Wörterbuch der Theaterpädagogik (erschienen 2003)

Modellspiel / Modellstück

Das M-spiel gehört in den Zusammenhang Brechtscher Theaterkonzeptionen der letzten Jahre. In einem Gespräch über Politische Programme (1956) erwähnt Brecht „kleine mobile Truppen […], die Programme einstudieren könnten […], kleine Sachen […] möglichst mit örtlichen Themen, über Schwierigkeiten an den Orten selber“ (zit. n. Hecht 175). Partner wäre ein einheitliches, z. B. „nach Arbeitstätigkeiten zusammengesetztes Publikum“ (GW 16, 736). Manfred Wekwerth hat diese Vorstellung weiter entwickelt und neben Vermittlungsformen wie der Historie, der Parabel, der Clownerie die des M-spiels beschrieben: „Das wichtigste Individuum ist der Zuschauer selbst. Seine Initiative ist der Auslöser der Veranstaltung und seine praktische Aktivität die Folge. […] Das Modellspiel könnte sich mit Fragen einzelner Betriebe befassen, mit neuen Stücken und Vorgängen, aber es könnte auch alte Stücke als Modelle für bestimmte Fragen vorführen.“ (Wekwerth 346f.)

In manchem ist das M-spiel Wekwerths ein Entwurf dessen, was Augusto Boal mit dem Forumtheater entwickelt und praktiziert hat. Die Grundstruktur ist ähnlich: Eine Protagonistengruppe steht einer Zuschauergruppe gegenüber, das Stück – ,scheinbar konventionelles Theater‘ – wird vorgespielt und unter Anteilnahme der Zuschauer verändert, z. B. durch neue Konfliktlösungen, durch Übernahme von Protagonistenfunktionen und die Demonstration von Verhaltensvarianten. Diese Beteiligung folgt bestimmten Spielregeln und spielleitenden Impulsen der Schauspieler (vgl. Boal 56f. u. 82f.). Unterschiede liegen im Spielsystem und in der Funktion der Modellszene (Boal) oder des M-stücks. Das M-stück ist nicht so sehr auf Konfliktlösung ausgerichtet, ebenso wenig ist es Vorbild im Sinne des Lernens am Modell. Der Modellbegriff orientiert sich vielmehr an dem, was Brecht in seiner Erörterung des ,K-Typus und P-Typus‘ mit dem Modell des ,Planetariums‘ (gegenüber dem des ,Karussells‘) beschreibt (vgl. GW 16, 540ff.): M-stück und Mspiel untersuchen vor allem: „theater nur für lehrzwecke, einfach die bewegungen der menschen (auch der gemüter der menschen) zum studium modelliert, das funktionieren der menschlichen beziehungen gezeigt, damit die gesellschaft eingreifen kann“ (AJ/ 12. 2. 39). Das rückt das M-spiel und das M-stück in die Nähe des > Lehrstücks. Die dort von Brecht geforderte Rolle „hochqualifizierter Muster“ für die Nachahmung und „die Kritik, die an solchen Mustern durch überlegtes Andersspielen ausgeübt wird“ (GW 17, 1024) gilt hier exemplarisch – für das dramaturgische Muster des Mstücks ebenso wie für das spielerische Muster der Schauspieler.

Das M-spiel setzt ein qualifiziertes Schauspielerensemble voraus, das mit Institutionen und gesellschaftlichen Gruppen kooperiert und unabhängig ist von kommerziellen Zwängen. Während der bundesweiten Modellversuche Künstler und Schüler (1976– 1980) – nach niederländischen und englischen Vorbildern – waren diese Bedingungen im Organisationsrahmen von Schulen kurzzeitig gegeben. An das Mspiel angelehnte Versuche gab es in Berlin, Bremen und Köln. Institutionalisiert wurden das MOKS-Theater in Bremen und das Werkstatt-Theater Köln. Auch im Rahmen des Faches ,Schulspiel‘ an der ehemaligen Pädagogischen Hochschule Berlin (heute: Institut für Theaterpädagogik an der Universität der Künste Berlin) gab es diese Ansätze. In mancher Hinsicht lassen sich auch Aktivitäten mobiler Kindertheatertruppen, die Vorführ- und Mitspieltheaterelemente verbinden, als M-spiele im weiteren Sinn verstehen.

Berliner Modellversuch Künstler und Schüler. In: Das Projektebuch. Berlin 1979; Boal, Augusto: Theater der Unterdrückten. Frankfurt a. M. 1979; Brecht, Bertolt: Arbeitsjournal. Frankfurt a. M. 1973; Ders.: Gesammelte Werke. Frankfurt a. M. 1967 [GW]; Der Bundesminister für Bildung und Wissenschaft (Hg.): Modellversuch ,Künstler und Schüler‘. Abschlußbericht. BMBW-Werkstattberichte. Bonn 1980; Hecht, Werner (Hg.): Brecht im Gespräch.  Frankfurt 1973 M. 1975; Ritter, Hans Martin: ,Aus Nichts wird nichts‘. Textmaterial nach einem Fragment von Bertolt Brecht. In: Steinweg, Reiner (Hg.): Auf Anregung Bertolt Brechts: Lehrstücke mit Schülern, Arbeitern, Theaterleuten. Frankfurt a. M. 1978; Ders.: Modellstück – Modellspiel. Versuche mit Masken. Berlin 1980; Wekwerth, Manfred: Schriften. Arbeit mit Brecht. Berlin 1973.

HANS  MARTIN RITTER

Interaktion  –  Lehrstück  –  Lernen  und  Theater  – Mitspiel(theater) – Übungsfirma – Unternehmenstheater – ZuschauSpieler