Wörterbuch der Theaterpädagogik (erschienen 2003)

Prozess und Produkt

Das Begriffspaar enthält einen markanten Widerspruch und ist in den 1970er Jahren, als sich die neue Spiel- und ThP konstituierte, Kern einer thp Debatte gewesen, die nicht ohne Polemik geführt wurde. Die Orientierung an den PuP der Theaterarbeit war mitunter eine Frage der Ausschließlichkeit. Das hatte mit dem sozial- und gesellschaftskritischen Anliegen einer neu antretenden Generation zu tun, die sich von einem am Spielplan der Stadttheater orientierten Schul – und  Amateurtheater  abzusetzen  suchte. Unter dem Einfluss soziologischer, sozialpsychologischer oder auch gesellschaftspolitischer Theoreme wie der Rollentheorie, des Interaktionismus, der Gruppendynamik oder auch der Gesellschaftstheorie des Marxismus formierte sich die Spiel- und ThP z. T. programmatisch unter dem übergeordneten Begriff der Interaktionspädagogik und verstand Spiel und Theater als Experimentier- und Lernfeld von sozialem und gesellschaftlichem Verhalten: „Theaterspielen wird heute bei der Kenntnis der Entwicklung des Kindes, der Interaktionsprozesse in unserer Gesellschaft, der Konflikte und ihrer Lösungschancen einzusetzen haben.“ (Klewitz u. a. 13) Diese Debatte um PuP blieb nicht auf die Spiel- und ThP beschränkt. Die Aufwertung der Qualität von Prozessen wirkte auch in die Schauspielausbildung und in das professionelle Theater hinein und veränderte dort die Arbeits- und Aufführungsformen. Entscheidende Impulse kamen wiederum auch aus dem professionellen Theater selbst, vor allem aus Ansätzen in den USA, in denen – wie etwa beim Living Theatre – Lebensformen und politische Aktionen in der Gesellschaft sich mit ästhetischen und nicht zuletzt theatralen Ausdrucksformen mischten.

Unter dieser Schicht der Debatte lag noch eine ältere aus Zeiten der deutschen Laienspielbewegung. Das Begriffspaar ,Spiel und Theater‘ stammt aus dieser Schicht der Debatte. Hier wurde nach Spielaltern unterschieden, welche Altersstufen eher in Spielprozessen für sich und welche schon in Aufführungen vor einem Publikum zu agieren imstande seien (vgl. Haven). Das dahinter stehende Prinzip hat in Lehrplänen und Curricula der Schulen seinen Niederschlag gefunden, galt aber auch für den außerschulischen Bereich und bildet sich begrifflich z. B. in der Unterscheidung zwischen Schulspiel und Darstellendem Spiel ab. Auch hier herrschte zu Zeiten wechselseitige Polemik – nicht zuletzt über die ästhetische oder auch pädagogische Kompetenz der Beteiligten. Andererseits blieb die aufführungsorientierte Seite des Darstellenden Spiels oder des Schultheaters nicht unbeeinflusst von den Entwicklungen und Ergebnissen der sozial- und gesellschaftspolitischen  Debatte.

Der Gegensatz von PuP ist aber bereits im älteren Laienspiel der Weimarer Zeit aufzufinden (vgl. Mirbt).  Er  wird  hier  gesehen  in  den  ästhetischen Konventionen des Berufstheaters und seiner Produkte gegenüber den menschen- und gemeinschaftsbildenden Wirkungen des Laienspiels. Aber auch innerhalb der älteren Laienspielbewegung selbst ist der Gegensatz wirksam – so in den eher auf die Spielgemeinschaft gerichteten Intentionen Rudolf Mirbts und der formbewussten Theaterpraxis Martin Luserkes. Schließlich spielt dieser Widerspruch in der Sache auch schon in den frühen mittelalterlichen Passionsspielen eine Rolle, die von einer gesamten Stadtbevölkerung und durch die ganze Stadt hindurch aufgeführt wurden. Hier kann man einerseits von einem dominierenden Prozesscharakter sprechen, andererseits handelt es sich auch wiederum um die gemeinsame Produktion jährlich wiederkehrender großer Theaterereignisse. Am eindeutigsten erscheint der Widerspruch heute in der Gegenüberstellung von Berufstheater, das seine Produktion an ein Publikum verkauft, und den neueren Formen des angewandten Spiels oder Theaters, die dies ausdrücklich nicht tun, sondern Erfahrungs- und Lernprozesse der Beteiligten zum Ziel haben – wie Rollen- und Planspiele,  das  Managementtraining  oder  das Psychodrama.

Die Polarität von PuP erscheint vor allem als ein Gegensatz von psychosozialem Prozess und ästhetischem Produkt. Auch der 3. Internationale Kongress Spielpädagogik der aita/iata 1978 auf der Begegnungsstätte Scheersberg bei Flensburg setzte an diesem Punkt an, musste aber einsehen, dass das Problem so nicht in allen Dimensionen zu erfassen ist. Entwicklungen in den anderen Künsten, etwa die Diskussion und Infragestellung des Werkcharakters in der Kunst, die Entstehung neuer ästhetischer Aktionsformen wie Happening  oder  Performance  in  der  Bildenden Kunst, die Aleatorik in der Musik oder die >Improvisation generell: Hier erscheint der Widerspruch im Kunstereignis selbst. Das Theater muss sich zu diesem Zweck nicht erst neu definieren; es ist in sich sowohl Prozess als auch Produkt, und das eine nur durch das andere.

Löst man den Produktbegriff von der Aufführung ab, an die er üblicherweise gebunden ist, so zeigt sich, dass es auf der ästhetischen Ebene von Theaterarbeit immer um Produkte geht – von der komplexen Form der Aufführung über einzelne szenische Vorgänge bis hin  zu  Details:  einem  Situationsbild,  einer  Geste, einem Tonfall. Andererseits bleibt auch dem ausgeformtesten Produkt der Prozesscharakter immanent. Stanislawski spricht im Titel seiner beiden Grundlagenwerke zur Arbeit des Schauspielers an sich selbst vom ,Prozess des Erlebens‘ bzw. ,Prozess des Verkörperns‘ und  hat  diese  Prozesse  ähnlich  wie  auch  Michail Cechov, Strasberg oder – unter anderen Aspekte > Brecht  auch  Eugenio  > Barba  eingehend analysiert. Diese Prozesse betreffen keineswegs nur die Probenphase, sondern steuern die Abläufe schauspielerischer  Produktion überhaupt.

Dass die Entstehung von PuP im Theater sich wechselseitig bedingt, gründet letztlich darin, dass der „Schauspieler in zwiefacher Gestalt auf der Bühne“ steht (Brecht GW 16, 683), dass er sein eigenes Instrument und sein eigenes Material ist. Das zwingt ihn zu einem „zwiespältigen Dasein“ (Stanislawski 289) und zu einem fortlaufenden Prozess der Balance „zwischen Leben und Spiel“ (ebd.) oder zwischen den Aktionen des Spielers und denen seines Produkts: der Bühnenfigur. Für Brecht ist dieser Prozess gar ein ,Kampf‘, in dem „einander feindliche Vorgänge […] sich in der Arbeit des Schauspielers vereinigen“ (Brecht GW 16, 683). Cechov versteht ihn als Dialog zwischen dem ,schöpferischen Ich‘ und dem ,geschaffenen Charakter‘, der ,Rollengestalt‘ (vgl. Tschechow 79ff.). Erst die Tatsache, dass innerhalb der Produktion von Schauspielern solche Prozesse ablaufen, macht ihre Produkte für den Zuschauer betrachtenswert, denn sie regt ihn zu eigenen Produktionsprozessen an. Sie bedeuten nicht zuletzt auf beiden Seiten das Wiederaufleben psychischer und sozialer Erfahrungen und ihr Aufscheinen im ästhetischen Produkt. Damit wäre die ursprüngliche Polarität wiederhergestellt, allerdings als notwendiger Wechselbezug: Jede ästhetische Tätigkeit zehrt von den wirklichen Erfahrungen und zieht aus ihnen ihre Kraft und ihre Wirkung. Das Betrachten stimuliert und verbindet sie. Nur dies begründet, dass Akteure wie Zuschauer auch über die eigentliche Aufführung hinaus Erfahrungen sozialer und gesellschaftlicher Art machen können.

Für die Spielund ThP liegt dieser Wechselbezug im Zentrum der Aufmerksamkeit. Da es hier in der Regel um Produktionsprozesse von Gruppen geht, sind es gerade auch die sozialen Beziehungen in diesen Gruppen, die im ästhetischen Produkt aufscheinen und so bearbeitet werden. Nickel hat 1978 für den o.g. Kongress Spielpädagogik ein offenes mehrfunktionales Beziehungsdreieck zwischen Gruppe–Sache–Vermittlung entwickelt, das die ursprüngliche Polarität in drei Fixpunkte und die Prozesse zwischen ihnen auflöst. Es wird deutlich, wenn man für die Sache z. B. ,Formen des Spiels und des Theaters‘, für die Gruppe die ,Akteure‘ und für die Vermittlung die ,Aufführung vor Publikum‘ setzt. Für Nickel zielt eine gute spiel- und thp Praxis auf ein ausbalanciertes Verhältnis der drei Elemente. Das eigentliche spiel- und thp Produkt wäre dann dieses Gleichgewicht. Aber natürlich könnte auch jeder einzelne Eckpunkt zum Zielpunkt werden und Produktcharakter annehmen: neben der  Produktion für andere auch die Untersuchung von Formen des Spiels oder Theaters, ein Thema oder die Entwicklung der Gruppe selbst. Darüber hinaus lässt sich aus Nickels Beziehungsdreieck ableiten, dass die Polarität zwischen PuP abstrakt bleibt, wenn sie nur linear als Bezug zwischen Spiel oder Theaterarbeit und Aufführung gedacht wird. Thp gedacht verläuft sie auf einem Umweg über mehrere Ecken und bildet sich dort jeweils neu und anders aus. In den Prozessen zwischen den Eckpunkten des Beziehungsdreiecks ereignet sich, auch wenn es immer um Produkte oder letztlich um eine Aufführung geht, das Eigentliche. Ein thp Modell, das diese Fragen sozusagen dialektisch behandelt und löst,  ist  das  Lehrstück,  wie  es  sich  ,auf  Anregung Bertolt Brechts‘ (vgl. Steinweg) in den letzten Jahrzehnten entwickelt hat. Es setzt auf Prozesse zwischen den Spielern und steuert sie über Produkte – Textmuster und Modelle szenischer Aktion wie Haltungen, Gesten, Situationsbilder. Es stellt sich dem gesellschaftlichen Sachverhalt und bearbeitet ihn als Theater; es sucht den Zuschauer in der Spielgruppe selbst auf oder bezieht ihn von außen als Publikum ins Spiel ein.

Barba, Eugenio: Bemerkungen zum Schweigen der Schrift. Schwerdte 1983; Brecht, Bertolt: Gesammelte Werke. Frankfurt a. M. 1967; Haven, Hans: Darstellendes Spiel. Düsseldorf 1970; Klewitz, Marion/Nickel, Hans-Wolfgang (Hg.): Kindertheater und Interaktionspädagogik. Stuttgart 1972; Mirbt, Rudolf: Laienspiel und Laientheater. Kassel 1960; Nickel, Hans-Wolfgang: Spiel-, Theater-, Interaktionspädagogik. Recklinghausen 1978; Ritter, Hans Martin: Prozesse – Produkte. In: Ders. (Hg.): Spiel- und Theaterpädagogik als Modell. Berlin 1990; Stanislawski, Konstantin S.: Die Arbeit des Schauspielers an sich selbst im Prozeß des Erlebens, Bd. 1. Berlin 1980; Steinweg, Reiner: Auf Anregung Bertolt Brechts. Lehrstücke mit Schülern, Arbeitern, Theaterleuten. Frankfurt a. M. 1978; Strasberg, Lee: Ein Traum der Leidenschaft. München 1988; Tschechow, Michael: Werkgeheimnisse der Schauspielkunst. Zürich 1979.

HANS  MARTIN RITTER

Ausbildung – Experiment – Geschichte der Pädagogik – Interaktion – Konstruktivismus – Modellspiel / Modellstück – Off-Theater – Reformpädagogik – Theater als öffentliche Institution – Unternehmenstheater – ZuschauSpieler