Wörterbuch der Theaterpädagogik (erschienen 2003)

Märchen

Das Volks-M hat heute Einzug gehalten in beinahe alle Bereiche der Kultur – von der Literatur bis zur Pop-Musik, von der Werbung bis zum satirischen Comic. Subtile Adaption, triviale Verballhornung und platter merkantiler Missbrauch liegen bruchlos nebeneinander und verweisen auf die Präsenz von M bzw. M-motiven im öffentlichen Bewusstsein.

Die Forschungsliteratur (volkskundliche, literatur-, sprach- und medienwissenschaftliche, strukturanalytische, psychologische, pädagogische, theologische, philosophische, sozialhistorische) ist heute nur noch von Spezialisten zu überblicken. Die Enzyklopädie des Märchens stellt das umfassendste, den neuesten Forschungsstand repräsentierende Nachschlagewerk zu allen relevanten Fragen der M-forschung dar. Die von Bolte/ Polívka 1913 bis 1932 edierten Anmerkungen zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm geben einen umfassenden Überblick über weltweit verbreitete Varianten der Grimmschen M. Das zweibändige Märchenlexikon von Walter Scherf gibt Auskunft über die wichtigsten Erzähltypen der europäischen und außereuropäischen M.

Die 1956 gegründete Europäische Märchengesellschaft (EMG), mit fast 3 000 Mitgliedern in den 1990er Jahren zu einer der größten literarischen Vereinigungen Deutschlands angewachsen, führt in ihren jährlichen (internationalen) Kongressen und Tagungen Fachleute und Enthusiasten zusammen und stellt ein Diskussionsforum zu aktuellen Tendenzen der Mund Erzählforschung dar. Die von der EMG initiierten Seminare und Fortbildungskurse, in denen die Erzählausbildung einen zentralen Platz einnimmt, verbindet theoretische und erzähl-praktische Aspekte der Auseinandersetzung mit dem Volks-M.

Die M-Stiftung Walter Kahn, die z.Z. insbesondere pädagogisch intendierte M-Projekte fördert, gibt den Märchenspiegel, eine Vierteljahreszeitschrift für internationale M-Forschung und -pflege, heraus und vergibt jährlich den Walter-Kahn-Preis an Personen und Institutionen, die sich auf wissenschaftlichem oder künstlerischem Gebiet besondere Verdienste um das Volks-M erworben haben, sowie den Lutz-Röhrich-Preis für herausragende studienabschließende Arbeiten auf dem Gebiet der Erzählforschung und/oder  M-kunde.

Im Rahmen der ThP nimmt das M einen bevorzugten Platz im Darstellenden Spiel mit Kindern ein. Dies erklärt sich aus seinen gattungsspezifischen Besonderheiten: Die Handlung ist einsträngig aufgebaut, entwickelt sich um einen meist existenziellen Konflikt, die Figuren sind Typen, keine differenzierten Charaktere und auf polare Handlungsstrategien festgelegt. In seiner Dramaturgie folgt das Volks-M beinahe obligatorisch dem von Gustav Freytag entworfenen Schema des klassischen Dramas: Exposition – erregendes Moment/Schürzung des Knotens – aufsteigende Handlung – Peripetie – absteigende Handlung – retardierendes Moment – Lösung. Damit lassen sich M in eine Abfolge von drei bis fünf Akten einteilen, die für Kinder in ihrer Überschaubarkeit gut gestaltbar sind. Der naive Umgang mit dem Wunderbaren macht logische Erklärungen oder Motivierungen verzichtbar; die Unbestimmtheit der Handlungsorte und -zeiten und deren abrupter Wechsel erlauben es, Wahrscheinlichkeit durch Phantastik zu ersetzen, die alle Überzeugungskraft für sich hat, weil sie nicht mit den Gesetzen der empirischen Realität in Übereinstimmung gebracht werden muss.

Das anthropomorphe Weltbild des M legt es nahe, alle Orte, Gegenstände und unter Umständen auch Requisiten von den Kindern selbst darstellen zu lassen; dies erleichtert die kreative Einbeziehung größerer Kindergruppen ins Spiel.

Thematisch gruppiert sich das M um zentrale Konfliktpotenziale, die mit der kindlichen Entwicklung korrelieren: Ablösung, Angst vor Liebesverlust und Versagen, Identitätssuche, Partnerbindung. Damit kann die Beschäftigung mit dem M für Kinder auch zur Aufarbeitung unbewusster Spannungen werden.

Im Rahmen der interkulturellen Erziehung bietet das M eine sinnvolle Möglichkeit des Vergleichs mit und der Integration von Sujets und Motiven aus fremden Kulturen.

Im schulischen und außerschulischen Bereich bieten sich die unterschiedlichsten Formen des kreativen Umgangs mit M an: Malen, Zeichnen, Druckund Collagetechniken,  Schatten-,  Figuren-,  Papier- und Tischtheater, Erzähl-, Masken- und Musiktheater, Klang- und Musikcollagen, Hörspiel, Vorlesen und textgebundenes oder freies Erzählen.

Bolte, Johannes/Polívka, Jirí: Anmerkungen zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm. 5 Bde. Hildesheim 1982; Born, Monika: Kognitiver und kreativer Umgang mit Märchen in Erziehung und Unterricht. In: jugendbuchmagazin, 1988, H. 4; Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung. Begr. v. Kurt Ranke. Berlin, New York (seit 1977), bisher 8 Bde.; Freytag, Gustav: Die Technik des Dramas. Stuttgart 1983; Mattenklott, Gundel: Kinder machen Theater. Berlin 1983; Meißner, Elisabeth: Wir spielen Märchen. Ethik und Theater. Leipzig 2002; Riemann, Sabine: Märchen und Spiel. In: Grundschule, 1995, H. 12; Röth, Dieter: Kleines Typenverzeichnis der europäischen Zauberund Novellenmärchen. Hohengehren 1998; Sahr, Michael: Um der Kinder und Märchen willen! Kallmünz 1995; Scherf, Walter: Das Märchenlexikon. 2 Bde. München 1995; [Themenhefte zum Umgang mit Märchen in der Schule:] Grundschulunterricht, 1994, H. 12 u. 1997, H. 3; Praxis Deutsch,47 u. 103; Deutsch in der Grundschule, 1999, H. 3; Die Grundschulzeitschrift, 2000, H. 134; Wardetzky, Kristin: Das Märchen als Spiel. In: Praxis Spiel + Gruppe, 1994, H. 4; Dies.: Erzählen und Darstellen. In: Mattenklott, Gundel/ Rora, Constanze: Arbeit an der Einbildungskraft. Praxis Musisch-Ästhetische Erziehung, Bd. 2. Hohengehren 2001; Dies./Zitzlsperger, Helga (Hg.): Märchen in Erziehung und Unterricht heute, Bd. 1. Rheine 1997. Bd. 2. Hohengehren 1997; Zitzlsperger, Helga: Kinder spielen Märchen. Weinheim, Basel 1994.

KRISTIN WARDETZKY

Kinder- und Jugendtheater – Phantasie – Puppentheater / Figurentheater