Wörterbuch der Theaterpädagogik (erschienen 2003)

Thingspiel

Der Kölner Theaterwissenschaftler Carl Niessen reklamiert für sich, im Juli 1933 den Begriff des T erfunden zu haben. Abgeleitet vom althochdeutschen Begriff thing, der nach Niessen die ,altgermanische politisch-rechtliche Gerichtsversammlung im Steinring‘ bezeichnet, steht das T für den einzigen entwickelten Versuch des Nationalsozialismus, eine genuine Theaterkultur zu kreieren. Bei allen Einschränkungen, die gemacht werden müssen, was den Grad von Innovation betrifft – das T war ein Sammelsurium aus Elementen des linken Agitprop-Theaters (Sprech- und Bewegungs-Chöre), der NS-Veranstaltungs-Dramaturgie, des ,Gesamtkunstwerk‘-Modells und auch der Retheatralisierungs-Konzepte der Jahrhundertwende – war es doch der einzig wirklich großangelegte Versuch einer spezifischen Theaterpraxis für die apostrophierte neue Menschengemeinschaft. Signifikant ist die Überlagerung von ,völkisch‘-kulthafter Bewegung und moderner, staatstragender, technifizierter ,Performance‘-Strategie.

Dabei sammelten sich in der Thing-Bewegung ganz verschiedene Konzeptionen. Während der von Wilhelm K. Gerst 1931 gegründete ,Reichsausschuß für deutsche Volksschauspiele‘, der bereits im Juli 1933 von  Otto  Laubinger,  der  dann  erster  Präsident der ,Reichstheaterkammer‘ wurde, zum ,Reichsbund‘ gemacht wurde, eher eine hausbackene Naturtheater- Romantik anstrebte, setzten dem die jungen Dichter wie Richard Euringer ihr Modell entgegen: Thing als Festtagsfeier, Gericht, Totenkult. Ziel zumindest des radikaleren Teils der Thingler war die Überschreitung der Grenzen des Theaters, die Aufhebung der Trennung von Spieler und Zuschauer. So betonte einer der neuen ,Thingspielpfleger‘, Hans Vogel: „Thingspiele bedeuten keine künstlerische Revolution, sollen auch nicht Vorstoß in die Bezirke des Theaters sein. Hier hat sich etwas Neues entwickelt, zu dem nicht Elemente des Theaters Pate gestanden haben. Thingspiel heißt die zur Handlung gesteigerte politische Rede des nationalsozialistischen Führertums, Thingspiel heißt Aufmarschspiel der völkischen Gliederungen an den höchsten Feier- und Festtagen der Nation.“ (zit. n. Stommer 86) und war ein Versuch, die christlichen Traditionen durch neuheidnische  zurückzudrängen.

Thing war hier als die ästhetische Steigerung der inszenierten Polit-Meetings gesehen worden, dem diente auch die Anlage vieler Thingplätze, wo sich die Spiel-Arena unmittelbar an ein Aufmarschfeld anschloss. Ab 1934 setzt die Planung für zunächst 66 Spielstätten ein, für deren größte ein Fassungsvermögen bis zu 200 000 Zuschauern vorgesehen war und die über das ganze Land verteilt werden sollten. 1934 waren allerdings erst sechs dieser Arenen fertiggestellt, in Halle, Heringsdorf, Holzminden, Jülich, Schmiedeberg und Stolzenau. Die ersten Aufführungen von T, zu deren Produktion ein Autorenwettbewerb veranstaltet wurde, fanden zunächst auf Provisorien statt. Thematisch konzentrierten sich die ersten T wie Euringers Deutsche Passion 1933 (UA im April 1933) oder Kurt Eggers’ Das Spiel von Job dem Deutschen (UA im November 1933) auf die Darstellung der ,deutschen Leidensgeschichte‘ seit dem verlorenen 1. Weltkrieg. Allerdings erhielten von den eingereichten Stücken, die sich zumeist als untauglich erwiesen, bis 1934 nur 14 den offiziellen Titel eines ,T‘ zuerkannt. Auf den dann fertiggestellten Thingplätzen wie Heiligenberg in Heidelberg, wo zu den Reichsfestspielen 1935 der Gastregisseur vom Preußischen Staatstheater, Lothar Müthel, Kurt Heynickes Der Weg ins Reich inszenierte, wurden neben den oft spätexpressionistisch-chorischen Dichtungen, die durch Fahnenaufmärsche durch die Gänge der Zuschauertribünen, durch rhetorische Fragen an die Zuschauer und das abschließende gemeinsame Singen der NS-Hymnen die Grenze zwischen Darstellern und Zuschauern aufheben sollten, auch reine Gemeinschaftskulte wie die ,Sonnenwendfeiern‘ abgehalten. Durch die Einbeziehung von Ausdruckstanz, Gymnastik und Sportfesten sollte in neuer Aufmachung an jene ,Ganzheitskonzepte‘ der 1910er und 1920er Jahre angeknüpft werden, die nicht Kunst, sondern einen neuen Menschen, eine neue Kultur und Gemeinschaft zum Ziel hatten (vgl. Eichberg u. a. 33f.).

Allerdings zwingt der vorherrschende Dilettantismus, die Schwierigkeit, ständig Massen zu den oft außerhalb der Städte liegenden Stätten zu befördern sowie die Gefahr der Ermüdung am ständigen kultischen Feiern Ende 1935 zu einer Korrektur. Goebbels warnt nun vor falschem Übereifer, vor der Inflation pathetischer Sprechchöre und leitet das Hauptgewicht wieder auf die traditionellen Theater. Diese Kehrtwende steht vor dem Hintergrund der als beendet erklärten ,Revolution‘. Statt der Mobilisierung und Aufladung von Anhängern, strebt man nun stärker eine an den Bedürfnissen der Bevölkerung orientierte repräsentative Ästhetik an. Versuche, die T stärker zu ästhetisieren, führten zur Hinzuziehung von ,Stars‘, die als Regisseure und Protagonisten dem eher laienhaften Spiel der eigens vom ,Reichsbund‘ gegründeten Spielgemeinschaften und den beteiligten SA- und HJEinheiten einen professionellen Zuschnitt verpassen sollten. Dennoch tragen die T nicht die vom Propagandaminister erhofften Früchte. Bereits Ende 1935 verschwinden die Begriffe ,Kult‘ und ,Thing‘ aus dem offiziellen Sprachgebrauch, im Mai 1936 erlässt Goebbels das Sprechchorverbot, um den Sprechchor den Reichsparteitagen und anderen Großereignissen vorzubehalten. Dennoch wird die größte realisierte Thing-Stätte  erst  1936  fertiggestellt:  die Berliner,Dietrich-Eckardt-Bühne‘ (heute ,Waldbühne‘). Als Teil des Olympia-Komplexes hat sie ein Fassungsvermögen von 20 500 Zuschauern; und sie war, entsprechend ihrer Größe, mit einer modernen Ton- und Lichtinstallation ausgestattet worden. Hier unternahm Eberhard Wolfgang Möller mit seinem anlässlich der Olympischen Spiele 1936 aufgeführten Frankenburger Würfelspiel einen Versuch, das T zum ,deutschen Lehrspiel‘ zu wandeln. In seinem historischen Gerichtsspiel sollten die Zuschauer als scheinbar ,Urteilende‘ aktiviert werden. „Durch den Chor entscheiden alle zwanzigtausend Zuschauer in der Arena über den Fall […]. Diese ,Verhandlungen vor dem Volk‘ werden einen neuen Theatersinn, eine neue Theateridee wekken, die wir einstweilen nur ahnen.“ (zit. n. Bochow 154)

Auch dieser Reformversuch des T blieb letztlich folgenlos. 1937 entzieht Propagandaminister Goebbels der T-Bewegung endgültig den Status der ,Reichswichtigkeit‘, die Spielgemeinschaften werden aufgelöst. Ohne dass es ein offizielles Verbot der T gibt, wird das gesamte Projekt abgeblasen.

Bochow, Jörg: Berliner Theater im Dritten Reich. In: Fischer-Lichte, Erika (Hg.): Berliner Theater im 20. Jahrhundert. Berlin 1998; Eichberg, Henning/Dultz, Michael/ Gadberry, Glen/Rühle, Günther: Massenspiele. NS-Thingspiel, Arbeiterweihespiel und olympisches Zeremoniell. Stuttgart 1977; Stommer, Rainer: Die inszenierte Volksgemeinschaft. Marburg 1985.

JÖRG BOCHOW

Chorisches Sprechen / Sprechchor – Mitspiel(theater) – Theater als öffentliche Institution – Theaterhistoriographie – Theaterwissenschaft – Theatralität – Zielgruppe – ZuschauSpieler