Wörterbuch der Theaterpädagogik (erschienen 2003)

Szenische Interpretation von Musiktheater

SIvM ist ein thp Ansatz, den es seit 1985 gibt. Die reformpädagogische Schuldiskussion der 1970er Jahre stellte die Schüler mit ihren Erfahrungen, Wünschen, Problemen und Ängsten verstärkt in den Mittelpunkt. Daraus erwuchsen verschiedene schülerorientierte Konzeptionen, von denen die erfahrungserschließende Musikerziehung (vgl. Nykrin) als Grundlage angesehen werden kann.

Wolfgang Martin Stroh (1985, 153) bezieht Ingo → Schellers (1981) Erfahrungsbegriff auf den Musikunterricht und schafft damit die Grundlage für die Verankerung des Szenischen Spiels im Lehrplan. An der Universität Oldenburg findet diese Konzeption auch unter Musikstudierenden große Beachtung. Brechts und Weills Dreigroschenoper ist das erste Werk, das aufgrund seiner einfachen (musikalischen) Struktur Möglichkeiten der Einbeziehung von Songs, die den agierenden Kollektiven zugeordnet sind, bietet (vgl. Brinkmann 1995; Brinkmann/Megnet). Es folgen Mozarts Don Giovanni (Brinkmann, unveröffentlicht), Bizets Carmen (Nebuth/Stroh 1990) und Mozarts Die Hochzeit des Figaro (Brinkmann 1992).

Nicht nur das Hören der Musik wird geübt, sondern zahlreiche musikalische Tätigkeiten (Stroh 1984) werden innerhalb der SIvM angewendet: Einfühlung durch Musik, Singen, Singhaltungen, Musik-Stop-Verfahren, Bewegungen und Bilder zu Musik, Szenisches Lesen und Spiel zu Musik, musikalisch-szenische Improvisation. Musikalische Grundkenntnisse oder Fähigkeiten werden nicht vorausgesetzt, aber natürlich bestimmen die Fähigkeiten der SpielerInnen das Niveau, auf dem die SIvM sich entwickelt.

Die SIvM besteht aus fünf Phasen: Vorbereitung, Einfühlung, szenisch-musikalische Arbeit (Haltungen, Bilder,  Spiel, → Improvisation,  Präsentation),  Ausfühlung und Reflexion. Für jede dieser Phasen gibt es verschiedene Methoden, die miteinander kombiniert werden können.

Die Vorbereitungsphase besteht aus Übungen zum Aufwärmen und Spielvorbereitungen, die auch in anderen Zusammenhängen genutzt werden. Die Einfühlungsphase ermöglicht den Zugang zu Rollen, historischen Zeiträumen, fremden Orten und zur Musik eines Werkes. Den SpielerInnen werden Materialien zur Verfügung gestellt (Rollenkarten, historische Gemälde, Landkarten usw.) oder sie hören ein Musikstück in Verbindung mit einer konkreten Hör- oder Bewegungsaufgabe (Phantasiereise, historischer Tanz, Gehhaltung zu Musik usw.). Die Rollenübernahme ermöglicht die Betrachtung des Werkes aus einer Perspektive von innen, die zunächst begrenzt erscheint. Im weiteren Verlauf der szenisch-musikalischen Arbeit wird aber durch die Spiel- und Reflexionsverfahren ständig ein Perspektivwechsel angeboten und gefordert. Die Ausfühlungsphase ermöglicht den Ausstieg aus einer Szene oder Rolle und macht den SpielerInnen die Differenz zwischen eigener Person und Rollenidentität bewusst. Hier setzt auch die Reflexionsphase an, in der die Erlebnisse des Spiels ausgewertet und in Beziehung zu den SpielerInnen, zur Spielgruppe, zur Gegenwart und zur Problematik des Stücks gesetzt werden.

Während anfangs nur Opern szenisch interpretiert wurden, setzte nach wenigen Jahren die Anwendung der Methodik auf Musicals, Operetten, programmatische und absolute Musik, Lieder und Gebrauchsmusik ein. Immer geht es der SIvM nicht um das Genre selbst, sondern um die Aneignung von komplexeren Stücken der fiktionalen und ,wirklichen‘ Realität.

„Als Interpretationsmethode steht sie in Konkurrenz zu anderen Methoden der Interpretation, im Falle der fiktionalen Realitäten denjenigen der Philologie, Literatur- oder Musikwissenschaft, der Hermeneutik, der didaktischen Interpretation, der Exegese usw. Als Interpretationsmethode ist die szenische Interpretation ,gemäßigt konstruktivistisch‘, da die Interpretation von den SpielerInnen selbst erarbeitet und da die Bedeutung eines Stücks fiktionaler Realität nicht ,herausgefunden‘, sondern aufgrund der individuellen Lebenserfahrung ,konstruiert‘ wird. Diese Konstruktion findet unter Anleitung einer PädagogIn statt, die nicht die zu konstruierenden Bedeutungen, sondern nur die ,Spielregeln‘ des Konstruierens vorgibt.“ (Brinkmann/ Kosuch u. a. 7).

Nahm die SIvM ihren Ausgangspunkt im Musikunterricht der allgemeinbildenden Schule, so wurde sie später von Opernhäusern erkannt als Möglichkeit, musiktheaterpädagogische Angebote zur Vorbereitung von Werken des Spielplans zu formulieren. Die Aufbauarbeit wurde zunächst von Markus Kosuch an der Staatsoper Stuttgart (Erlebnisraum Oper) geleistet, wo die Kooperation zwischen Oper, Lehrerfortbildung und Schulen des Landes Baden-Württemberg zu einem intensiven Austausch geführt hat. An der Berliner Staatsoper Unter den Linden ist ein weiteres Zentrum der institutionellen Kooperation unter der Leitung von Rainer O. Brinkmann entstanden, wo mittlerweile eine Ausbildung zum/zur SpielleiterIn für Szenische Interpretation von Musiktheater als berufsbegleitende Fortbildung besucht werden kann. Auch andere Opernhäuser im deutschsprachigen Raum (Komische Oper Berlin, Bayerische Staatsoper München, Sächsische Staatsoper Dresden) bieten mittlerweile SIvM als Nachwuchs bildende Maßnahme an.

Auf der europäischen Ebene hat sich ein Zusammenschluss der pädagogischen Abteilungen der Opernhäuser gebildet, die RESEO (Réseau européen des services éducatifs des maisons d’opéra). Auch hier hat sich die SIvM durchgesetzt als eine Methodensammlung, die in vielen verschiedenen Ländern in der Vermittlung von Musiktheater praktikabel ist. Ein Forschungsprojekt in Kooperation mit der Universität Oldenburg veranstaltet Fortbildungen an Opernhäusern der Teilnehmerländer und evaluiert die Ergebnisse im europäischen Kontext. Übersetzungen des Methodenkatalogs ins Englische und Französische sind 2001 fertig gestellt worden. Weiter Informationen über dieses Projekt findet man unter www.reseo.org  .

Die langjährige Zusammenarbeit in Lehre und Forschung führte die Urheber der SIvM 2001 zur Gründung des Instituts für Szenische Interpretation von Musiktheater (ISIM), das Service-Leistungen wie Konzepterstellung, LehrerInnen-Fortbildung, Evaluation und Beratung bietet. Aktuelle Informationen zum Forschungsstand, zur Literatur und zu Fortbildungen sind abzufragen unter www.musiktheaterpaedagogik.de.

Brinkmann, Rainer O.: Die Hochzeit des Figaro. Begründungen und Unterrichtsmaterialien. Oldershausen 1992; Ders.: Einfühlung in soziale Muster am Beispiel der Dreigroschenoper von Bertolt Brecht und Kurt Weill. In: Korrespondenzen, 1995, H. 23/24/25; Ders./Megnet, Katharina: Die Dreigroschenoper. Begründungen und Unterrichtsmaterialien. Oldershausen 1998; Ders./Kosuch, Markus/Stroh, Wolfgang Martin: Methodenkatalog der Szenischen Interpretation von Musiktheater. Oldershausen 2001; Kosuch, Markus/Stroh, Wolfgang Martin: Szenische Interpretation von Musiktheater – West Side Story. Begründungen und Unterrichtsmaterialien. Oldershausen 1997; Nebhuth, Ralf/Stroh, Wolfgang Martin: Mozarts Figaro – Erfahrungen mit Szenischer Interpretation. In: Musik und Bildung, 1990, H. 5; Dies.: Szenische Interpretation von Musiktheater – Carmen. Begründungen und Unterrichtsmaterialien. Oldershausen 1990; Nykrin, Rudolf: Erfahrungserschließende Musikerziehung. Konzepte – Argumente – Bilder. Regensburg 1978; Scheller, Ingo: Erfahrungsbezogener Unterricht. Königstein 1981; Stroh, Wolfgang Martin: Szenisches Spiel im Musikunterricht. In: Musik und Bildung, 1982, H. 6; Ders.: Zur Psychologie musikalischer Tätigkeit. Marohl 1984; Ders.: Umgang mit Musik im erfahrungsbezogenen Unterricht. In: Bastian, Hans Günter (Hg.): Umgang mit Musik. Laaber 1985; Ders.: Szenische Interpretation von Musiktheater – Wozzeck. Begründungen und Unterrichtsmaterialien. Oldershausen 1994; Ders.: ,Ich verstehe das, was ich will!‘ Handlungstheorien angesichts des musikpädagogischen Paradigmenwechsels. In: Musik und Bildung, 1999,  H. 3.

RAINER  O. BRINKMANN

Bibliodrama – Didaktik – Methodik – Musikspiele – Schulmusical – Schuloper – Theaterlied – Warming Up