Wörterbuch der Theaterpädagogik (erschienen 2003)

Kultursozialarbeit

K ist ein vergleichsweise neuer (Unterrichts-)Gegenstand (an Hochschulen innerhalb der Ausbildung zur Sozialpädagogik oder Sozialarbeit bzw. in der Ausbildung von ErzieherInnen an Fachschulen). Das Verständnis von K leitet sich berufsgeschichtlich aus der Tradition der KindergärtnerInnen-Ausbildung ab. Im Mittelpunkt stand dort die Ausbildung der Persönlichkeit der Erzieherin: Sie selber sollte ein pädagogisch entfaltetes Medium für die Kinder sein (Lernen am Modell). Um die Berufsrolle kreativ zu stärken, wurde der Umgang mit künstlerischen Fächern, Praktiken usw. an die Seite der kognitiven Ausbildung gestellt. Innerhalb der Didaktik und/oder Methodik der Erziehung sollte eine Qualifikation technischer Art miterworben werden: In dieser Weise ausgebildete Personen sollten im sozialen Feld etwa eines Kindergartens Grundzüge des Gestaltens und ästhetischen Kommunizierens vermitteln. Über ästhetische Sozialisation und/als Persönlichkeitsentwicklung sollte die Berufsrolle (auch) gestaltet werden. Das ist ein vom traditionellen Ausbildungsmodus (z. B. des Kunstunterrichts) sehr zu unterscheidendes Ziel, weshalb auch methodisch-didaktische Überlegungen und Schriften aus der Schulpädagogik hier nur begrenzt eingesetzt werden können (vgl. aber Beispiele einer neuen Art zu unterrichten in Jank u. a.).

Drei weitere historische Ansätze von Bildung und Erziehung haben die Herausbildung von K ebenfalls beeinflusst: (1.) Es ist die kultur- und sozialpädagogische Tradition vom Ende des 19. Jhs., die im Gefolge der Jugendbewegung eine Reform des (nicht nur schulischen) Lehrens und Lernens anstrebte (vgl. Koch 1989b; Mollenhauer; Heydorn). (2.) Der Kulturbegriff erweiterte sich seit den 1970er Jahren immer mehr ins Soziale, Alltägliche, Kommunikative (Stichworte wie Soziokultur, Kultur für alle, Bürgerrecht Kultur [vgl. Glaser u. a. 1983], Die Wiedergewinnung des Ästhetischen [vgl. Glaser u. a. 1974], Stadtteilkultur, kommunale Kulturpolitik wurden gängig); die 1976 gegründete Kulturpolitische Gesellschaft e. V. (www.kupoge.de) wurde zum kulturpolitischen und -theoretischen Sprachrohr dieses Paradigmenwechsels (vgl. ihre Zeitschrift Kulturpolitische Mitteilungen). Kulturwissenschaften etablierten sich, kulturtheoretische Sichtweisen näherten sich sozialen, medialen sozialpädagogischen, sozialwissenschaftlichen Sichtweisen an (vgl. Hiltmann 1989a, 12ff.), z. T. ‚ersetzte‘ der Begriff der Kultur den der Gesellschaft. Mit einem erweiterten Kulturverständnis  konnten  Wertigkeiten,  Feinheiten (vgl. Bourdieu), das sog. Nebenbei, verschiedene Lebensweisen in Erkenntnis- und Praxisverfahren eingeführt werden. Culture sei ordinary – also: alltäglich bis gar ‚ordinär‘ – hieß es im hier wegbereitenden englischen Sprachgebrauch des Birminghamer Institut for Contemporary Cultural Studies (vgl. Williams; zur z. T. gleichlaufenden Diskussion in der DDR vgl. Berger u. a.; Harder; Hund u. a.; zur kulturpolitisch linken Position von Tretjakov bis Benjamin vgl. exemplarisch Müller 170ff.). (3.) Innerhalb praktizierter Sozialarbeit und Sozialpädagogik (die historisch auch eine Kritik an traditionellen schulischen Lernformen ist) fand zugleich eine Berücksichtigung subjektiver, ästhetischer Bedürfnisse mehr Raum: lebensweltliche Orientierung (vgl. Meyer-Drawe), Pädagogik der Geselligkeit, Lebensstil-Orientierung, Respekt von Selbstthematisierung der Subjekte. ,Lebensgewinnungsprozesse‘ (Marx) wurden initiiert (vgl. Koch 1991b). Das Modell eines künstlerischen Produzierens, was ja Eigensinn und sozialen Austausch zu entfalten in der Lage ist (vgl. Dewey), bot sich für kulturpädagogische Lehr-Lernprozesse an. Es muss an Potenzen/Kompetenzen der Subjekte angeschlossen werden; nicht allein Defizite sollten zum Anlass sozial-kultureller Arbeit genommen und subjekt-nahe und gruppenbezogene Angebote eingerichtet werden. Eine Entregelung pädagogischsozialer Prozesse hin zu kultureller Dynamisierung (vgl. zu diesem aus der sog. Dritten Welt stammenden Ansatz,  für  den  auch  Boal  und  Freire  stehen, exemplarisch Gerhards u. a.) fand statt. Sozial-kulturelle Arbeit in verschiedenen Institutionen und Lernorten (vgl. Koch 1987) – nicht nur in Jugendeinrichtungen (dort hatte solch ein Ansatz von K schon quasi naturwüchsige Tradition), sondern auch in anderen Handlungs- und Erfahrungsorten der sozialen Arbeit – geschah als eine Art sozial-ästhetischer Rekonstruktion des Lehrens und Lernens (vgl. Hiltmann 1989b, 18ff.; Koch 1985; Fuchs).

Die Ausbildung von ExpertInnen der K geschieht vornehmlich an (Fach-)Hochschulen, Akademien in privater oder öffentlicher Trägerschaft, durch Angebote von Landesvereinigungen und der Bundesvereinigung für kulturelle Jugendbildung. Die Methode eines wirklichkeitsnahen  (ästhetischen)  Lernens  in  Projekten wird in der Regel genutzt (vgl. Selle); sie verbindet Theorie mit Praxis, wobei theoria hier ganz herkömmlich als Anschauung und Reflexionsvermögen sowie Struktur- oder Transferwissen rezipiert wird. Und Praxis meint eine reflexive Praxis, die sich nicht auf das pure technische Vermögen reduzieren lassen will.  Das  integrative  Ausbildungskonzept  soll dazu dienen, eine spätere Berufspraxis nicht reaktiv anpassend zu gestalten, sondern aktiv zu generieren, Perspektiven zu entwickeln, Kriterien und Abgrenzungsmöglichkeiten zur Verfügung zu haben und eine einfallsreiche Weiterentwicklung des Berufsfeldes zu ermöglichen (vgl. Koch 1989a). Es werden keine isolierten künstlerischen Fächer unterrichtet, sondern sie stehen im Konzept einer kultursozialarbeiterischen Phantasie und Denkweise: Experiment statt formaler Systematik stiftet die variationsreiche Struktur solcher Bildungsprozesse. Das verlangt hohe Anforderungen an Lehrende wie Lernende. Unentschieden ist, ob die AusbilderInnen aus künstlerischen oder sozialpädagogischen Berufen/Qualifikationen kommen sollten (vgl. Koch 1991a). Empfohlen wird, dass auch die Lehrenden sich immer wieder neuen Praxis-Feld-Zumutungen stellen, also außerhalb der Ausbildungsstätten tätig sind (analog zur Theorie-Praxis-Anbindung der Auszubildenden). Soziales Lernen und ästhetische Erfahrung (vgl. den Themenschwerpunkt gleichen Namens in Korrespondenzen) sollen verbunden werden.

Berger, Manfred u.a. (Hg.): Kulturpolitisches Wörterbuch. Berlin 1978; Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Frankfurt a. M. 1987; Dewey, John: Kunst als Erfahrung. Frankfurt a. M. 1988; Fuchs, Max: Bildung, Kunst, Gesellschaft. Remscheid 2000; Gerhards, Christiane u. a. (Hg.): Volkserziehung in Portugal. Reinbek 1976; Glaser, Hermann u. a.: Die Wiedergewinnung des Ästhetischen. München 1974; Ders. u. a.: Bürgerrecht Kultur. Frankfurt a.  M. 1983; Harder, Jürgen: Klassenkampf und ,linke‘ Kunsttheorien. Berlin 1978; Heydorn, Heinz-Joachim: Über den Widerspruch von Bildung und Herrschaft. Frankfurt a. M. 1970; Hiltmann, Gabriele: Kulturarbeit und die Neubestimmung des Kulturbegriffs. In: Koch, Gerd (Hg.): Kultursozialarbeit. Frankfurt a. M. 1989a; Dies.: Kulturarbeit in der Sozialarbeit zwischen Anerkennung und Ablehnung. In: ebd., 1989b; Hund, Wulf. D. u. a.(Hg.): Beiträge zur materialistischen Kulturtheorie. Köln 1978; Jank, Birgit u. a. (Hg): Ganz Aug’ und Ohr. Obertshausen 1994; Koch, Gerd (Hg.): Experiment: Politische Kultur. Frankfurt a. M. 1985; Ders.: Einige Ideen zum Bildungsbegriff innerhalb einer Pädagogik der Lernorte. In: Neumann, Dieter u. a. (Hg.): Soziales und politisches Lernen. Frankfurt a. M. 1987; Ders.: Kulturpädagogik – Kulturarbeit. In: Lenzen, Dieter (Hg.): Pädagogische Grundbegriffe, Bd. 2. Reinbek 1989a; Ders. (Hg.): Kultursozialarbeit. Frankfurt a. M. 1989b; Ders.: KulturSozialArbeit – soziale Arbeit mit der Clownsnase?! In: Kulturbehörde Hamburg (Hg.): Hauptsache Kultur. Hamburg 1991a; Ders.: Theaterpädagogische Prozesse als ,Lebensgewinnungsprozesse‘. In: Ruping, Bernd u. a. (Hg.): Widerwort und Widerspiel. Lingen, Hannover 1991b; Meyer-Drawe, Käte: Lebenswelt. In: Lenzen, Dieter (Hg.): Pädagogische Grundbegriffe, Bd. 2. Reinbek 1989; Mollenhauer, Klaus: Kultur. In: ebd.; Müller, Michael: Die Verdrängung des Ornaments. Frankfurt a. M. 1977; Selle, Gert: Das ästhetische Projekt. Unna 1992; Soziales Lernen und ästhetische Erfahrung [Themenschwerpunkt]. In: Korrespondenzen, 1995, H. 23/24/25; Williams, Raymond: Innovationen. Frankfurt a. M. 1977.

GERD KOCH

Arbeitertheater – Arbeitsfelder der Theaterpädagogik – Avantgarde – „Didaktisches Theater“ – Erlebnispädagogik – Geschichte der Pädagogik – Geschichte der Sozialpädagogik – Hochschuldidaktik – Jugendbegegnungen – Kulturelle Bildung – Lebensbegleitendes Lernen – Musisch-ästhetische Erziehung – Reformpädagogik – Sinnlichkeit – Zukunftswerkstatt