Wörterbuch der Theaterpädagogik (erschienen 2003)

Interfaces

Seit den 1960er Jahren ist der Begriff vor allem im Bereich der Computertechnik gebräuchlich. I bezeichnen allgemein die Schnittstellen zwischen verschiedenen Systemen, also z. B. die zwischen Mensch und Maschine sowie die zwischen verschiedenen Programmen oder Geräten. Über I wird der Datenaustausch zwischen den Systemen so organisiert, dass deren unterschiedliche Kodierungen kompatibel zueinander werden.

Hier steht vor allem die Entwicklung von Schnittstellen zwischen Mensch und Computer im Vordergrund. Diese sollen es dem Menschen ermöglichen, in Echtzeit in die Befehlsverschaltungen und Adressierungen innerhalb der Rechenvorgänge der digitalen Informationsverarbeitung einzugreifen. Die Technikgeschichte dieser I hängt eng mit der von Norbert Wiener initiierten Entwicklung des Computers zusammen. Computer wurden von ihm zum einen als automatisierte Maschinen und zum anderen als sich selbst organisierende, ,intelligente‘ Systeme aufgefasst, die mittels Feedbackschleifen ,Erkenntnisse‘ aus dem eigenen und aus anderen Systemen integrieren. Dieser Ansatz führte 1951 zur Herstellung des ersten I, mit dem in Echtzeit und vermeintlich unmittelbar in die Rechenvorgänge des Computers eingegriffen werden konnte. Der seit 1945 für die Flugsimulation und die Flugabwehr entwickelte und mit einer hohen Rechengeschwindigkeit ausgestattete Whirlwind-Computer wurde nicht mehr über Lochstreifen und -karten gesteuert, sondern über die Manipulation graphischer Darstellungen auf einem Monitor mit Hilfe eines Lichtstiftes. Die graphischen Punkte stellten (feindliche) Flugzeuge dar, die mit Hilfe der Signale des Users aus dem Lichtstift zum Abschuss markiert werden konnten. Seit den 1970er/80er Jahren teilt sich die Erforschung und Gestaltung von I mit zunehmender Beschleunigung der Rechner und Erhöhung von deren Speicherkapazität in verschiedene Typen auf, wie z.B. Monitordarstellungen als graphische Benutzeroberfläche (graphical user interface, GUI), Maus und Tastatur, I wie Datenbrillen zur Immersion in virtuelle Realitäten, I-systeme zur Manipulation von Ereignissen in über digitale Technik verrechneten realen Räumlichkeiten.

Für  den  Bereich  Theater/ Performance  sind  seit den 1980er Jahren vor allem die letztgenannten Isysteme von Interesse. Sie dienen dazu, interaktive Bühnen oder Environments herzustellen. Dabei werden über spezielle Sensoren Daten aus dem Aktionsraum oder vom Körper des Performers abgeleitet und innerhalb des digitalen Systems oder der digitalen Apparaturen zur Steuerung einer Ausgabe verrechnet (z.B. Sound, Video, Licht). Typisch sind die raumbezogene und die körperbezogene Sensorik.

Die raumbezogene Sensorik: (1.) Eine Reihe von Sensoren liefert Informationen über ,Anwesenheit an einem Ort‘ im Raum: Trittmatten (Kontaktschalter), Lichtschranken, Ultraschallsensoren, Infrarotsensoren (Wärmesensoren). (2.) Kamerasysteme liefern Daten über ,Veränderung im Bild/Raum‘: Kamerasysteme bestehen aus einer digitalen Kamera, die einen Aktionsraum aufzeichnet und die aufeinander folgenden Kamerabilder auf Veränderungen in korrespondierenden Bildpunkten (Pixeln) untersucht. Die Unterschiede von Bild zu Bild, die z. B. durch einen sich bewegenden Akteur entstehen, werden als Information ausgewertet (z. B. Anwesenheit an bestimmten Stellen im Raum, Schnelligkeit der Bewegung, Beschleunigung, Bewegungsrichtung). Diese Daten werden an eine Software weitergeleitet, die sie verrechnet und damit in Echtzeit Befehle auslöst, indem z.B. bei einer bestimmten Bewegung ein bestimmter Ton ausgelöst wird. Systeme sind u. a.: Very Nervous System, BigEye.

Die körperbezogene Sensorik: (1.) Kameragestütze Motion-Capturing-Systeme: Auffällige Markierungen werden an Gelenken der Akteure angebracht. Der Aktionsraum wird von mehreren Kameras gefilmt. Die Auswertungssoftware erkennt die Markierungen und errechnet die relative Position dieser Punkte zueinander. Die resultierenden Daten symbolisieren die Bewegungen der Akteure und können verwendet werden, um beliebige Figuren zu animieren. Diese Verfahren arbeiten zum Großteil nicht in Echtzeit. Sie werden oft für Animationen in Videospielen oder für die Herstellung von Animationen, die auf die Bühne projiziert werden, verwandt. (2.) Andere Sensoriksysteme ermöglichen, dass Informationen über die relative Lage von Körperteilen des Performers abgeleitet werden und in Echtzeit verrechnet werden können. Body Suits und verwandte Systeme messen die Beugungswinkel an Gelenken. Elektromagnetische Sensoren liefern Informationen von Position und Ausrichtung von Gliedmaßen im Raum. (3.) Biofeedbacksensoren: verschiedene Arten von Sensoren leiten Messsignale aus dem Inneren des Körpers ab, die unterhalb der bewussten Wahrnehmungsschwelle des Menschen liegen und nicht oder nur bedingt bewusst zu kontrollieren sind (Herzschlag, Hautspannung, Gehirnwellen). Diese Daten werden visualisiert und operationalisiert, d. h. sie werden zur Beeinflussung eines digital verrechenbaren und steuerbaren medialen Outputs eingesetzt (Ton, Videobild, Licht). In den Installationen/ Performances wird eine Feedbackschleife zwischen Organismus und technischen Apparaturen hergestellt, mit der beide zu einem integralen Funktionssystem verbunden werden.

Durch die Anwendung von I verändert sich das tradierte theatrale Setting in zwei Punkten grundlegend. Zum einen wird durch die I Interaktivität zum Mittelpunkt künstlerischer Gestaltung. Zum anderen wird das Unvorhersehbare zum grundlegenden dramaturgischen Prinzip.

Charakteristika der interaktiven Bühne bzw. Performances sind u. a.: (1.) In interaktiven Performances wird die Aktivierung der Zuschauer bis hin zur Aufhebung der ,Zuschauerrolle‘ angestrebt, d. h. der Zuschauer wird zum Mitmacher. (2.) Betont wird das Machen von Erfahrung vor dem Anschauen von Erfahrungen. (3.) Betont wird der Prozess vor dem Produkt, d. h. ein Kunstwerk entsteht erst durch die Aktionen aller an einer Performance Beteiligten und löst sich mit der Performance wieder auf. (4.) Durch die Interaktivität kommt es zur Betonung des Performativen, d. h. Welt und Existenz werden als ständiger Wandel begriffen, so dass sich Leben durch das permanente Neu-Bestimmen von Identitäten und von Grenzen zwischen Wirklichkeiten auszeichnet. (5.) Es kommt zur Aufhebung von linearen Strukturen und Ordnungen zugunsten von offenen Strukturen wie Hypertextualität und nonlineare Erzählungen. (6.) Die interaktiven Performances werden häufig wie ein Dialog zwischen Mensch und technischen Apparaten gestaltet, so dass der Eindruck entsteht, der Mensch sei Teil eines integralen Funktionsmechanismus, bestehend aus biologischem und technischem System, wobei letzteres dazu fähig ist, das biologische System in seinen angenommenen Begrenzungen  zu erweitern.

Im Zentrum der kritischen Befragung von I und sog. interaktiven Performances stehen drei Fragen. Erstens wird gefragt, ob die vom Computer über die I regulierten Performances tatsächlich als Interaktionen bezeichnet werden können. Der verkürzte Handlungsbegriff des Interaktionsparadigmas in der ,Medienwelt‘ wird kritisiert. Kommt der Rezipient nicht mehr in den Genuss, sein Tun auch zu betrachten und auf sein subjektives Verstehen zurückzuführen, kann die sog. Interaktion zur ,Interpassivität‘ führen.

Zweitens wird gefragt, ob die strukturelle Kopplung von Technologischem und Biologischem tatsächlich funktioniert. Handelt es sich um vergleichbare Systeme? Oder kommt es beim performativen Umgang mit I nicht vielmehr zu einer Anthropomorphisierung der Maschinen und Medien, durch die die ,Verhaltensweisen‘ der technischen Apparaturen mit denen der Menschen analog gesetzt werden und umgekehrt.

Drittens werden die Gestaltungsformen der I kritisch betrachtet. Werden die I so gestaltet, dass sie verschwinden – d. h. vom Anwender nicht mehr als Vermittler bemerkt werden –, kann es zu einer Verwischung der Grenzen zwischen beiden Bereichen kommen. Zudem wird durch diese Gestaltungsweise unterschlagen, dass I als Überwachungstechnologien entwickelt wurden und werden. Eine Form der reflexiven Gestaltung der digitalen Schnittstellen sind die kulturellen I. Hier wird die Schnittstelle so gestaltet, dass deutlich wird: Die Bedeutungszuschreibungen der Benutzer sind kulturell geformt.

Vor diesem Hintergrund sind Inszenierungen mit Technologien und Medien im Bereich Theater/Performance dann von Interesse, wenn sie verschiedene Wahrnehmungsformen vergleichbar machen oder wenn sie die Nachvollziehbarkeit der von den I vorgeschriebenen Handlungsformen erlauben.Dinkla, Söke: Pioniere der interaktiven Kunst von 1970 bis heute. Ostfildern 1997; Halbach, Wulf R.: Interfaces. Medienund kommunikationstheoretische Elemente einer Interface-Theorie. München 1994; Leeker, Martina (Hg.): Maschinen, Medien, Performances. Theater an der Schnittstelle zu digitalen Welten. Mit einer CD-ROM v. Irina Kaldrack, Martina Leeker: Interfaces – Interaktion – Performance. Zur Anwendung digitaler Technik im Theater. Berlin 2001; Matussek, Peter: Performing Memory. Kriterien für einen Vergleich analoger und digitaler Gedächtnistheater. In: Fischer-Lichte, Erika/Wulf, Christoph (Hg.): Theorien des Performativen. In: Zs. f. Historische Anthropologie, 2001, H. 1; Roch, Axel/Siegert, Bernhard: Maschinen, die Maschinen verfolgen. Über Claude Shannon und Norbert Wieners Flugabwehrsysteme. In: Schade, Sigrid/ Tholen, Georg Christoph (Hg.): Konfigurationen. Zwischen Kunst und Medien. München 1999.

IRINA KALDRACK / MARTINA LEEKER

Animation – Happening – Interaktion – Kommunikation – Lernen und Theater