Wörterbuch der Theaterpädagogik (erschienen 2003)

Lampenfieber

Der Begriff L bürgerte sich Mitte des 19. Jhs. ein. Er stand zunächst für die Aufregung des Schauspielers, öffentlich aufzutreten. Man sagte vom Schauspieler, dass er vor die Lampen, d. h. auf die Bühne trete. Später weitete sich die Bedeutung des Begriffs L aus. Heute wird hiermit ganz allgemein die Aufregung bezeichnet, die mit einem öffentlichen Auftritt – sei es im Vorfeld oder währenddessen – verbunden ist (vgl. Paul 380).

L geht mit bestimmten körperlichen, emotionalen und kognitiven Reaktionsweisen einher: Herzklopfen, Zittern, ,weiche Knie‘, Schwindel, beschleunigte Atmung, Magenbeschwerden, Muskelverspannungen, Angst, Nervosität, Angespanntsein, Schlaflosigkeit, die Beeinträchtigung der Denk- und Konzentrationsfähigkeit sowie das Versagen der Stimme können charakteristische Symptome sein. Tarr-Krüger (16) definiert L als einen „von Angst und psychovegetativer Spannung und Unruhe geprägte[n] Zustand vor und auch noch während eines Auftritts“. L kann als quälend, aber auch als stimulierend erlebt werden. Ein entscheidender Faktor ist hier die Intensität bzw. das Erregungsniveau, das erreicht wird. Ist das L sehr stark, dann kann ein Auftritt zur Tortur werden: Aus der Angst-Lust (dem ,thrill‘) wird dann schlicht Angst oder sogar Panik, woraus mehr als nur ein emotionales Problem für den Betroffenen resultiert – starkes L hat eine kontraproduktive Wirkung; es kann verhindern, dass sich die Fähigkeiten eines Akteurs entfalten und zeigen können. Dies wiederum kann dazu führen, dass sich das herstellt, was befürchtet wird: zu versagen, durchzufallen – sich zu blamieren.

Der Schauspieler, der öffentlich auftritt, begibt sich in eine exponierte Position. Dies ist häufig wörtlich zu nehmen: Wer auf einer Bühne steht, der ist hervorgehoben und gut sichtbar; ein Effekt, der durch gekonnte Beleuchtung noch gesteigert wird. Wer auftritt, der tritt vor andere und hebt sich heraus. Im L kämpft der Akteur gegen die Risiken des Exponiertseins.

Naht ein Auftritt, so wird dieser oft unwillkürlich in Vorstellungen vorweggenommen. Der Akteur dreht gewissermaßen verschiedene Filme, in denen dieselbe Ausgangshandlung einen unterschiedlichen Verlauf nimmt. In manchen sieht er sich als ,Held‘, als jemand, dem es gelingt, das Publikum für sich einzunehmen. In die Vorstellung drängen sich u. U. aber auch Phantasien, die eine mögliche Blamage vorwegnehmen, Szenen, in denen ein Missgeschick passiert, Fehler gemacht und in irgendeiner Weise versagt wird. L ist mit Situationen verbunden, in denen man sich dem Urteil und der Bewertung anderer ausgesetzt sieht. Es ist Ausdruck der bangen Ungewissheit, ob man den Erwartungen, die man an sich stellt bzw. an sich gestellt sieht, auch gewachsen ist. Wäre man dies nicht, dann stünde man im gleißenden Licht der Öffentlichkeit als jemand, der exponiert und zugleich degradiert ist.

L ist Ausdruck eines konflikthaften intrapsychischen Geschehens: Dem Wunsch, etwas darzubieten und für diese Darbietung Beifall zu erhalten (zu ,glänzen‘), steht die Angst, damit durchzufallen, zu versagen und sich lächerlich zu machen, gegenüber. Die Auftrittssituation selbst ist daher mit einem Gemisch aus Attraktion und Vermeidung verbunden, einem inneren Hin- und-hergerissen-Sein, ob die entsprechende Situation eingegangen oder doch lieber vermieden werden sollte. Möglicherweise ist im Begriff L dieser Zusammenhang bereits angedeutet: Man fiebert den Lampen entgegen und fürchtet sie zugleich, denn misslingt die Darbietung, droht glühende Scham. Starkes L kann aber auch Ausdruck eines (unbewussten) Konfliktes sein, in dem im weiteren Sinne exhibitionistische Strebungen mit dem Verbot derselben ringen (Schau- und Zeigelust).

Paul, Hermann: Deutsches Wörterbuch. Tübingen 1981; Schorn, Ariane: Zur Psychologie des Lampenfiebers. In: Freie Assoziation. Psychoanalyse, Kultur, Organisation, Supervision. 1999, H. 3; Tarr-Krüger, Irmtraut: Lampenfieber. Ursachen, Wirkung, Therapie. Stuttgart  1993.

ARIANE SCHORN

Authentizität – Theatertherapie – Warming Up