Wörterbuch der Theaterpädagogik (erschienen 2003)

Warming Up

WU geschieht körperlich, mental, interaktiv. WU wurde als Synonym für den gesamten Bereich der Aufmerksamkeitsbündelung in die ThP übernommen und bezeichnet auch die Inauguralphase eines beginnenden Spiel- und Theaterprozesses. WU geschieht sowohl in Langzeitarbeitsformen als auch in kürzer angelegten Unterrichtseinheiten.

Als Lehnwort aus dem Englischen stammt dieser Begriff  vermutlich  aus  der → Sportpädagogik  –  hier bereits seit 1893 als Bezeichnung für die Vorbereitungsphase bei Wettkämpfen in Gebrauch; dann eingegangen  in  die → Tanzpädagogik  und  seit  den  frühen 1960er Jahren in der Interaktions- und Spielpädagogik geläufig. ,Sich erwärmen/sich warmlaufen‘ ist auch in der Fernsehbranche eine geläufige Metapher für das Einstimmen des Publikums vor Beginn einer Sendung. Ganz ähnlich ist WU auch als Zuhörerbindung (→ Rhetorik) an RednerInnen und ein darzulegendes Thema zu verstehen. Der Begriff des cool down meint den Ausklang, also eine Entspannungsphase oder eine nochmalige Bündelung mit Ausblick auf kommende Probeneinheiten.

Im Allgemeinen besitzt das WU in thp Arbeitseinheiten die Aufgabe, Spielfähigkeit im Hinblick auf die weiteren Übungen bzw. Probenzusammenhänge herzustellen. Der Fertigkeitsstand der DarstellerInnen, hier ihre darstellerisch-technische Vorbereitung, ist einerseits Voraussetzung der Übungsangebote, wie andererseits die thematische Einführung in die Einzelheiten des Arbeitsthemas und die Erläuterung der organisatorischen Details des Arbeitsprozesses, z. B. Orte, Zeiten, Sprachverständigung, Anreden, Namentausch usw. Hierhin gehört beispielsweise auch die Erläuterung oft zieldivergenter Übungen, um Arbeits- bzw. Ergebnistransparenz bei den TeilnehmerInnen herzustellen. Fragen von TeilnehmerInnen (und Antworten  der → Spielleitung),  warum  diese  oder  jene Methode angewandt wird, fördern Transparenz. Schlüssige Antworten bezüglich der Unterrichtsmotive und der Entwicklung mancher Übungen und Trainingsmethoden bauen Vertrauen zur Spielleitung auf. Bei der Wahl der Übungen erscheint es sinnvoll, den Fortschritt des Arbeitsprozesses, die sich entwickelnde Gruppendynamik sowie den Fertigkeitsstand der Einzelnen zu berücksichtigen.

Körperliches WU stammt aus Sport, Tanz und Training des Bewegungstheaters. Bewegungsübungen sollen Herzfrequenz, Kreislauf und Muskelaktionen aktivieren und individuelle Leistungsstandards zum Erreichen der Arbeitziele fördern. Körperlich intendierte thp Arbeitsziele werden allgemein mit einer entspannten Muskelhaltung, dem Erreichen eines spontanen, impulsstarken Spielzustandes, einer Bereitschaft auf den eigenen Körper und die mitspielende Gruppe einzugehen, beschrieben. Spannungszustände der Teilnehmenden können in freien oder gezielten Bewegungstrainings ermittelt, offenbart und, wenn nötig, gelöst werden. Hierzu gehören Trainingsmethoden, die einzelne Körperpartien oder Ausdrucksmittel wie Haltungen, Gestik, Mimik, Atem, Stimme und besondere Tätigkeiten, die einen immer gleichen Ablauf verlangen, anzusprechen. Es werden ästhetische Gebrauchsformen gelernt. Allerdings sind hier keine sinnentleerten   Bewegungsformen   gemeint. Nach Jacques  Lecoq,  der  den  Begriff  der  ,dramatischen Gymnastik‘ prägte, soll jede Bewegungsübung mit einem begründeten Handlungskontext verbunden werden. Für Lecoq zielt diese Arbeitweise nicht darauf, einem Vorbild oder vorgefertigten physischen Muster nachzustreben, sondern dem Trainierenden bei der Herstellung der Fiktion im Bühnenspiel Hilfestellungen zu geben.

Beispiel: Aus der gestreckten Position mit erhobenen Armen bewirkt der Fall des Rumpfes eine Bewegung des Körpers und dann im Zurückschwingen eine Rückkehr in die Ausgangsposition. Ausführung in diesen Schritten:

  1. mechanische einfache Art, Training des Ablaufs;
  2. körperlich vergrößern, schneller, höher, tiefer, dynamischer, energetischer;
  3. Anfangspunkt und Endpunkt (Streckung und Beuge) der Bewegung bewusst ausführen;
  4. sich von der Schwerkraft nach unten reißen lassen und zum gestreckten Nullpunkt zurück;
  5. Exspiration beim Niedergehen und Aufrichten – Respiration in der Streckung;
  6. eine parallele Bildfiktion wird nun visualisiert (Welle, Hinabstürzen, fliegender Ball );
  7. Hinzufügen eines Tons, einer Melodie, eines Wortes, eines Satzes

Mentales WU bezieht verschiedene Komplexe der geistig-psychischen Vorbereitung des thp Arbeitsprozesses mit ein. So spielen vor allem die Teile des Gedächtnisses eine entscheidende Rolle, die dem/der Darstellenden unterschiedliche Atmosphären, Situationen oder Körperreaktionen ins Bewusstsein holen. Konstantin → Stanislawski  beobachtete  als  einer  der ersten, dass große schauspielerische Leistung immer mit einer mental-körperlichen Entspannung des spielenden Menschen einhergeht. Allerdings erreicht ein einmaliger körperlicher Entspannungszustand keine Wirkung auf längere Zeit. Es muss ein immerwährender Bewusstseinsprozess, den er ,Kontrolleur‘ nennt, etabliert werden.

Erst dann erfolgt die Bündelung der Aufmerksamkeit auf die Unterrichtsziele, also die in vielen schauspielpädagogischen Ansätzen beschriebene mentale Energie. Durch ein effektvolles Energiemanagement durch den/die TheaterpädagogIn soll ein Maximum an Konzentration bei einem gleichzeitigen Gefühl von Leichtigkeit (vgl. Cechov) erreicht werden. Michail → Cechov entwickelte Arbeitsmethoden, die nach höchster Sensibilität für schöpferische Impulse suchten und vor allem durch das Weglassen aller überflüssigen, vorschnellen Kritik an Inhalten, Spielangeboten ein Höchstmaß an Transparenz und Toleranz vom Teilnehmenden und Pädagogen gleichsam forderten. Damit ist zusätzlich eine grundsätzliche Arbeitsdisposition für alle Arten von Improvisationsspielen angesprochen, ähnlich der von Keith → Johnstone geforderten positiven Spielhaltung des ,Sag ja‘.

Die mentale Ausgestaltung des WU stellt sich an vielen Stellen der spiel- und thp Literatur als ein Training gegen Phantasieoder Spielblockaden und als Korrektur der eventuellen Überbewertung von Wollen und Denken gegenüber dem Sich-Befinden dar. Die unterschiedlichen theater- bzw. schauspielpädagogischen Unterrichtssysteme des vergangenen Jhs. haben, ausgehend von ihren ästhetischen Theaterkonzepten, eine Fülle an Übungen hervorgebracht. Allen gemeinsam gilt, Spielphantasie und Transparenzfähigkeit zu schulen und eine entsprechende Gruppenübereinkunft im Sinne sog. ,Flow-Erfahrungen‘ (vgl. Csikszentmihalyi) für die später folgenden Probenaufgaben vorzubereiten. Entwickelt finden wir diese Gedanken in der amerikanischen method Lee → Strasbergs und den Vorschlägen des russischen Regisseurs Jewgeni Wachtangow. Letzterem ist es darum zu tun, die darstellerische Aufmerksamkeit zu konzentrieren und anzuspornen.

Eine mentale Fähigkeit als Vorgriff auf die Schauspielarbeit sollte durch ein intensives spielvorbereitendes Training etabliert werden: die Arbeit an einer konstanten Objektbeziehung auf der Bühne, also die Befähigung des Spielenden, schnell sein Objekt der Konzentration zu finden und sich von diesem binden zu lassen. Solche Überlegungen gehen davon aus, dass sich die energetische Spielhaltung immer auf klar definierte Zonen der Aufmerksamkeit konzentrieren muss. Dabei scheint es für das der eigentlichen Improvisation vorgeschaltete WU noch unerheblich zu sein, auf was sich die Konzentrationsprozesse richten. Es können ein besonderer Gegenstand, die Spielidee, das Handeln weiterer Personen, eigene Phantasie- oder Handlungsimpulse, Wörter, ganze Textrepliken, Klänge, Gerüche, Gefühle sein. Während dieser Phase werden wichtige mentale Fähigkeiten, die vorsichtig mit dem Begriff des ‚authentischen Einfühlens‘ in die gegebenen Situationen umschrieben werden können, trainiert. Wachtangows Begriff ,Objekt der Aufmerksamkeit‘ deutet auf weitgehende Transparenzdispositionen sowie auf ein überzeugendes Eingelebtsein in die beabsichtigte Bühnensituation hin.

Interaktives WU bettet sich mit seinen Arbeitsmethoden, die mit Ansätzen aus der → Erlebnis – bzw. Interaktionspädagogik verglichen werden können, sowohl in die Inaugurationsphase wie in eine längere cooldown-Sequenz ein. Man umschreibt das interaktive WU als ein Verankern von Kooperationsbereitschaft im Gefolge des Wachsens gruppendynamischer Kompetenzen der Teilnehmenden (Kohäsionsfähigkeit). Übungen befassen sich mit der Gruppenkompetenz des Einzelnen, mit dem Abbau von Berührungs- und Leistungsängsten, den Ressentiments gegenüber anderen vor allem in interkulturellen oder intersozialen Gruppenkonstellationen sowie der Selbst- und Fremdwahrnehmung. Es soll durch Ähnlichkeitserfahrungen Empathie mit anderen gefördert sowie ein adäquates Problemlösungsverhalten für die weiteren Arbeitsphasen trainiert werden, um bei den TeilnehmerInnen ein entwickeltes Gefühl für Toleranz zu erreichen. In weiteren Arbeitsschritten des interaktiven WU können  auch  Umgangsregeln  der → Gruppe  mit  dem Einzelnen und umgekehrt entwickelt werden. Ziel muss aber bleiben, sowohl dem Einzelnen wie auch Kleingruppen kreative Freiräume zu eröffnen.

Die Interventionen und Arbeitsaufgaben der thp Spielleitung sollen WU-Prozesse initiieren und ihnen induktiv-begleitend eine Richtung geben. Der persönliche Stil der Pädagogen, ihr partnerschaftliches Verhalten, scheint oft maßgebend für die Bereitschaft zur Mitarbeit zu sein.

Cechov, Michail: Die Kunst des Schauspielers. Stuttgart 1990; Csikszentmihalyi, Mihaly: Flow. Stuttgart 2001; Johnstone, Keith: Improvisation und Theater. Berlin 1995; Lecoq, Jacques: Der poetische Körper. Berlin 2000; Spolin, Viola: Improvisationstechniken für Pädagogik, Therapie und Theater. Paderborn 1985; Stanislawski, Konstantin: Die Arbeit des Schauspielers an der Rolle. Berlin 1955; Strasberg, Lee: Schauspielen und das Training des Schauspielers. Berlin 1988; Wachtangow, Jewgeni: Schriften. Berlin 1982.

ANDREAS POPPE

Improvisation – Rollenarbeit