – in mehreren Städten (darunter Berlin, Dresden, Gera, Halle/S., Magdeburg,  Naumburg,  Wittenberg  und Zwickau) staatliche P eingerichtet worden. Besonderes Interesse erfuhr hier u. a. das Staatliche P Neubrandenburg Ende der 1970/80er Jahre, das mit überregional beachteten Inszenierungen für Erwachsene (u. a. Heiner Müllers Die Umsiedlerin) hervortrat; aus diesem P erwuchs in den 80er Jahren auch die erste freie Theatertruppe der DDR,  Zinnober.

In der BRD sind erst seit den 1970er Jahren größere Aktivitäten auf dem Gebiet des P zu verzeichnen. Seitdem sorgt das Entstehen zahlreicher kleiner und kleinster Häuser für eine Vielfalt von Spielformen (vgl. Sucher 169f.).

Das moderne Theater ist vom P in seinen verschiedenen Ausprägungen auf vielfache Weise beeinflusst worden; andererseits hat das moderne P zahlreiche Anregungen vom Theater empfangen und weiter ausgebildet (vgl. Brauneck u. a. 815). Inzwischen vereint das P ,multimedial‘ Produktions- und Darstellungsweise mehrerer künstlerischer und künstlerisch-technischer Disziplinen; d. h. modernes P „[…] organisiert und verknüpft alle anderen Ausdrucksformen bzw. Künste zu einer ganzheitlichen kommunikativen Gestalt mit synergetischer Beschaffenheit und ästhetischer Funktion“ (Kavrakova-Lorenz 231).

Mit der künstlerischen Aufwertung des P geht die Bemühung um seine organisatorische Förderung und Sicherung einher. Gegenwärtig sind die Puppenspieler in nationalen (u. a. ,Deutscher Bund für Puppenspiel‘,,Verband Deutsche Puppentheater‘) und internationalen Vereinigungen (,Union Internationale des Marionettes‘; seit 1969 ,Union Internationale de la Marionette‘) organisiert. In zahlreichen Ländern existieren spezielle Publikationsorgane, Forschungseinrichtungen (z. B. das ,Deutsche Institut für Puppenspiel‘), Spezialsammlungen (u. a. in Dresden, München, Detroit, Lyon und Moskau) und es gibt eine Ausbildung an Fach(hoch)schulen für Puppenspieler.

Barthel, Henner: Puppenspiel und Sprechen. In: Haase, Martina/Meyer, Dirk (Hg.): Von Sprechkunst & Normphonetik. Hanau/Halle (Saale) 1997; Brauneck, Manfred/ Schneilin, Gérard (Hg.): Theaterlexikon, Bd. 1. Reinbek 2001; Fiedler, Peter/Standop, Renate: Stottern. Weinheim 1994; Geißner, Hellmut: Sprechen. In: Schoch, Agnes u.a.: Grundlagen der Schauspielkunst. Hannover 1965; Goethe, Johann Wolfgang v.: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. In: Trunz, Erich (Hg.): Johann Wolfgang v. Goethe. Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bdn., Bd. 9. München 1988; Kavrakova-Lorenz, Konstanza: Das Puppenspiel als synergetische Kunstform. In: Wegner, a.a.O.; Kleist, Heinrich v.: Über das Marionettentheater. In: Brandt, Helmut (Hg.): Kleists Werke in 2 Bdn., Bd. 1.Weimar 1961; Obraszow,  Sergej  W.:  Was  und  Wie  im  Puppentheater.

Leipzig 1974; Steinmann, Peter K.: Figurentheater – Totales Theater. In: Wegner, a.a.O.; Storm, Theodor: Pole Poppenspäler. In: Goldammer, Peter (Hg.): Storms Werke in 2 Bdn., Bd. 1. Weimar 1963; Sucher, C. Bernd (Hg.): Theaterlexikon, Bd. 2. München 1996; Taube, Gerd: Puppenspiel als kultur-historisches Phänomen. Tübingen 1995; Trilse-Finkelstein, Jochanaan Ch./Hammer, Klaus (Hg.): Lexikon Theater International. Berlin 1995; Wegner, Manfred (Hg.): Die Spiele der Puppe. Köln  1989.

HENNER BARTHEL

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