Wörterbuch der Theaterpädagogik (erschienen 2003)

Playing Arts

PA ist die Verbindung von Kunst und Leben durch Spiel. Spiel wird hier im Sinne von Bewegung verstanden (playing im Unterschied zu game, gamble, perform und act). Die im Namen angesprochenen Künste meinen durchaus alle Vorstufen der Kunst (arts wie in martial arts im Unterschied zu fine art). PA ist gattungsübergreifend, ist eine Spielbewegung, die sich als ästhetische Selbstbildung versteht. Ohne direktive Anleitungen geht es um das selbstbestimmte Aufnehmen der eigenen Spur in Wechselbeziehung mit anderen. Die Einzelnen schaffen in diesem Prozess immer wieder stimmige Formen, um sie in Wechselspielen, wie dem Performance PARC, miteinander zu teilen und auszutauschen. Durch die Rückmeldungen auf die Wechselspiele entstehen weiterführende Ideen. Die Entfaltung des Eigenen endet nicht mit der gemeinsamen Spielsituation, sie setzt sich fort und führt zu eigenen Praxisvorhaben in den jeweiligen Lebens- und Arbeitssituationen.

Merkmale von PA-Prozessen sind: (1.) Freiwilligkeit: Nur was ich selbst will, beflügelt mich und führt zu motiviertem Engagement; (2.) Zweckfreiheit: Nur ohne Zweckbindungen kann sich Spiel in seiner Ursprünglichkeit entfalten; (3.) Offenes Ende: Das kreative Abenteuer des Spiels kann erst entstehen, wenn man nicht weiß, was dabei herauskommt; (4.) Autonomie: Spiel ist unverfügbar, lässt sich weder erzwingen, noch verhindern, ähnlich wie Träume, Kunst, Liebe, Spiritualität; (5.) Teilhabe: Die Playing Artists, ebenso wie die Mentoren, setzen sich selbst immer wieder aufs Spiel, sind selbst schöpferisch handelnd tätig und zeigen etwas davon.

PA entstand aus dem Dialog von Kunst und Spiel, der seit Mitte der 1980er Jahre im Rahmen der spiel- und thp Ausbildung der AG Spiel in der Ev. Jugend und dem Burckhardthaus Gelnhausen unter Federführung von Christoph Riemer aufgenommen wurde. Claude Debussys Motto „Ein Kunstwerk schafft Regeln, aber Regeln schaffen noch kein Kunstwerk“ führte zur Befragung moderner und zeitgenössischer Kunstwerke.

Im Dialog mit Benedikt Sturzenhecker und anderen entwickelte sich die Konzeption und Praxis der internationalen ,Sommerateliers‘ in Gelnhausen. Im Reizklima von Kunst und Kultur entstanden – gattungsübergreifend – bemerkenswerte Prozesse und Ergebnisse, egal, welche Vorkenntnisse vorhanden waren. Die Impulse des ,Neuen Lernens‘, wie sie Reinhard Kahl in seinen Filmen Das Schwinden der Sinne (1992),

Lob des Fehlers (1995) oder auch in Die Dritten kommen – eine Schule erfindet sich neu (2001) schildert, öffnen für Workshops, Ateliers, Laboratorien den Weg zu ästhetischen Selbstbildungsprozessen. Vor allem beeindruckte die Vielfalt und der Eigen-Sinn der am Ende entstandenen Praxisvorhaben. Zusammen mit dem Institut für Spielforschung und Spielpädagogik an der Universität Mozarteum/Salzburg, insbesondere durch das Engagement von Rainer Buland und der AG Spiel, wird seit 1997 jährlich der PA-Award durch eine Fachjury vergeben.

Ob nun für wenige Stunden, einen ganzen Tag, ein Wochenende oder mehrere Tage – PA-Prozesse gehen meist von folgenden Schritten aus: (1.) Impulsfeld: Aus der Aktualität von Musik, Film, Video, Theater, Tanz, Literatur, bildender Kunst, Performance, neuen Medien – aber auch durch Materialien und technische Hilfsmittel – werden kurze Beispiele wie auf einem Markt vorgestellt, besser ,zelebriert‘. (2.) Resonanzpunkte aufspüren: Die Teilnehmenden sind ermuntert, eigene Resonanzpunkte im Vorgestellten aufzuspüren, aber ebenso, ,blitzartige Einfälle‘ zu notieren, die in direkter Zusammenhangslosigkeit zu stehen scheinen. Jede/jeder stellt seine eigenen ,Zutaten‘ zusammen. (3.) Die eigene Spur aufnehmen: Aus den Resonanzpunkten kristallisiert sich (im Dialog mit anderen) der Einstieg in das eigene ästhetische Handeln heraus, wie bei der Ausgangsidee für die Zubereitung eines Essens. (4.) Eine stimmige Form schaffen: Mit dem, was man kann, was man kennt und worauf man neugierig ist, beginnt das schöpferische Spiel im ästhetischen Handeln. Was herauskommt, ist oft anders als geplant, wie beim Herstellen einer Speise. (5.) Das Entstandene im Wechselspiel mit anderen teilen: Auch wenn der Prozess eine zentrale Rolle spielt (und nicht das Produkt): Um das erlebte Spiel mit anderen teilen zu können, wird in Zeichenhandlungen oder performativen Gesten etwas aus dem schöpferischen Prozess ins Wechselspiel mit anderen gebracht. Am Performance PARC sind alle Teilnehmenden beteiligt, treten mit ihren wiederholbaren performativen Gesten in Wechselbeziehungen, reagieren mit den jeweiligen Zeichenhandlungen aufeinander. Das komplexe Feld des gemeinsamen schöpferischen Handelns wird ansatzweise deutlich. In Aktion und Reaktion, in den Wiederholungen, im teilnehmenden Beobachten schwingt etwas von der Gemeinsamkeit, die zwischen den Einzelprozessen entsteht. Wenn es gelingt, wird daraus etwas ,Drittes‘, das mehr ist als die Addition der Einzelspiele. (6.) Rückmeldungen führen zu neuen Impulsen: Im Anschluss an den Performance PARC werden gegenseitig Rückmeldungen gegeben, um das ästhetische Handeln zu erweitern. Fremdwahrnehmungen öffnen und ergänzen die Selbstwahrnehmungen und es entstehen weiterführende Ideen und Impulse (was wäre mein nächster Schritt?). Diese reflexive Aneignung ist notwendiger Bestandteil von PA-Prozessen. (7.) Wortreihungen/Gruppentexte: Am Ende solcher Gespräche besteht die Möglichkeit, den eigenen schöpferischen Weg noch einmal abzuschreiten, um Wörter, die dabei direkt und indirekt auftauchten, zu sichten und sich für einen Begriff zu entscheiden. In freier Reihenfolge werden die Wörter des Tages mitgeteilt und am Ende als Gruppentext noch einmal verlesen. Solche Wortreihen dokumentieren sowohl die Einzelprozesse als auch das Gruppengeschehen. Dieser Bogen verweist in der Regel auf weiterführende Impulse, um den nächsten Schritt der eigenen Spur aufzunehmen.

Hinzu kommen ,Querschüsse‘ aus der Aktualität der Künste. Dieser ,kalkulierte Zufall‘ führt häufig zu verblüffenden Koinzidenzen. Selbst das aktuelle TV-Programm, wie in ,Kulturzeit‘ auf 3sat (einer täglich neuen Kultursendung) passt zum Teil beeindruckend genau zu den PA-Prozessen.

Die Mentoren regen Parallelprozesse an und begleiten sie. Manchmal ist es notwendig zu ermutigen, manchmal zu klären und manchmal zu bremsen. Häufig geht es um ganz praktische Fragen, um Materialbeschaffung bzw. was man macht, wenn das Gewünschte nicht zu bekommen ist. Die offenen schöpferischen Prozesse führen dazu, dass die Teilnehmenden häufig eigenständig und vergnügt ihren Dingen nachgehen und keinen Beratungsbedarf haben. In diesen Zeiten sind die Mentoren mit eigenen Spielvorhaben befasst, die sie auch den anderen zeigen. Die Mentoren sind so als selbst spielende Menschen sichtbar und setzen sich immer wieder aufs Spiel.

Je nach Zeitumfang steht am Ende der Spielprozesse die Möglichkeit, den aufgenommenen Weg noch einmal abzuschreiten, anhand von Spuren, entstandenen Formen, Aufzeichnungen usw. Diese Sammlungen von Spuren werden wechselseitig wahrgenommen und befragt, z. B. nach der Grunddynamik und nach Schlüsselmomenten. Daraus lässt sich die Frage entwickeln: Wie spielt das eigene Spiel? In einem nächsten Schritt führt dies zu Übertragungsmöglichkeiten auf die eigene Alltagspraxis. Der Gruppe gegenüber formuliert der/die Einzelne ein anschließendes selbstgewähltes Spielvorhaben. Es werden Verbündete gesucht, um sich gegenseitig zu unterstützen, um Zeitpunkte zu verabreden, das Entstandene auszutauschen und zu ,zelebrieren‘. Dabei ist das ,Lob des Fehlers‘ eine zentrale Kategorie, denn das riskierte Vorhaben, das nicht zu dem wurde, was man sich wünschte, ist genauso wichtig und richtig wie das geglückte.

Playing und Performing Arts: Das beschriebene Konzept ist gattungsübergreifend angelegt, es lässt sich auf Einzelfelder wie Tanz, Maske, Theater und Performance ebenso übertragen wie auf Bibliodrama. Zu dem Wechselspiel von Playing und Performing Arts wurden verschiedene Projekte im Burckhardthaus durchgeführt. Der Text wird ebenso zum Impulsfeld wie das Videobeispiel aus zeitgenössischer Theaterarbeit oder aus dem Zusammenhang der Performances. In diesem angereicherten Milieu spüren die Teilnehmenden ihre Resonanzpunkte auf, um in Spontanteams dafür spielend, experimentierend Formen zu entwickeln. Orientierung ist dabei nicht das klassische Regietheater, sondern sind szenische Montagen und Collagen. Sie entstehen aus den Improvisationen mit erarbeiteten Ausdrucksformen und inszenieren sich inmitten eines sich selbst bewegenden Energiefeldes. Die Publikumsbegegnungen am Ende zeigen, in welchem Maß eine für die Gruppe, den Text/das Thema und die Situation entsprechende Darstellungsform entstanden ist.

Wie sich PA derzeit organisiert: Als Spielbewegung steht die fortlaufende Veränderung durch das Er-Finden von Praxisvorhaben im Vordergrund. Die Idee wird ständig neu gefasst durch Reflexion von Projekten; das jährliche PA-Symposion ermöglicht die aktuelle ,celebration‘ dieser Spielbewegung. Wer sich mit eigenen wie gemeinsamen Spielvorhaben beteiligt, sich auf Merkmale von PA bezieht sowie an den Diskursen teilnimmt, wird legitimiert, sich für ein Jahr Playing Artist zu nennen. Dieser Titel kann jedes Jahr durch die Teilnahme am Symposion erneuert werden. Im Newsletter und auf der Homepage (www.playingarts.de) gibt es Anregungen, Hinweise und Erfahrungsaustausch. Das Internationale Sommeratelier ,PA Kitchen‘ am Burckhardthaus ist Ort der gattungsübergreifenden Versuche eigenen ästhetischen Handelns. In Langzeitprogrammen (über zwei Jahre) wird am Burckhardthaus die Praxis eigener und mit anderen zu entwickelnder Spielvorhaben erprobt. Seit 2002 ist PA eine geschützte Marke und wird von legitimierten VertreterInnen praktiziert. Eine Mentorenausbildung qualifiziert zur Begleitung von PA-Prozessen.

Riemer, Christoph/Sturzenhecker, Benedikt (Hg.): Das Eigene entfalten. Gelnhausen 2000; Dies. (Hg.): Playing Arts. Gelnhausen 2002.

CHRISTOPH  RIEMER

Ästhetische Bildung – Performance