Wörterbuch der Theaterpädagogik (erschienen 2003)

Körper – und Bewegungsstudium

Ein künstlerisches KuB als Teil einer thp Ausbildung und -methodik ist nur in Verbindung mit der historisch-kulturellen Bedingtheit des Körpers, der Bewegung und der entsprechenden Theaterästhetik zu denken. In Abhängigkeit zur Professionalisierung des Theaters seit dem Hellenismus und mit Einsetzen des Berufsschauspielertums im 16. Jh. wird den einzelnen konstitutiven Theaterelementen speziellere Aufmerksamkeit gewidmet; so auch dem Körper und der Bewegung. Systematische Aufzeichnungen über den Körper und den Bewegungsstil im antiken Theater sind nicht überliefert – lediglich eine Schrift des Lucian über den pantomimischen Tanz liegt vor. Das Lehrbuch des Pylades über die Tragödienpantomime ging verloren (Boehn 44). Man geht davon aus, dass es eine Trennung von Schauspiel, Tanz und Gesang im heutigen Sinn damals nicht gegeben hat. Drastische Sinnlichkeit und groteske Übertreibung im Mimos, in der griechischen und römischen Komödie und die damit verbundene Betonung der Körperlichkeit bilden einen vermeintlichen Gegensatz zur textorientierten, eher statuarischen Tragödie (vgl. Simhandl 31f.). Die Wandelbarkeit und Unterschiedlichkeit der Auffassungen von Körper und Bewegung auf dem Theater setzt sich fort im geistlichen Theater des frühen Mittelalters, das als körperfeindlich eingeschätzt wird, und einer erotisierenden und körperbetonten Spielweise in der Commedia dell’Arte (vgl. z. B. Esrig). Man geht davon aus, dass das handwerkliche Instrumentarium in der praktischen Arbeit weitergegeben wurde (vgl. Lang). Franciscus Lang entwickelte ein System von vorgeschriebenen Haltungen und Bewegungen, das dem damaligen höfisch-barocken, mechanistischen Körper- und Bewegungsverständnis in Bezug auf theatrale Sprechvorgänge entsprach. Des Weiteren finden sich bei Goethe Regeln für Schauspieler, Paragraphen zur Stellung und Bewegung des Körpers auf der Bühne, die – wie bei Lang – vermeintlich zeitlosen, allgemeingültigen Anspruch erhoben und sich einer normativen Ästhetik verpflichtet fühlten. Im Zuge der Retheatralisierung im Rahmen der Gegenbewegung zum naturalistisch-illusionären Theater werden Anfang des 20. Jhs. körperund bewegungsbetonte Theatertraditionen wiederbelebt (Körper- oder Mimentheater, Commedia dell’Arte, asiatisches Theater; vgl. Baumbach; Leeker).

Diese heterogenen Ansätze beziehen so unterschiedlicheVorstellungen von Körper und Bewegung aus der Reformbewegung und -pädagogik (Natürlichkeit) mit ein oder nehmen Impulse aus dem asiatischen Theater (Nô, balinesisches Theater) mit seiner extremen Stilisierung auf.

Verschiedene Theaterkonzeptionen schreiben dem Körper des Mimen jetzt wieder eine besondere oder zentrale Wirkungsfunktion zu. Diese haben durch ein intensives KuB eigene ,Bewegungssysteme‘ hervorgebracht und bis heute nachhaltig die Körperund Bewegungsästhetik, auch die des Literaturtheaters, stark beeinflusst (vgl. Hoffmeier u. a.). Hierzu zählen insbesondere: die Biomechanik von Wsewolod Meyerhold,  das  ,Training‘  von  Jerzy  Grotowski  (,plastic elements‘),  die  Theateranthropologie  von  Eugenio Barba und der ,poetische Körper‘ von Jacques Lecoq (dramatische Akrobatik, Bewegungstechnik usw.).

KuB meint die systematische Entwicklung von schauspielerischen Fähigkeiten und Fertigkeiten auf der Basis eines wachsenden Körper- und Bewegungsbewusstseins (vgl. Ludwig; Feldenkrais) zur Förderung einer körperexpressiven Spielweise in und durch Bewegung in Anlehnung an o. g. Theaterkonzeptionen. Von KuB als einer intentionalen künstlerischen Bewegungserziehung spricht man in der ThP seit ca. 1900 (z. B.  Stanislawski 1963 Bewegungsstudien; Buchwald-Wegeleben 1981 Bewegungsstudium) und meint damit die an Schauspielentwürfen enger oder weiter orientierte, meist an Kunsthochschulen oder Privatschulen organisierte, systematische, künstlerische Körper- und Bewegungsausbildung in Studienfächern der Darstellenden Künste. Hinzu kommen ,Laboratorien‘, z. B. Barbas ISTA oder Grotowskis Workcenter in Pontedera, die wegweisende theateranthropologische Beiträge zur Körper- und Bewegungsforschung geleistet haben.

Auch wenn Stanislawski, Brecht u. a. dem Sprechtheater verpflichtet sind, haben sie eine starke Körperlichkeit/ Leiblichkeit im Spiel eingefordert und vorangetrieben. Stanislawski weist der ,Arbeit an sich selbst im schöpferischen Prozess des Verkörperns‘ programmatisch einen hohen Stellenwert in seinem System zu. Die ,Physische Handlung‘ (vgl. Richards; Hoffmeier) mit dem Ziel, das ,Körperleben‘ einer Figur zu schaffen sowie das ,Gestische Prinzip‘ Brechts (vgl. Ritter) können als ästhetische Orientierungskategorien für die Bewegungspädagogik in den Darstellenden Künsten herangezogen werden (vgl. Jurké 1998). Artauds sprachskeptische, radikale ,Gefühlsathletik‘, die den ,dynamischen Ausdruck im Raum‘ und Fragmente einer ,Theorie vom Atem‘ beinhaltet (vgl. Artaud), sind ebenso wichtige Leitbilder für eine theoretisch wie praktisch fundierte, künstlerische Theater-Bewegungslehre wie die ,Technik der Bewegungen‘ des in der Mimetradition stehenden Jacques Lecoq (vgl. Lecoq 96ff.). Verschiedene Ansätze der Bewegungserziehung wie z. B. die von Laban, Feldenkrais und Gindler können bedingt als Ergänzung hinzugezogen werden.

Die dichotomische Sichtweise (Mimos–Tragödie, Bewegung–Text) beruht möglicherweise auf dem cartesianischen Denken und der damit einhergehenden Verkürzung und Vereinfachung komplexer Phänomene. Die sich hieraus ergebende unklare Forschungslage weist auf ein noch einzulösendes Forschungsdesiderat (vgl. Leeker 2001, 411).

Um in der thp Praxis ein kritisches körper- und bewegungshistorisches Bewusstsein zu entwickeln, sollte ein KuB als Teil ästhetischer Bildung begriffen werden und – will sich die ThP nicht erneuten Instrumentalisierungsvorwürfen aussetzen – auch bildungstheoretisch befragt werden (vgl. Hentschel).

Mythisch anmutende Auffassungen von naturgegebenen Körperzuständen, esoterische Verwässerungen und Heilserwartungen durch unwiederbringbare ganzheitliche Vorstellungen von Körper/Geist und Leib/ Seele führen auch in der ThP zu diffusen, unreflektierten Körperpraktiken.

Artaud, Antonin: Das Theater und sein Double. Frankfurt1979; Barba, Eugenio: Ein Kanu aus Papier. In: Flamboyant, 1998, H. 7/8; Baumbach, Gerda: Hölle, Teufel, Spielleute. In: Hentschel, Ulrike u. a. (Hg.): Theater als Ausdrucksform von Jugendlichen. Berlin 1992; Bochow, Jörg: Das Theater Meyerholds und die Biomechanik. Berlin 1997; Boehn, Max von: Der Tanz. Berlin 1925; Buchwald-Wegeleben, Hildegard: Bewegung. In: Ebert, Gerhard/ Penka, Rudolf (Hg.): Schauspielen. Berlin 1981; Esrig, David (Hg.): Die italienische Commedia dell’Arte. Nördlingen 1985; Feldenkrais, Moshé: Die Entdeckung des Selbstverständlichen. Frankfurt a. M. 1987; Goethe, Johann Wolfgang von: Gesammelte Werke. Zürich 1977, Bd. 14; Grotowski, Jerzy: Für ein Armes Theater, Zürich 1986; Hentschel, Ulrike: Theaterspielen als ästhetische Bildung. Über einen Beitrag künstlerischen produktiven Gestaltens zur Selbstbildung. Weinheim 2000; Hoffmeier, Dieter: Stanislawskij. Auf der Suche nach dem Kreativen im Schauspieler. Stuttgart 1993; Ders./Völker, Klaus (Hg.): Werkraum Meyerhold. Berlin 1995; Jurké, Volker: Zum künstlerischen Körperund Bewegungsstudium. In: Vaßen, Florian u.a. (Hg.): Wechselspiel: Körper Theater Erfahrung. Frankfurt a. M. 1998; Ders.: Spieler und Raum im Kontext einer künstlerischen Bewegungslehre. In: Körberstiftung/BAG Darstellendes Spiel (Hg.): Theater in der Schule. Hamburg 2000; Ders.: Der Körper lügt! Zur Bedeutung der Körperarbeit in der Theaterpädagogik. In: Korrespondenzen, 2002, 40; Lang, Franciscus: Dissertatio de actione scenica (1727). Hg. u. übers. v. A. Rudin. Bern 1975; Lecoq, Jacques: Der poetische Körper. Berlin 2000; Leeker, Martina: Mime, Mimesis und Technologie. München 1995; Dies. (Red.): Hellerauer Gespräche. Theater als Medienästhetik oder Ästhetik mit Medien und Theater? In: Dies. (Hg.): Maschinen, Medien, Performances. Berlin 2001; Ludwig, Sophie (Hg.): Elsa Gindler – von ihrem Leben und Wirken. Hamburg 2002; Richards, Thomas: Theaterarbeit mit Grotowski an physischen Handlungen. Berlin 1996; Ritter, Hans Martin: Das Gestische Prinzip bei Bertolt Brecht. Köln 1986; Simhandl, Peter: Theatergeschichte in einem Band. Berlin 1996.

VOLKER JURKÉ

Atmung  –  Geste  –  Gestus  –  Karneval  –  Lebensbegleitendes Lernen – Pantomime – Reformpädagogik – Statuentheater – Theatralität