Wörterbuch der Theaterpädagogik (erschienen 2003)

Ästhetischer Wert

Der Begriff des ÄW geht zurück auf die sprachanalytischen Arbeiten in den 1920er/30er Jahren der sog. Prager Strukturalisten Roman Jakobson und Jan Mukarovsky. In den thp Diskurs wurde er eingebettet und aktualisiert im Zusammenhang der Profilierung der Darstellenden Kommunikation als Grundlagenwissenschaft der ThP. Jakobson und Mukarovsky bestimmen die Poetizität literarischer Texte im Kontext einer Funktionenanalyse sprachlicher  Kommunikation und beschreiben sie damit als lebendigen Bestandteil gesellschaftlicher Kommunikation insgesamt. In Erweiterung des Bühlerschen Organonmodells, in dem die referentielle, appellative und emotive Funktion der Sprache in ihrem Bezug auf Gegenstände und Sachverhalte, den Empfänger und den Sender einer Nachricht dargestellt wurde (vgl. Holenstein 7ff.), definiert Jakobson die ästhetische Funktion der Sprache in der besonderen Einstellung des Senders auf das Zeichen als Zeichen, d. h. auf das Zeichen außerhalb seiner funktionalen Verwendung. In der Aufmerksamkeit auf Rhythmus und Klang, die sich über die gewohnte Sprachverwendung legen, entstehen „Polyvalenz“ und „Spürbarkeit der Zeichen“ (Jakobson 92ff.), die sich im „Zaudern zwischen Laut und Bedeutung“ (Paul Valéry, zit. ebd.) manifestieren.

Als Wert messbar wird künstlerische Qualität demnach erst im Aufprall des Kunstwerks auf die rezipierenden Subjekte und damit auf die „Gesamtheit der Werte,  die  die  Lebenspraxis  des  Kollektivs leiten“ (Mukarovsky 104). Im Unterschied etwa zu einem Gesetzeswerk, das die gesellschaftlichen Werte festschreibt, definiert der ÄW die vorfindlichen Normen, einschließlich der ästhetischen, um – d. h. ein ÄW ist gerade nicht in ihrer Erfüllung zu erreichen, sondern stellt sie vielmehr auf die Probe. In der wechselseitigen Spannung zwischen gesellschaftlichen Normen und ästhetischer Form, in ihrem Wirkungsmoment, bildet sich der ästhetische Gehalt der Kunst. ÄW entfaltet sich also nicht schon in der wie immer beschaffenen Qualität des ästhetischen Artefakts, in der handwerklichen Qualität des Kunstprodukts, sondern in der Qualität der Kommunikation, die es an bestimmtem Ort und zu bestimmter Zeit auslöst.

Im Kontext von Theater bezeichnet der ÄW entsprechend eine Konstellation zwischen dem gestalteten Bühnengeschehen und seinem Publikum, in der, oft blitzartig, eine Ähnlichkeitsbeziehung (Mimesis) zwischen den Anwesenden, also den schauspielend und den zuschauend am Theater-Ereignis Beteiligten stattfindet. „Es ist wie das Dazukommen des Dritten, das im Augenblick erfasst sein will.“ (Benjamin 206)

In seinem referentiellen Bezug auf diese flüchtige außersprachliche Wirklichkeit haftet dem ÄW etwas notwendig Unpräzises an, bezeichnet er doch Phänomene, die sprachlich nicht eineindeutig zu bezeichnen, sondern im Moment des Ereignisses zunächst erst zu (er)spüren, d.h. als sinnliche Evidenz (als Stille, als Atmosphäre, Lachreiz oder Gerührtheit) zu erfassen sind und hernach eher zu Geschichten oder Fragen, denn zu Definitionen drängen.

Im Kontext der ThP gewinnt dabei das Moment der Zeitlichkeit besonderes Gewicht. Denn mit dem Einziehen pädagogischer Absichten in theatrale Gestaltungsprozesse werden reflektierte und verantwortbare Weg-Ziel-Bestimmungen unabdingbar. Aufgrund der Unabwägbarkeit kommunikativer Situationen sowie der Befindlichkeiten der unterschiedlich involvierten Akteure darin, kann ein ÄW hier nur bedingt planvoll, d.h.  handwerklich sichergestellt und methodisch verbürgt werden. Er steht also in Spannung zum traditionellen ,pädagogischen Geschäft‘ und seinen Wertesystemen. Nichtsdestoweniger ist die Schöpfung von ÄW im absichtsvollen Widerspruch zu den Strategie- und Wertmaßstäben der Lebensvollzüge eine unabdingbare, da profilgebende Zielgröße thp Bildungsangebote.

Die Dialektik von pädagogischem Prozess und ästhetischem Innehalten in mimetischen Konstellationen findet in der thp Theoriebildung ihre Entsprechung im Begriff des ,ästhetischen Moments‘ (vgl. Ruping 17; Wenzel 20ff.). Er bezeichnet das unversehene Umschlagen planvoller Gestaltungsprozesse in ästhetische Evidenz. „Ich spreche vom ästhetischen Moment, wenn ein Stück Theater zu einem Theaterereignis wird, dieser Moment, wenn ein Engel durchs Zimmer geht, wenn eine Gänsehaut die Wahrnehmung verkörpert oder wenn etwas stimmt, ohne dass ich schon sagen kann, warum –, d. h. wenn sich eine Sinnlichkeit auf die Sinnproduktionen legt, der kaum ein Begriff standhält.“ (Ruping 17)

Im Kontext der Didaktik der ThP provoziert der ÄW auf allen Ebenen der Darstellenden Kommunikation  das  absichtsvolle  Einziehen  von  Experiment und Aleatorik in die Vorbereitung und Durchführung der Spielprozesse. Zugleich qualifiziert er jedes theatrale  Unternehmen  als Projekt,  d. h.  als  einen Prozess ins Offene. Darin sind die Aufführungen keine Festschreibung, sondern die Ausstellung des Für-Wert-Empfundenen und In-Form-Gebundenen nach außen. Es handelt sich hier um die experimentelle Öffnung  der  Gestaltungsprozesse für die Wertschöpfungen durch den Zuschauer, von dem Theater, so Meyerhold, „mitgeschaffen“ wird und für den es also ein „Gespür“ zu entwickeln gilt. Denn der ÄW einer Theater-Aufführung,  der  „Augenblick“,  in  dem sie „zu existieren beginnt“, ist, wenn „es im Zuschauersaal ein Echo auf das, was sich jenseits der Rampe tut, gibt“ (Meyerhold 97f.).

Benjamin, Walter: Lehre vom Ähnlichen. In: Ders.: Werkausgabe, Bd. 4: Metaphysisch-geschichtsphilosophische Schriften. Frankfurt a. M. 1980; Holenstein, Elmar: Von der Poesie und der Plurifunktionalität der Sprache. In: Jakobson, a.a.O.; Jakobson, Roman: Poetik. Frankfurt a. M. 1979; Meyerhold, Wsewolod E.: Rede auf der Gedenkfeier für J.Wachtangow. In: Ders.: Schriften, Bd. 2. Berlin 1979; Mukarovsky, Jan: Kapitel aus der Ästhetik. Frankfurt a. M. 1974; Ruping, Bernd: Die Brauchbarkeit des Ästhetischen. In: Korrespondenzen, 2001, H. 38; Wenzel, Karola: Vom Einfangen des Ästhetischen Werts. Zur Typologie der Ästhetischen Funktion. In: Korrespondenzen, 2001, H. 38.

BERND RUPING

Ästhetische Bildung – Erlebnispädagogik – Illusion im Theater – Prozess und Produkt –  Sinnlichkeit