Wörterbuch der Theaterpädagogik (erschienen 2003)

Bewegungserziehung

 

Die Auffassungen über die Bedeutung der Bewegung und Leiblichkeit für die Erziehung des Menschen und für das Theater sind von der Antike (griechische Gymnastik) bis heute einem stetigen Wandel unterworfen. Insbesondere die der Aufklärung verpflichteten Philanthropen (Guts Muths u. a.) stellen im späten 18. Jh. in kulturkritischer Orientierung an J. Rousseau die Erziehung durch und zur Bewegung ins Zentrum ihrer jeweiligen Pädagogik. In der reformpädagogischen Bewegung des letzten Jhs. betonen Rudolf von Laban  (Tanz),  Rudolf Steiner (Eurythmie), Émile Jaques-Dalcroze (Rhythmische Erziehung), Mary Wigman (Ausdruckstanz) und Rudolf Bode (Ausdrucksgymnastik) die Bewegungsbildung und -gestaltung (Bewegungschöre) im bewussten Rückgriff auf kultische Rituale und altgriechische Tragödien. Daneben entstehen, teilweise auch von asiatischen Bewegungsansätzen beeinflusste, neue Reformkonzepte zur B, die sich vor allem einer ,ganzheitlichen‘ und ,natürlichen‘ Leibeserziehung verpflichtet  fühlen  (z. B.  Elsa Gindler)  und  die  alten gymnastischen Traditionen in Frage stellen und grundlegend reformieren.

Die Leibeserziehung, oft Synonym für B, wandelt sich aufgrund der sich rapide verändernden Sport- und Bewegungskultur seit Anfang der 1970er Jahre zur Sportpädagogik. Sie wird in Abhängigkeit zu den unterschiedlichen Gesellschaftssystemen der DDR und BRD jeweils spezifisch geprägt. Neuerdings wendet sie sich in einem paradigmatisch-kritischen Wechsel und im Reflex auf bewegungskulturelle Entwicklungen seit den 1980er Jahren vom Sport zur Bewegung bzw. zu Sport und Bewegung. Dabei stellt sie wieder bildungstheoretische Fragen der B in den Mittelpunkt des Forschungsinteresses (vgl. Prohl). Allen Epochen gemeinsam ist der mehr oder weniger ausgeprägte Versuch der Instrumentalisierung und Funktionalisierung der B für übergeordnete Zwecke (Politik, Militär, Bildung, Menschenbild, sozialer Wandel usw.).

Im Fokus der ThP (einschließlich der Schauspielpädagogik) ist der Einfluss der o.g. Reformansätze unübersehbar  (Körper und  Bewegungsstudium) und geht mit der Anfang des 20. Jhs. parallel stattfindenden Theaterreform einher. Verbindungslinien zwischen der sich wandelnden Bewegungskultur und der sich radikal verändernden Theaterlandschaft bestanden z.B. zwischen Edward Gordon Craig, Konstantin S. Stanislawski, Adolphe Appia, Jacques Copeau und Émile Jaques-Dalcroze (1907), zwischen Craig und der Tänzerin Isadora Duncan (vgl. Brauneck, 65ff.) und zwischen Rudolf von Laban und Michail Cechov.

Die B zielt weitgefasst auf (Selbst-)Wahrnehmung (Aisthesis), Gestaltung (Poiesis) und Wirkung und ist in Bezug auf Theater auf gestaltende Nachahmung (Mimesis) und Konstruktion gerichtet. Sie beinhaltet im engeren Sinne von der Gymnastik beeinflusste, auf die Darstellenden Künste spezialisierte Bewegungsmethoden und ihre Konzepte, insbesondere Körper- und Bewegungspraxeologien und Gymnologien in der Tradition der Reformpädagogik (vgl. Jurké 2002; Petzold).

Ihr wohl bedeutendster Vertreter im deutschsprachigen Raum, der Tänzer, Choreograph und Bewegungsforscher Rudolf von Laban (1879–1958) stellt in The Mastery of Movement on the Stage (1950, deutsch Die Kunst der Bewegung) die innere Bewegungsmotivation für äußeres Körpergeschehen in den Mittelpunkt und bezieht seine Aussagen nicht nur auf den Tanz, sondern ausdrücklich auch auf Schauspiel. Darüber hinaus formuliert Laban explizit einen persönlichkeitsbildenden Anspruch. Ausgewiesene Praktikerinnen in der ThP wie  die   Bewegungserzieherinnen Katja Delakova (1984), Ilse Loesch (1974) und Hildegard → Buchwald Wegeleben (1981) entwickelten ihre je eigenen Methoden auf dem o. g. historischen Hintergrund und auf der Grundlage ihrer langjährigen Lehrerfahrung. Letztere entwickelte ihre Methode in expliziter Anbindung  an  die  Schauspielmethodiken Brechts  (Gestisches Prinzip) und Stanislawskis (Physische Handlung), in enger Verzahnung mit den anderen Bewegungsfächern und mit den konkreten Praxisbedürfnissen der Schauspieler am Theater (Berliner Ensemble).

Eine künstlerische, integrative B in der Ausbildung von SchauspielstudentInnen und Studierenden thp Studiengänge umfasst im weiteren Sinne die Nachbardisziplinen wie Tanz, Gymnastik (Körper- und Bewegungsstudium),  Pantomime und Commedia dell’Arte-Techniken, Schauspielakrobatik, Bühnenfechten, Körperstimmtraining (vgl. Ebert u. a.), asiatische ,Bewegungskünste‘ u. a., die mit ihren je spezifischen Anforderungen zur Entwicklung und Erweiterung der körperlichen Ausdrucksmittel und des Bewegungsrepertoires beitragen. Bekanntes Beispiel für die Anbindung solcher Inhalte an eine Theaterästhetik ist Meyerholds Biomechanik, sein Konzept einer B, das alle o. g. Teilbereiche integrativ auf seine Theatervisionen ausrichtete (vgl. Bochow).

B steht in sehr engem Zusammenhang zur Sprecherziehung,  da  das  Sprechen  immer  als  ein  ganzkörperliches, ,bewegtes‘ Geschehen, als ein körperlicher Vorgang anzusehen ist (vgl. z. B. Ritter; Klawitter 1 a.). Das Sich-bewegen auf der Bühne findet ebenso wie das Sprechen in Situationen statt. Dieses situative Prinzip, welches immer auch eine Zielorientierung und die Sinnhaftigkeit des Handelns einschließt, soll auch für den Trainingsoder Übungsbetrieb im Bewegungsunterricht gelten, um unmotiviertes, mechanisches Handeln zu vermeiden. Die wechselseitige Verknüpfung innerer und äußerer (Bewegungs-)Vorgänge gewährleistet, dass auch in Übungsprozessen nicht technische, sondern ästhetisch-künstlerische Vorgänge stattfinden und beobachtbar sind.

Trotz aller Unterschiedlichkeit der zahlreichen Konzepte der B lassen sich übereinstimmende bewegungs- und schauspielästhetische Kriterien, Themen und Kompetenzen einer (post-)dramatischen Bewegungserziehung ausmachen (vgl. Jurké 1998). Hierzu gehören ,Physische Handlung‘ (Stanislawski) und ,Gestisches Prinzip‘ (Brecht), Motivation statt Mechanik, Widerspruch in der Bewegung, Präsenz, Expressivität, Konzentration, Antizipation, ,Dynamischer Ausdruck im Raum‘ ( Artaud), Körperbewusstsein, ,Gefühlsathletik‘ (Artaud) und nicht zuletzt Bewegungslust.

Vor dem Hintergrund der gemeinsamen Wurzeln von Tanz und Theater und deren Annnäherung und Vermischung wird es immer schwieriger, eine theaterspezifische Bewegungsästhetik zu bestimmen. Neuerdings widmet sich auch die Theaterwissenschaft dieser spezifischen Forschungsfrage (vgl. Jeschke u. a.). In Ausbildungsinstitutionen sollten gerade die Spezifika einer theaterkünstlerischen Bewegungserziehung im Hinblick auf komplexer werdende Berufsanforderungen vermittelt werden. Tanz und ,Körperarbeit‘, z. B. im Sinne  des  eigenleiblichen  Spürens  Elsa  Gindlers (vgl. Ludwig) oder der Bewegungsbewusstheit von Moshé  Feldenkrais  (1987)  können  körperkritisch hinzugezogen werden. Diese unspezifischen, nichtkünstlerischen Ansätze der B können als Ergänzung dienen. Bei ihrem Einsatz sollten sich die Verantwortlichen der Wirkungsabsicht von Theater bewusst sein und sie auf die speziellen Bedürfnisse der Berufsausbildung abstimmen. Dadurch besteht die Möglichkeit, der Gefahr übermäßiger Selbstbezüglichkeit zu entgehen. Diese kann auch durch einen möglichst hohen, rational bestimmten Reflexionsgrad über die Körper- und Bewegungsarbeit verhindert werden.

Ein weiteres Forschungsdesiderat einer Theaterbewegungsforschung könnte die Aufarbeitung der theaterspezifischen B in den beiden deutschen Staaten sein. Hier wäre auch ein Vergleich der B im professionellen und nichtprofessionellen Theaterspiel hinsichtlich ihrer gemeinsamen Wurzeln und unterschiedlichen  Entwicklungswege lohnend.

Bochow, Jörg: Das Theater Meyerholds und die Biomechanik. Berlin 1997; Brauneck, Manfred: Theater im 20. Jahrhundert. Reinbek 1986; Buchwald-Wegeleben, Hildegard: Bewegung. In: Ebert/Penka, a.a.O.; Delakova, Katya: Beweglichkeit. München 1984; Ebert, Gerhardt/Penka, Rudolf (Hg.): Schauspielen. Berlin 1981; Feldenkrais, Moshé: Die Entdeckung des Selbstverständlichen. Frankfurt a. M. 1987; Jaques-Dalcroze, Emile: Rhythmus, Musik und Erziehung. Basel 1921; Jeschke, Claudia/Bayerdörfer, Hans-Peter: Bewegung im Blick. Beiträge zu einer theaterwissenschaftlichen Bewegungsforschung. Berlin 2000; Jurké, Volker: Zum künstlerischen Körperund Bewegungsstudium. In: Vaßen, Florian u. a. (Hg.): Wechselspiel: Körper Theater Erfahrung. Frankfurt a. M. 1998; Ders.: Der Körper lügt! Zur Bedeutung der Körperarbeit in der Theaterpädagogik. In: Korrespondenzen, 2002, H. 40; Klawitter, Klaus/Minnich, Herbert: Sprechen. In: Ebert/Penka, a.a.O.; Laban, Rudolf von: Die Kunst der Bewegung. Wilhelmshaven 1988; Loesch, Ilse: Sprechende Bewegung. Berlin 1974; Petzold, Hilarion: Überlegungen zur Praxeologie körper- und bewegungsorientierter Arbeit mit Menschen aus integrativer Perspektive.   www.gestalttherapie.de   02/01;   Prohl, Robert (Hg.): Bildung und Bewegung. Hamburg 2001; Ritter, Hans Martin: Sprechen auf der Bühne. Berlin 1999.

VOLKER JURKÉ

Bewegung – Geste – Sportpädagogik