Wörterbuch der Theaterpädagogik (erschienen 2003)

Stillstand

Der S eines Geschehens erzeugt bei den Beteiligten einen Eingriff in ihr Zeitempfinden und versucht, ihre Aufmerksamkeit auf einen Punkt der fiktiven Gegenwart  in  ihrer → Leiblichkeit  zu  fokussieren.  Das  aus zwei eng zusammengehörigen Wortfeldern gebildete Substantiv (still: stehend, unbeweglich und Stand: Ort des Stehens) hat hier die Bedeutung der Vergegenwärtigung einer augenblicklichen Befindlichkeit.

„Das Daß und Jetzt, der Augenblick, worin wir sind, wühlt in sich und empfindet sich nicht.“ (Bloch 334)

„Der Augenblick, dieses sonderbare Etwas, liegt zwischen der Bewegung und der Ruhe, keiner Zeit angehörig; und in ihm, aus ihm geht das Bewegte in die Ruhe über und das Ruhende zur Bewegung.“ (Parmenides zit. n. Bloch 340) Ernst Bloch nennt diesen gelebten Augenblick „dunkel“, nur „vom  Pulsschlag her wird der seelische Augenblick im Klopfen seines Jetzt erfahren“ (ebd.). Die Aufhellung dieses Dunkels erfordert, wenn es denn nicht wieder in die Zeitlichkeit der Subjektivität entweichen soll, einen philosophischen Lyrismus letzter Grenze. Als vollkommener Zustand wurde er in dem Begriff nunc stans der Mystik, dem carpe diem der lateinischen Dichtkunst und Goethes Satz „Verweile doch, du bist so schön“ in der klassischen Literatur angedeutet.

Als ekstatische Zeitlichkeit bildet die „Einheit  des,Außer-Sich‘“ in den Entrückungen von Zukunft, Gewesenheit und Gegenwart nach Martin Heidegger „die Bedingung der Möglichkeit dafür, daß ein Seiendes sein kann, das als sein ,Da‘ existiert. Das Seiende, das den Titel Da-sein trägt, ist gelichtet. […] Die ekstatische Zeitlichkeit lichtet das Da ursprünglich. Sie ist das primäre Regulativ der möglichen Einheit aller wesenhaften existenzialen Strukturen des Daseins.“ (Heidegger 250f.)

Der S oder das stillgestellte Geschehen ist damit vergleichbar dem Staunen vor dem nackten ,Dass‘. Im Vorgang des ,Entlebens‘ von dem unmittelbaren ,Erleben‘ – also seiner zunehmenden Vergegenständlichung in den Operationen der ,Sorge‘ – löst sich die Einheit der Situation auf. „Man ist aus dem unmittelbaren Sein herausgefallen und findet sich als jemand vor, der ,Gegenstände‘ hat, unter anderem auch sich selbst als einen Gegenstand, Subjekt genannt.“ (Safranski 124) So, wie dem Augenblick des S keine Zeitlichkeit zukommt, so entbehrt der stillgestellte Mensch jeglicher Subjektivität.

Das Zurückschreiten der Subjekte von den Formen des theoretischen ,Entlebens‘ oder des sich in den Lebensverhältnissen ,Festlebens‘ auf eine Erlebnisform, in der die Begriffe in die Anschauung zurück verwandelt werden, besagt für Heidegger nicht „absolute Unterbrochenheit des Lebensbezuges, keine Entspannung des Entlebten, keine theoretische Fest- und Kaltgestelltheit eines Erlebbaren, sondern sie ist der Index für die höchste Potentialität des Lebens. Sie ist ein Grundphänomen, das gerade in Momenten besonders intensiven Erlebens sich ereignet.“ (Safranski 125)

Walter →Benjamin hat die Vorstellung des sichtbaren messianischen Augenblicks der jüdischen Religion als Moment höchster Präsenz und Gegenwärtigkeit für den Aufriss eines historistisch-evolutiven Geschichtsbewusstseins eingesetzt. Es geht ihm um die Mobilisierung der geschichtlichen Motive der konkreten Menschen, um die „unmittelbare messianische Intensität des Herzens, des inneren einzelnen Menschen [die] durch Unglück, im Sinne des Leidens  hindurchgeht“ (Benjamin 1978b, 96). Eben diese Verknüpfung von konkreten Motiven und der wissenschaftlichen Analyse geschichtlicher Prozesse erkennt Benjamin in den Methoden der ,Dialektik im Stillstand‘ (Benjamin 1978c,  28)  des  epischen  Theaters  Bertolt → Brechts wieder.

Die Unterbrechungen des theatralen Spiels im epischen Theater bilden durch die Reflexion der eingefrorenen Haltungen und Gesten eine Verknüpfung der individuellen Motive mit den sozialen Interessen der geschichtlichen Vorgänge. „Im Staunenden erwacht das Interesse; in ihm allein ist das Interesse an seinem Ursprung da.“ (ebd. 20)

Was bei Benjamin als eine Art Dezisionismus erscheint, bezeichnet er selbst als positives ,Barbarentum‘ (Benjamin 1991b, 215). Erst im Eingeständnis der tatsächlichen Erfahrungsarmut öffnet sich ein künstlerischer Spielraum, der in der ThP den Umschlag einer künstlichen Auratisierung des Bühnengeschehens in authentische Haltungen der Spieler ermöglicht. Erfahrung kann sich in der Gegenwartsgesellschaft nur noch unter den Bedingungen „verminderter Aufmerksamkeit“ (Axel Honneth zit. n. Heil 65) ereignen. Die ThP erreicht solche Zustände durch aleatorische Techniken wie dem ,Freeze-Kommando‘ des Spielleiters, extremen Beschleunigungen oder Verlangsamungen des Spielgeschehens, bei denen die Reflexion der Spieler auf ein außerhalb der gegenwärtigen Aktion liegendes Darstellungsinteresse unterbrochen wird.

Man kann diese Arbeitsweisen als Konkretion der ästhetischen Theorie Benjamins verstehen: Ein auratisches Erfahrungskontinuum ist in den fraktalen Strukturen der Industriegesellschaft unmöglich geworden. In den künstlerischen Avantgardebewegungen des 20. Jhs. erkennt Benjamin den rückhaltlosen „Wille[n] zum Authentischen“ (Benjamin 1991a, 560), der in den bewussten und selbstreflektierten Erfahrungsmodi der traditionellen Kunst nicht mehr möglich ist.

Das Verfahren der Stillstellung des Geschehens ist somit der Ausgangspunkt der ThP zur Gewinnung von spielerischen Haltungen, in denen sich die Spieler unwillkürlich ertappen, um die künstlichen Auratisierungen des Text- und Regietheaters zu umgehen.

Benjamin, Walter: Geschichtsphilosophische Thesen. In: Ders.: Zur Kritik der Gewalt und andere Aufsätze. Frankfurt 1978a; Ders.: Theologisch-politisches Fragment. In: ebd., 1978b; Ders.: Was ist das epische Theater? – Studien zu Brecht. In : Ders.: Versuche über Brecht. Frankfurt a. M. 1978c; Ders.: Berichte. In: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 4/1. Frankfurt a. M. 1991a; Ders.: Erfahrung und Armut. In: Ders.: ebd., Bd. 2/1. 1991b; Bloch, Ernst: Prinzip Hoffnung,Bd. 1. Frankfurt a. M. 1978; Heidegger, Martin: Sein und Zeit. Tübingen 2001; Heil, Susanne: ,Gefährliche Beziehungen‘. Walter Benjamin und Carl Schmitt. Stuttgart 1996; Lévinas, Emmanuel: Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie. Freiburg, München 1999; Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung. Berlin 1965; Mersch, Dieter: Was sich zeigt – Materialität, Präsenz, Ereignis. München 2002; Safranski, Rüdiger: Ein Meister aus Deutschland – Heidegger und seine Zeit. Frankfurt a. M. 2001; Weber, Thomas: Erfahrung. In: Opitz, Michael/Wizisla, Erdmut (Hg.): Benjamins Begriffe, Bd. 1. Frankfurt a. M. 2000.

HANS-JOACHIM WIESE

Aleatorik – Authentizität – Geste – Gestus – Toc