Wörterbuch der Theaterpädagogik (erschienen 2003)

Kinderspiel

Mit K werden alle Spiele bezeichnet, die besonders im Kindesalter gespielt werden. Insofern ist der Begriff eine nähere Bestimmung von Spiel. Eine Abgrenzung zu anderen nebengeordneten Bedeutungen im Sinne von ,Spiele, die nicht im Kindesalter gespielt werden‘ existiert nicht explizit. Es gibt lediglich Spiele, die eher im Erwachsenenalter gespielt werden (Karten- und Brettspiele mit komplizierten Regelwerken) oder dann anders gespielt werden (Kampf-, Mannschafts- und Schauspiele). Peter Thiesen (15) weist darauf hin, dass sich die Spielplätze der Erwachsenen und Kinder erst nach dem Mittelalter voneinander entfernten.

Die Entwicklung der Bedeutung der beiden Ursprungsbegriffe Spiel und Kinder prägen den Begriff. Diese unterliegen einem starken historischen Wandel. Dass Kinder spielen, ist zu allen Zeiten dokumentiert worden. Man findet K der Griechen, der Römer usw. (vgl. Thiesen 13). Unterschiede gibt es in der jeweiligen Interpretation und Einordnung von K, in der Frage nach dem Sinn und Zweck des Spiels im Kindesalter. Schon Aristoteles war davon überzeugt, dass Spiel auch ein Erziehungsmittel ist: „Die meisten Spiele und Belustigungen müssen in der Nachahmung von ernsthaften Dingen bestehen, die später eintreten.“ (zit. ebd. 13) Mächtigste Kritikerin der Spiele und ,Lustbarkeiten‘ war im Mittelalter die Kirche, die diese als Erfindung des Teufels anprangerte. Comenius’ Rat von 1633, „dass die Kinder täglich auf den Gassen oder sonst zusammenkommen und miteinander spielen“ (zit. ebd. 16), galt als revolutionär. Comenius war dann einer der ersten, die das Theaterspiel – zunächst als Methode im Sprachunterricht – in das schulische Curriculum einbezogen. Seine spielende Schule (schola ludus) sollte die Schüler stärken und zu einer Schule des Lebens beitragen (vgl. Braanaas 245).

Anfang des 19. Jhs. wird besonders über Schiller die ästhetische Dimension des Spiels in die Theorien einbezogen und sein Selbstzweck und Eigenwert hervorgehoben (vgl. Schiller). Damit und mit der Differenzierung der Geisteswissenschaften wird die bis dahin verbreitete Dichotomie von Spiel und Ernst aufgebrochen. Psychologie, Pädagogik und Soziologie unterstreichen mit umfangreichen Ergebnissen und Schriften bis heute die Entwicklungsrelevanz des K (vgl. Scheuerl;  Flitner).  Wenig  rezipiert,  gleichwohl eine herausragende Rolle für die ThP spielt Wygotski (34), der gezeigt hat, dass Kinder im darstellenden Spiel über sich hinauswachsen (ZPD: Zone of proximal development).

Mit der Reformpädagogik begann zeitgleich eine breitere Entwicklung von Modellen zur Spielförderung. Hier nehmen sowohl spielpädagogische als auch thp Konzeptionen ihren Ausgang.

Für die ThP, die die Theatralität als Gattungsspezifik des  Menschen  bespielt  (vgl.  Ruping  9),  ist  K  im Rahmen des Darstellenden Spiels zudem ein grundlegender Modus der Erfahrung. Beide, K und Theater, haben ihre Wurzeln im rituellen Fest und in Kultformen früherer Zeiten: „Viele alte Kinderspiele […] waren ursprünglich nichts anderes als dramatisch dargestellte Szenen alter Göttersagen, die sich allmählich zu verweltlichten Spielformen entwickelten, wie z. B. Prinzessin erlösen oder die goldene Brücke.“ (Thiesen 11)

Meist gründet sich der thp Bezug zur Theatralität von Kindern auf die Signifikanz des sozial-realistischen Rollenspiels im Kindesalter. Diesem Spiel wird eine entwicklungspsychologisch hohe Bedeutung zuerkannt. Dass das sozial-realistische Spiel nur eine Form unter vielen anderen ist, wird dabei leicht übersehen. Es hat mit seiner Manifestation in Spielen mit fester Rollenaufteilung (Vater-Mutter-Kind) und der direkten Nach- oder Vorahmung einer Realität (auch über Puppen oder Figuren) nur den prägnantesten Bezug zum traditionellen Theater.

Für eine Theaterkunst mit Kindern oder für Kinder ist es jedoch entscheidend, die geselligen Spielformen der Kinder unter einer nicht-funktionalen, ästhetischen Perspektive zu untersuchen. Faith Guss interpretiert eine auf Märcheninhalten basierende Spielbewegung als einen offenen form- und bedeutungssuchenden Prozess: „Über Vertauschungen und Umkehrungen stellen sie den kulturell überlieferten Status quo auf den Kopf. So gestalten die Spieler ihre kulturellen und emotionalen Erfahrungen neu.“ (Guss 165, Übers. d. Vfn.) Sie findet in dieser Spielbewegung neben der klassischen linearen Form auch nicht-lineare fragmentarische Dramaturgien, epische und simultane Formen. Formen des K decken sich so mit manchen ästhetischen Formen im zeitgenössischen Theater: schlagartiges Ein- und Aussteigen in/aus Rollen, Bedienen mehrerer Rollen simultan im Wechsel, Spielen mit imaginären Rollen, Darstellen von Vergangenem, ironische Brechung, Darstellung von Alternativen, Transparenz von Umbau, Vorbereitung und Spiel, Überzeichnung, Wiederholung und Rhythmisierung. In der Theaterarbeit mit Kindern wird diese ästhetische Qualität von K oft unterschätzt, besonders dort, wo die ästhetische Funktion des Spiels nicht dominiert. Die Dominanz der ästhetischen Funktion und damit die Trennung o. g. Spielmerkmale von seiner Funktionalität im Alltag markiert den Übergang vom K zur Darstellenden Kunst. Dabei betont Christel Hoffmann (17), dass der Anknüpfungspunkt für diesen Übergang „stets das natürliche Spielvermögen der Kinder sein [sollte, d.Vfn.] und nicht die Nachahmung irgendeiner Form des professionellen Theaters“.

Das Geschick besteht für die ThP darin, in der Vielfalt der geselligen Spielformen von Kindern die ästhetischen Qualitäten und deren Verfremdungskraft zu sehen und in einem gemeinsamen Prozess mit den Kindern eine Kinderkunst entstehen zu lassen.

Braanaas, Nils: Barn, ungdom og teater – fra antikken til det 19. aarhundre. Trondheim 2001; Flitner, Andreas (Hg.): Das Kinderspiel. München 1987; Guss, Faith G.: Ritual, Performance and Children’s ,Play-drama‘. In: Rasmussen, Björn/ Kjölner, Torunn/Rasmusson, Viveka/Heikkinen, Hannu (Hg.): Nordic Voices in Drama, Theatre and Education. Bergen 2001; Hoffmann, Christel: Die Kunst des Spielleiters. In: Hoffmann, Christel/Israel, Anett (Hg.): Theater spielen mit Kindern und Jugendlichen. Konzepte, Methoden und Übungen. Weinheim 1999; Ruping, Bernd: Stadt Land Fluss – Verortungen der Theaterpädagogik. Die Brauchbarkeit des Ästhetischen. In: Korrespondenzen, 2001, H. 38; Scheuerl, Hans (Hg.): Theorien des Spiels. Weinheim 1975; Schiller, Friedrich: Über die ästhetische Erziehung des Menschen, in einer Reihe von Briefen. In: Ders.: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe in 20 Teilen, Bd. 18. Hg. v. Güntter, Otto/Witkowski, Georg. Leipzig 1910/11; Thiesen, Peter: Klassische Kinderspiele. Neu entdeckt für Kindergarten, Hort, Grundschule und Familie. Weinheim 1993; Wygotski, Lew Semjonowitsch: Das Spiel und seine Rolle für die psychologische Entwicklung des Kindes. In: Ästhetik & Kommunikation, 1973, H.  11.

KAROLA WENZEL

Entwicklungspsychologie  –  Kinder- und  Jugendtheater – Märchen –  Ritual