Wörterbuch der Theaterpädagogik (erschienen 2003)

Modellversuche

M im engeren Sinn werden als Einzelvorhaben der grundlegenden bzw. differenzierenden Qualifizierung in der ThP aus den Bereichen Schule/Hochschule/ außerschulische Erwachsenenbildung, Einrichtungen/Verbände für ThP verstanden – mit dem Ziel der Erschließung neuer Wahrnehmungs- und Ausdrucksmöglichkeiten in Theater/Musik/Tanz/Neuen Medien und neuer Ausbildungsmodule für die künstlerische thp Arbeit. Die Maßnahmen-Träger sind in der Regel Zuwendungsempfänger mit klar vorgegebenen Aufgaben/Projektabläufen/Ressourcendispositionen/Evaluationsnachweisen, z. B. Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung, Landes-Ministerien für Wissenschaft/Forschung/Kultur/Schule, Forschungseinrichtungen/ Fördermittelträger des Bundes und der Länder/zentraler Verbände/Vereine der ThP für eine in der aktuellen Bildungspolitik verankerte, auf einen gezielten berufspraktischen Bedarf ausgerichtete innovative Maßnahme der Ausund Weiterbildung in ThP.

Im Folgenden werden M auch im weiteren Sinn verstanden als eine über gängige Regelstudienangebote (ThP als integriertes Teil-Angebot) hinausreichende zielgruppenspezifische Ausbildungs- und Forschungsmaßnahme mit innovativen Zielsetzungen und deren systemischer Erprobung. Darstellendes Spiel (DS)/ ThP braucht wie Kunst und Musik als wissenschaftlich-künstlerisches Fach einen universitären grundständigen Studiengang bzw. Zusatzstudiengang mit künstlerischen, fachwissenschaftlichen und fachdidaktischen Studieninhalten (interessant für verschiedene Ausbildungsrichtungen: Lehramt/Diplompädagogik/Kunstpädagogik/Bachelor/Magister, z. B. mit den Fächern Theater-, Film- und Medienwissenschaft), was organisatorische, finanzielle, personelle sowie curriculare und seminardidaktische Anstrengungen in M erforderlich macht. An der Schnittstelle Fachstudium/Forschung und theaterpraktische Arbeit ist es die vordringlichste Aufgabe der M, Modelle zu entwickeln, die den Einbau der ästhetischen Bildung in ein herkömmliches universitäres Studium bzw. erprobte Maßnahmen der beruflichen Qualifizierung/ Fortund Weiterbildung  fördern.

Die M können Auswirkungen auf die hochschuldidaktische Qualifikation der Dozenten zur Folge haben, da geeignete Lehr-, Lern- und Arbeitsformen zu entwickeln einen entscheidenden Teil der Versuchsanordnung ausmacht. Damit trägt der M auch zur Profilbildung des Trägers (Univ./FH u. a.) bei und vermag die Institution weiter zu  entwickeln.

Die vermittelten Qualifikationen berechtigen u.a. für eine Unterrichtstätigkeit im DS je nach den föderalen Vorgaben der Bundesländer für Schulstufe und Jahrgang, für Qualifikationen in unterschiedlichen thp Berufsfeldern.

M unterscheiden sich von regulären universitären Ausbildungsangeboten durch

offene Arbeitsstrukturen im Rahmen vorgegebener Ziele, vor allem der thp Theoriebildung;

ein enges Theorie-Praxis-Verhältnis, die Verknüpfung von Praxis- und Forschungsfeldern;

Interdisziplinarität als fächerübergreifende Prozesse und Produkte des Lehrens, Lernens und Gestaltens;

spezifische Lehr-, Lernund Gestaltungsformen, Projektarbeit, in der Regel im Team;

Praktika/Orientierung an M sind für Antragsteller attraktiv in ihrem klar von der Zeit, den Zielgruppen, den Ressourcen und dem Ausbildungspersonal her ausdefinierten Aktionsfeld mit einer offenen Erprobungsstruktur, die es erlaubt, Ziele/Methoden dem fortschreitenden Arbeitsprozess anzupassen und gegebenenfalls zu ändern (Flexibilisierung und Individualisierung).

Modularisierung (vertikal) bietet je nach Ausbildungsstand/feldspezifischer Erfahrung/persönlichem Interesse die Chance eines individuell zugeschnittenen Lern- und Qualifizierungsweges, in der Kombination von obligatorischen und freien Angeboten (im Besonderen:  Theorie  und  Praxis  der  Kommunikation/ Interaktion/Improvisation und des Kreativitätstrainings).

Die Kooperation verschiedener Ausbildungsträger (horizontal) erlaubt zusätzlich individuelle Schwerpunktbildungen im Bereich schulischer wie außerschulischer Handlungsfelder (z. B. Theater/Wirtschaft/ Erwachsenenpädagogik) mit Kindern/Jugendlichen/ Erwachsenen: mehrere Fachbereiche der Univ./FH; mehrere Hochschulen mit ihrem spezifischen Angebotsprofil; freie Ausbildungsträger im Verbund; Einbeziehen der regionalen/urbanen Kulturszene/der Theater; Internationalisierung, als Austausch von Ausbildungsmodulen mit Partner-Hochschulen/Verbänden, als Qualitätssicherung (bereits mit Skandinavien, den Niederlanden, England, USA: ,dramatic workshops/creative writing‘).

Die Ausbildungsangebote mit ihrer Breite von sich selbst tragenden Arbeitsgruppen eines überschaubaren ,Kreativhauses‘ bis zur Massenuniversität mit ausdifferenziertem Wissensmanagement setzen im Kern Selbststeuerung/Beweglichkeit der Studierenden/Zielgruppen voraus. Träger von Einzelvorhaben/Studienangeboten sind u. a.: Institut für Medien und Theaterwissenschaften, Universität Hildesheim: Projektsemester (seit 1992, jedes 2. Jahr, in allen künstlerisch-wissenschaftlichen Fächern: Theater/Film/Musik/Kunst/Populäre Kultur/ Literatur; u. a. 1994 Café Deutschland, 1996 Goethes Faust II, 1998 Neun Reisen: Theatertheorie szenisch und 2000 Babylon). Projekt als Lehrund Lernform in der Verschränkung von Theorie und Praxis, mit einer Vorbereitungsphase (wissenschaftlich/künstlerisch, 1–2 Jahre im Voraus), einer Produktionsphase (Spiel/Kulturorganisation/Seminararbeit), der Aufführungs- und Nachbereitungsphase (u. a. Projektdokumentation).

Entwicklung und Erprobung eines Studiengangs ThP, FH Osnabrück/Standort   Lingen   (als Vollzeitstudium 4semestrig, als Teilzeitstudiengang 6semestrig, seit 1998; 79 SWS, Diplomprüfung): Auf die vielschichtigen Bedürfnisse der sozialpädagogischen, schulischen, amateurtheatralen Berufsfelder bezogene Ausbildung in den Essentials der ThP, mit Verzahnung der Lernbereiche  in Projekten.

ThP als Instrument des sozialen Lernens, Forschungsprojekt der FH Osnabrück (Institut für ThP, Lingen, 2000–2002) zur Entwicklung und Erprobung des Zusatzstudiengangs ThP. Die erarbeiteten Daten dienen der wissenschaftstheoretischen wie fachdidaktischen Grundlegung des Studiengangs und damit den Einsatz- und Entwicklungsmöglichkeiten der ThP in schulischen/soziokulturellen Praxisfeldern.

Verbund Braunschweig (HBK/TU)/Hannover (Univ./HS für Musik und Theater)/Hildesheim (Univ.): Teilstudiengang DS für das Lehramt an Gymnasien (Erweiterungsprüfung, 4semestrig, 64 SWS/ grundständiger Stg., 8semestrig, ab WS 2002/2003), mit einer regionalen Aufteilung nach Schwerpunkten. Universität Greifswald: M Darstellen und Gestalten (1998)/HS für Musik und Theater Rostock (4semestrig, 30 SWS). Der M des Landes/der BLK sollte der Verankerung einer grundlegenden theaterübergreifenden ästhetischen Handlungskompetenz als Persönlichkeitsbildung der Schüler dienen (vgl. Golpon u. a. 51ff.). Vgl. dazu den als Verbund mit Greifswald geplanten Studiengang Spielund ThP an der LudwigMaximilians-Univ. (LMU) München, der dann 1993– 2002 als interdisziplinärer Studienschwerpunkt Spiel- und ThP des ITW/PI geführt wurde, sowie das neu eingerichtete Erweiterungsstudium Darstellendes Spiel an der Univ. Erlangen-Nürnberg (ab WS 2002/2003, 4semestrig, 44 SWS), für Studierende vor/nach Erwerb der Lehramtsbefähigung aller Schularten/Fächerverbindungen und für Lehrer.

An der LMU München ist ab WS 2002/03 ein 4semestriges Erweiterungsstudium Darstellendes Spiel für Studierende aller Lehrämter/LehrerInnen geplant, mit einem Studienplan (Fachpraxis/-theorie/-didaktik/ Praktikum).

Die Univ. Frankfurt a. M. baut ein Weiterbildungsangebot ThP auf (4semestrig, 48 SWS).

Im schulischen/außerschulischen Bereich sind beispielhaft zu nennen:

TPZ Hannover/IGS Mühlenberg/Kulturamt Hannover: Wege – Drogi (1997), ein deutsch-polnisches Kinderkulturprojekt, als interkulturelles Lernen. Gemischte  deutsch-polnische  Kleingruppen erarbeiten z.B. eine interaktive begehbare Ausstellung (Ein Reisetag). Weitere Projekte: Die gefährlichste Zeit im Leben (Internationales Jugendprojekt 2000), Nathan der Weise mit israelischen und arabischen Jugendlichen, Kafkas Verwandlungen (2002/03) als Identifikationsobjekt und Projektionsfläche. Vgl. auch einen der ersten umfassenden M Herkommen – Hingehören (Kultusministerium Thüringen/Hessen; BMBWFT 1996–98): Schulische und außerschulische Ost-West-Theatergruppen bereiten szenisch ihre unterschiedlichen politisch-gesellschaftlichen wie persönlichen Assoziationen auf mit den inzwischen wohlvertrauten Differenzierungen nach dem ästhetisch-künstlerischen Bereich (außerschulisch) und den sozialisationsorientierten Zielsetzungen (schulisch).

Verbände/Vereine/Interessengruppen bieten eigenständige, zielgruppenspezifische FBund WB-Lehrgänge/Kurse an; etwa die ,Landesarbeitsgemeinschaften für Darstellendes Spiel‘ in den Bundesländern. Beispiel: Die dreijährige berufsbegleitende thp Grundausbildung zum Spielleiter in Baden-Württemberg, flächendeckend von Reutlingen bis Ulm, mit einem Praxisprojekt im 3. Jahr; umfassend der ,Bundesverband Theaterpädagogik e. V. ‘ (BuT Köln), etwa mit dem Sozialkulturprojekt Domino – Zivilcourage im Rampenlicht auch als Multiplikatorenfortbildung in internationalen workshops zu Gewalt, Rechtsextremismus u.a. Voraussetzungen/ Zielgruppen: In der Regel erweisen sich heterogene Zielgruppen, z. B. aus unterschiedlichen Studiengängen (Lehrer/Studierende der Pädagogik/Theaterwissenschaft/Sozialpädagogik/ Kunst/Schüler der Erprobungsschulen) als sehr produktiv, denn sie haben die Chance, sich zu ergänzen, zur Reflexion der eigenen Praxis im Vergleich anzuregen.  Synergieeffekt:  Zugangsprüfungen  dienen der Selbsteinschätzung/der grundsätzlichen Eignung. Umfang/Inhalte/Aufbau:  Verankerung  der  Spielpraxis in fachwissenschaftliche (Kommunikationswissenschaft/Theaterwissenschaft/Kulturwissenschaften u. a.), fachdidaktische und pädagogische Grundlagen ist unverzichtbar, wenn auch die Motivation zu eigener künstlerischer Gestaltung vorherrschend ist. In meist modularer Form werden die wissenschaftlichen, künstlerischen und methodisch/organisatorischen Anteile je nach Ausbildungsprofil gewichtet: Fachwissenschaft/Fachpraxis/Fachdidaktik (auf der Grundlage der Bildungskonzeption des BuT und des Kerncurriculums ThP der BAG Spiel und Theater. Dabei werden neue Bedürfnisse und damit innovative Erprobungs- und Forschungsvorhaben fokussiert: So soll beispielhaft das FP bei der FH Osnabrück ThP als Instrument des sozialen Lernens sinnliche Erkenntnisprozesse im/durch Spiel in der Schule erkunden; über das szenische Spiel im Dienst von Soziallernleistungen bis hin zum Theaterspiel als szenischer Sozialforschung hinaus spielt die Analyse des zentralen Subjektbegriffs eine entscheidende Rolle: ,Subjektentgrenzung‘ im Sinne  einer  offenen  Erlebnishaltung  und   damit ,Gegenwartsidentität‘ als spezifische Erfahrung ästhetisch-theatraler Gestaltungsmomente. Ausgangspunkt des FP ist dennoch die ästhetische Funktion der Theaterarbeit, die jedoch offen konzipiert ist, in der intersubjektiven Suche nach theatraler Stimmigkeit.

Lehr- und Lernformen/Projekt-Ablauf: Mischformen aus theoriegeleiteter Praxis/praxisgeleiteter Theorie wurden projektspezifisch erprobt: Seminare/Vorlesungen mit Praxisanteil; interdisziplinäre Projekte; theaterpraktische Ausbildung; Praktika in verschiedenen thp Handlungsfeldern. Eigeninitiative, Selbstorganisation und Selbstqualifizierung sind hier gefragt. Projektarbeit im schulischen/außerschulischen Bereich kostet sehr viel Zeit und Energie, die beteiligten Jugendlichen setzen sich nicht nur mit dem Thema/ mit eigenen Ideen auseinander, sondern erfahren sich – wie auch ihre Partner – neu und anders. Gespräche, Diskussionen, intensive Stellungnahmen wie Recherchen aktivieren die Teilnehmenden in der gemeinsamen Arbeit am Projekt und nutzen damit einen Freiraum der Selbstgestaltung.

Evaluation/Qualitätssicherung: In der Regel sichern Zertifikate die Effizienz/Qualität/Nachhaltigkeit der Ausbildung/der Projektarbeit. Prüfungen/Abschlüsse testen die erforderlichen Fach-, Gestaltungs- und Vermittlungskompetenzen: z. B. ein Teilnahmezertifikat mit Mindestanforderungen an die aktive Mitarbeit; eine wissenschaftliche Prüfung (Klausur, mündliche Prüfung) für die Fach-Qualifikation; Präsentation eines Spiel-Projekts mit schriftlichem Konzept/Kolloquium.

Probleme in der Hochschul-Ausbildung sind u. a.: Bewegung, Aufbruch, Kampf um neue Studiengänge in ThP sind den M zu verdanken, deren gebündelte Schubkraft zur Etablierung und Verstetigung der thp Ausbildung wesentlich beitragen. Sie ermöglichen es, Erfahrungen und Erkenntnisse zu sammeln. Abstimmung der Ausbildungseinheiten innerhalb des Modulsystems nach obligatorischen Angeboten/Kursen/Seminaren und frei wählbaren Ausbildungseinheiten (freie Träger/weitere Hochschulinstitute) machen eine individuelle Bedarfsanalyse/Selbsteinschätzung in thp Theorie/Praxis notwendig. Dabei können große  zeitliche Abstände zwischen den Ausbildungseinheiten anfallen (Semesterferien/Bündelung nach Wochenenden u. ä.).

Eine Balance zwischen eigener spielpraktischer Arbeit, Fachtheorie und pädagogisch-didaktischer Grundlagenarbeit muss gewährt bleiben: die ,Praxisgier‘, die Forderung nach verwertbarem Spiel-Knowhow (z. B. Stückangebote) ist sehr groß, die konkrete Umsetzungsarbeit in die Unterrichtspraxis in thp Berufsfelder in der Regel gering ausgeprägt (eher bei Studierenden/Ablehnung von ,Vorlesungen‘; Theoriemüdigkeit bei Berufserfahrenen/Lehrern usw.).

Probleme im schulischen/außerschulischen Bereich: M leben stark von ihrer Aktualität und ihrem Zeitbezug – daher können sie einem kurzlebigen Kontext aufsitzen und in ihrer Problematik rasch veralten (z. B. Ost-West/Umwelt/Dritte   Welt).

Als Desiderat bleibt eine kategorienbezogene empirische Erschließung und Aufbereitung der bisher realisierten M als Zwischenbericht des Qualifikations- und Diskursstandes in ThP wie vor allem als Motivationshilfe für eine flächendeckende M-Antragsstrategie für anstehende Innovationen in ThP (Beispiel: ThP und die neuen Medien. Vgl. die 4 CD-ROM des BLK-Projekts Spiel- und Theaterpädagogik multimedial an der LMU München,  2000–2002).

Bundesverband Theaterpädagogik. Bildungskommission. Entwurf und Redaktion Bernd Ruping, Harald Schneider. In: Korrespondenzen, 1994, H. 19/20/21; Golpon, Hedwig/Prinz, Susanne (Hg.): Darstellen und Gestalten. Berlin, Milow 1998; Hentschel, Ulrike/Koch, Gerd: Kerncurriculum Theaterpädagogik. In: Korrespondenzen, 1995, H. 23/ 24/25.

GERHARD LIPPERT

Ausbildung – Didaktik – Geschichte der Pädagogik – Hochschuldidaktik – Lebensbegleitendes Lernen – Lernen und Theater – Management – Methodik – Spielleitung – Theaterarbeit in sozialen Feldern