Wörterbuch der Theaterpädagogik (erschienen 2003)

Entwicklungspsychologie

E als Teildisziplin der Psychologie widmet sich seit Ende des 19. Jhs. der Erforschung und systematischen Analyse von Gesetzmäßigkeiten der Entfaltung von Fähigkeiten und Verhaltensweisen von Individuen oder Gruppen von Individuen im Laufe ihres Lebens. Vergleichende E befasst sich dabei auch mit der Bedeutung von kulturellen und sozialen Umweltbedingungen, die in ihrer Wirkung als auslösend, stimulierend, modifizierend oder hemmend für vorhandene Anlagen untersucht werden.

Von Seiten der Pädagogik wurde die Frage – getragen auch vom Interesse des Erwachsenen an Steuerung, Beeinflussung und Einpassung des Kindes in gesellschaftliche Verhältnisse – nach den Bedingungen der Möglichkeit von Erziehung gestellt, die in den 1960er Jahren zu einer Auseinandersetzung über die Bedeutung von Anlage und Umwelt im Prozess der Entwicklung führte (für den Bereich der kognitiven Fähigkeiten die Kontroverse Begabung vs. Begabt-Werden vgl. Roth). Während diese – Grundfragen der Anthropologie betreffenden – Auseinandersetzungen stärker im erziehungstheoretischen Diskurs geführt wurden, behandelte die Pädagogik sie unter Rückgriff auf Sozialisationstheorien (vgl. besonders zum ökologischen Ansatz Bronfenbrenner) eher pragmatisch, indem sie sich auf deren Befunde über sozialisierende Einflüsse von Interaktionen und Institutionen (vgl. Oerter u. a.) stützt.

E ordnet(e) Beobachtungen über die frühkindliche Entwicklung zunächst deskriptiv und normativ dem kalendarischen Alter zu. Angenommen wurden biologische Entwicklungsreize, die sich schubweise bis zur ‚Reife‘ entwickelten. Eine stärker psychoanalytisch bzw. sozialpsychologisch orientierte E nahm zumeist die Herausbildung einer Identität (vgl. Erikson, Mead, Krappmann) als Abschluss der Adoleszenz und damit von Entwicklung an. Einhergehend mit der gestiegenen Lebenserwartung in den westlichen Industrieländern erweitert sich jedoch das Interesse der E seit den 1970er Jahren nicht mehr nur auf die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen, sondern auch auf das mittlere und höhere Erwachsenenalter (vgl. Baltes).

Fragestellungen der E richten ihr Interesse auf deskriptiv, qualitativ oder quantitativ aufzuzeigende Zusammenhänge von als linear oder spiralförmig verlaufend angenommenen Veränderungen menschlicher Fähigkeiten, Fertigkeiten und Verhaltensweisen und den diesen zugrunde liegenden Begründungen wie Reifung, Lernen oder Umwelteinflüsse. Besondere Beachtung fanden dabei die Entwicklung der Motorik, der Wahrnehmung, der Kognition, der Moral, der Sprache, des Gedächtnisses, der Emotionen oder der Motivation und fanden ihren Niederschlag in Tests und Fragebögen zur Leistungs- und Persönlichkeitsdiagnostik.

Die entweder aus biographischen Einzelfallbeschreibungen oder experimentell quantitativ angelegten Studien mit vielen Fällen gewonnenen Einzelbefunde werden teilweise in Phasen oder Schichtenmodellen kategorial gefasst. Eines der wohl bekanntesten Phasenmodelle ist das von Freud über die Phasen der psychosexuellen Entwicklung (orale, anale, phallisch-genitale Phase, Latenz, Pubertät), die er auf der Basis der Analyse psychischer Störungen Erwachsener rekonstruierte. Dieses Modell wurde u. a. von Erikson in einem soziale Bedingungen in den Blick nehmenden epigenetischen Modell der psychosozialen Entwicklung weiterentwickelt. Erikson geht davon aus, dass ein dem menschlichen Organismus innewohnender Grundplan sich entfaltet und phasentypisch Funktionen entwickelt und konsolidiert. Auch wenn dieses – teilweise durch ethnologische Forschung und durch Beobachtung gestützte – Modell als normativ angesehen werden muss, da es phasenspezifisch gelingende psychosoziale Kompetenzen beschreibt (Urvertrauen, Autonomie, Initiative, Werksinn, Identität, Intimität/ Solidarität, Generativität, Integrität), bietet es doch andererseits einen Rahmen für eine den ‚vollständigen Lebenszyklus‘ umfassende E und eine gerade unter pädagogischen Aspekten konsequent durchgehaltene Problematisierung  nicht  nur  des  Verhältnisses von Anlage/Reifung/biologischer Ausstattung des Menschen einerseits und der Bedeutung des sozialen und gesellschaftlichen  Bezugssystems andererseits.

Für die kognitive Entwicklung hat besonders das von Piaget vorgelegte Stufenmodell (sensomotorisch, voroperational/anschaulich, Stadium der konkreten Operationen, Stadium der formalen Operationen) breite Beachtung gefunden. Für die moralische Entwicklung ist Kohlbergs Niveau-Modell einschlägig geworden: prä-konventionelles Niveau: Orientierung an Strafe und Gehorsam, instrumentell-relativistische Orientierung; konventionelles Niveau: Orientierung am persönlichen Umfeld, Orientierung am sozialen System; post-postkonventionelles Niveau: Sozialvertragsorientierung, Orientierung an universalen ethischen Prinzipien.

Zahlreiche experimentelle entwicklungspsychologische Untersuchungen – häufig behavioristisch-lerntheoretisch orientiert – haben zum einen die genannten Phasenmodelle als Rahmen genommen und sie teilweise spezifiziert (z. B. in der Säuglings- und Bindungsforschung) oder auch kritisiert; zum anderen jedoch war ihr Interesse darauf gerichtet, den Prozess der Entwicklung als einen der Differenzierung, Integration und Zentralisation zu beschreiben und somit in einen sinnstiftenden Zusammenhang zu stellen.

Wenngleich Phasenmodelle häufig als spekulativ und Differenzen nivellierend kritisiert werden, bieten sie für soziale Handlungszusammenhänge von Pädagogik einen Orientierungsrahmen, in dem experimentelle Befunde sowie praktisches Handeln verstehend verortet werden können. Einzelbefunde experimenteller Studien ihrerseits, die teilweise als künstlich oder kleinformatig zu kritisieren sind, eröffnen jedoch einen kritischen Fragehorizont und verlangen nach Adaption und reflexiven Konsequenzen für soziales Handeln in sozialisatorischen Kontexten (etwa bei Gestaltung von Lernprozessen in Schule, Betrieb oder Erwachsenenbildung).

Insofern Theater als soziale Interaktion zu beschreiben und ThP als ein Ansatz zur Gestaltung dieser Interaktion zu verstehen ist, kann sie bei der E sowohl auf deren Erkenntnisse zum Lernen, zum Spielverhalten und zur Moralentwicklung zurückgreifen. Entwicklungspsychologische Phasenmodelle bieten ihr einen Orientierungsrahmen, um ubiquitäre Themen und Konflikte menschlicher Entwicklung zu identifizieren, die sinnvoll Inhalt thp Arbeit sein können.

Die in jüngster Zeit mit dem Fortschritt der Neurologie und Neuropsychologie (etwa im Max-PlanckInstitut für neuropsychologische Forschung  Leipzig, gegründet 1995) sich entwickelnden Möglichkeiten, Erkenntnisse über die neuronale Basis menschlichen Verhaltens gewinnen zu können, wird auch für die E zu neuen Erkenntnissen über die Herausbildung von Fähigkeiten und Fertigkeiten von Menschen sowie über eine Beeinflussung durch Umweltreize führen, in deren Kontext bisher als gültig oder wahrscheinlich angenommene Zusammenhänge von Anlage und Umwelt, Reifung und Lernen, Motiven und Handlungen neu zu bestimmen sein werden.

Aries, Philippe: Geschichte der Kindheit. München 1975; Baltes, Paul B.: Entwicklungspsychologie der Lebensspanne. Theoretische Leitsätze. In: Psychologische Rundschau, 1990, H. 41; Bowlby, John: Elternbindung und Persönlichkeitsentwicklung. Heidelberg 1995; Bronfenbrenner, Ulf: Die Ökologie der menschlichen Entwicklung. Stuttgart 1981; Erikson, Erik H.: Der vollständige Lebenszyklus. Frankfurt a. M. 1988; Hurrelmann, Klaus/Ulich, Dieter (Hg.): Handbuch der Sozialisationsforschung. Weinheim, Basel 1998; Kohlberg, Lawrence: Die Psychologie der Moralentwicklung. Frankfurt a. M. 1996; Krappmann, Lothar: Soziologische Dimensionen der Identität. Stuttgart 1973; Lichtenberg, Joseph: Psychoanalyse und Säuglingsforschung. Berlin 1983; Mead, George H.: Geist, Identität und Gesellschaft. Frankfurt a. M. 1973; Oerter, Rolf/ Montada, Leo (Hg.): Entwicklungspsychologie. Weinheim 1995; Piaget, Jean: Psychologie der Intelligenz. Stuttgart 2000; Roth, Heinrich (Hg.): Begabung und Lernen. Stuttgart 1969.

RITA MARX

Autobiographisches   Theater   –   Didaktik   –   Geschichte der Pädagogik – Geschichte der Sozialpädagogik – Initiation – Lebensbegleitendes Lernen – Methodik – Regenbogen der Wünsche – Scham – Selbsttäuschungstheorie und Bewusstheitstheorie