Wörterbuch der Theaterpädagogik (erschienen 2003)

Gruppe

Das seit dem 18. Jh. bezeugte Substantiv G ist der Bildenden Kunst entlehnt und bezieht sich auf (wirkungsvolle) Anordnung von Personen und Gegenständen. Mit dem Begriff G als einer zentralen sozialpsychologischen Kategorie werden integrierte soziale Strukturen (z. B. Familien, Spielgruppen, Arbeitsteams, Theaterensembles) bezeichnet, deren Mitglieder  durch Kommunikation,  Werte,  Normen  und Regeln, Rollen und Funktionen in einer interdependenten Beziehung stehen. Während die Soziologie G als eigenständige soziale Gebilde unabhängig von den jeweiligen Mitgliedern unter Aspekten ihrer Entstehung, ihrer Organisationsformen, Regeln, gesellschaftlichen Verflechtungen und Veränderungen untersucht (vgl. Simmel), sind mit der Ausdifferenzierung der sog. Bindestrich-Psychologien und der damit sich entwickelnden Sozialpsychologie (vgl. Hofstätter) G als Vermittlungsinstanz zwischen Gesellschaft und Individuum Gegenstand von Forschungen und Analysen geworden. Dabei richtet sich das Augenmerk der Sozialpsychologie zum einen auf die Binnenstruktur zum anderen auf Veränderungen und Veränderungsbedingungen dieser Strukturen.

Kurt Lewin hat nach seiner Emigration (1933) in die USA im Rahmen von Feldforschung untersucht, welche Wirkung „die soziale Gruppe auf das Erziehungssystem ausübt“ (Lewin 1953, 22). Mit den unter dem Label ,Führungsstilexperimente‘ bekannt gewordenen und bis heute weitgehend anerkannten Befunden konnte ein Zusammenhang zwischen autoritärem und demokratischem (später ergänzt um laissez faire) Führungsstil eines G-leiters und dem sozialen Verhalten der G-mitglieder nachgewiesen werden. Ebenfalls auf Lewins Forschungen gehen Entwicklung und Analyse der Bedeutung von feed back für die Dynamik von G-prozessen zurück, und er etablierte damit action research (Handlungsforschung) als eine über die Analyse hinausgehende, auf Veränderung zielende Forschungsrichtung (vgl. Lewin 1969).

Seit Mitte der 1960er Jahre finden die Befunde von G-forschung und G-dynamik Anwendung etwa in der Erwachsenenbildung (vgl. Brocher), der Schulpädagogik (vgl. Spangenberg), der Sozialpädagogik (vgl. Geißler.; Schmidt-Grunert), der Therapie (vgl. zusammenfassend Heigl-Evers), der Supervision, der Organisationsentwicklung und -beratung und des Managements (vgl. Fürstenau; Schreyögg, A.; Schreyögg, G.). Die 1970 gegründete Zeitschrift Gruppendynamik. Zeitschrift für angewandte Sozialpsychologie erscheint seit 2000 entsprechend dem weiteren Anwendungsgebiet unter dem Titel Gruppendynamik und Organisationsberatung.

In T(rainings)-G (minimal strukturierte G, im Bereich der intra- und interpersonalen Selbsterfahrung) wurden Interaktionen von G-mitgliedern systematisierend – dabei weitgehend deskriptiv – untersucht. Besondere Beachtung findet heute in pädagogischen und therapeutischen Professionen das Wissen über Entwicklungsphasen, Rollen und Funktionen, Werte und Normen sowie Leitung, um G-prozesse methodisch (feed back, Interaktionsübungen) in Richtung auf ein gewünschtes Ziel zu beeinflussen, Blockaden aufzuheben, Beziehungen zu klären oder Transferleistungen in den Alltag zu ermöglichen (vgl. z. B. Brocher; Vopel; Gudjons u. a.). Beispielsweise wird mit feed back-Übungen angestrebt, die Selbst- und Fremdwahrnehmung der Teilnehmer zu erweitern und sog. ,blinde Flecken‘ zu reduzieren (vgl. modellhaft Luft). In Organisationsentwicklung und -beratung wird der Leistungsvorteil von Gruppen hinsichtlich Problembewältigung und Aufgabenkomplexität sowie bezüglich der Vermittlung und Etablierung von Normen und Werten (corporate identity) als zentral angesehen. Moderationstechniken (vgl. Metaplan) gewinnen hier zunehmend an Bedeutung (train the trainer) und sind darauf ausgerichtet, Konflikte um Arbeitsvollzüge, Entscheidungskompetenzen oder Zielvorstellungen in Unternehmen kommunikativ und rationell, sozial befriedigend sowie (vermeintlich) demokratisch zu lösen.

Kritik an der G-dynamik und dem bis heute zumindest praktisch anhaltenden G-boom (vgl. Puch; vgl. auch die diversen G-angebote in regionalen Zeitschriften wie Frauen-/Männer-G, Trommel-G, esoterischen G) fokussiert deren potenziell manipulativen Charakter (vgl. Horn). Dagegen verweisen ihre Verfechter auf deren der Demokratie und individuellen Emanzipation bereits historisch verpflichteten Charakter. Mit der zunehmend methodistisch verkürzten Anwendung des Wissens um G und ihre Dynamik bleiben jedoch jene Bereiche auf der Strecke, die sich den Subjekten, ihren je spezifischen Kommunikationsbarrieren, ihrer intrapsychischen und interindividuellen Abwehr zuwenden, oder auch solche Zielvorstellungen, die Rollenflexibilität und individuelle kommunikative und interaktive Kompetenzerweiterung als zentral beschrieben haben (vgl. Brocher; Däumling u. a.; Fritz). Dennoch bleibt festzuhalten, dass G als sozialisatorische Instanzen in den unterschiedlichsten Lebensaltern und -bereichen individuelle Entwicklungsprozesse fördern (oder auch hemmen) können, so dass eine reflexive Anwendung gruppendynamischer und -pädagogischer Kenntnisse sinnvoll ist. Dies gilt auch für die ThP. Darüber hinaus gibt es gerade im Bereich der Interaktionsübungen ein breites Repertoire, das wechselseitig praktisch nutzbar ist (vgl. Koch u. a.).

Antons, Klaus: Praxis der Gruppendynamik. Übungen und Techniken. Göttingen 2000; Bernstein, Saul/Lowy, Louis (Hg.): Untersuchungen zur Sozialen Gruppenarbeit in Theorie und Praxis. Freiburg 1975; Bion, Wilfried R.: Erfahrungen in Gruppen. Frankfurt a. M. 1991; Brocher, Tobias: Gruppendynamik und Erwachsenenbildung. Braunschweig 1979; Däumling, Alf M. u. a.: Angewandte Gruppendynamik. Stuttgart 1974; Fritz, Jürgen: Emanzipatorische Gruppendynamik. München 1974; Fürstenau, Peter: Institutionsberatung. In: Gruppendynamik, 1970, H. 3; Geißler, Karlheinz/Hege, Marianne: Konzepte sozialpädagogischen Handelns. München 1999; Gudjons, Herbert/Pieper, Marianne/Wagener, Birgit: Auf meinen Spuren. Das Entdecken der eigenen Lebensgeschichte. Reinbek 1996; Heigl-Evers, Annelise (Hg.): Sozialpsychologie, Bd. 2: Gruppendynamik und Gruppentherapie. In: Kindlers Psychologie des 20. Jahrhunderts.  Weinheim,  Basel  1984;  Hofstätter,  Peter  R.:Gruppendynamik. Kritik der Massenpsychologie. Hamburg 1993; Horn, Klaus: Gruppendynamik und der ‚subjektive Faktor‘. Repressive Entsublimierung oder politisierende Praxis. Frankfurt a. M. 1973; Koch, Gerd u. a.: Theatralisierung von Lehr-Lernprozessen. Berlin, Milow 1995; Lewin, Kurt: Die Lösung sozialer Konflikte. Bad Nauheim 1953; Ders.: Feldtheorie und Sozialwissenschaften. Bern 1969; Luft, Joseph: Einführung in die Gruppendynamik. Stuttgart 1991; Metaplan (Hg.): Fibel zur Metaplantechnik. Quickborn 1994; Puch, Hans-Joachim: Inszenierte Gemeinschaften. Gruppenangebote in der Moderne. In: Neue Praxis, 1991, H. 7; Pühl, Harald: Angst in Gruppen und Institutionen. Frankfurt a. M. 1994; Sader, Manfred: Psychologie der Gruppe 1991. Weinheim, München 2002; Schmidbauer, Wolfgang: Wie Gruppen uns verändern. Selbsterfahrung, Therapie und Supervision. München 1994; Schmidt-Grunert, Marianne: Soziale Arbeit mit Gruppen. Eine Einführung. Freiburg i. Br. 1997; Schreyögg, Astrid: Coaching. Eine Einführung für Praxis und Ausbildung. Frankfurt a. M., New York 1996; Schreyögg, Georg: Organisation. Grundlagen moderner Organisationsgestaltung. Wiesbaden 2000; Simmel, Georg: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Frankfurt a. M. 1996; Spangenberg, Kurt: Chancen der Gruppenpädagogik. Gruppendynamische Modelle für Erziehung und Unterricht. Weinheim 1974; Vopel, Klaus W.: Interaktionsspiele. 6 Bde. Hamburg 1978; Wellhöfer, Peter R.: Gruppendynamik und soziales Lernen. Stuttgart 2001 Gruppe & Spiel. Zs. für Gruppenpädagogik und soziales Lernen [6 Hefte jährlich]; Gruppendynamik und Organisationsberatung. Zs. für angewandte Sozialpsychologie [4 Hefte jährlich]; Gruppenpsychotherapie und Gruppendynamik [4 Hefte jährlich].

RITA MARX

Didaktik – Entwicklungspsychologie – Geschichte der Pädagogik – Geschichte der Sozialpädagogik – Kommunikation – Methodik – Warming Up