Wörterbuch der Theaterpädagogik (erschienen 2003)

Statuentheater

S (,Image Theatre‘) wurde 1973 von Augusto Boal als   Technik   des  → ,Theaters   der   Unterdrückten‘ (,Teatro do Oprimido‘/TdU) im Rahmen seiner Arbeit in einem Alphabetisierungsprojekt in Peru entwickelt.

Als Instrument der szenischen Untersuchung sozialer und politischer Zusammenhänge ist das S mit dem Brechtschen → Lehrstück verwandt. Beiden gemein ist die ,Stillstellung des Geschehens‘ durch ,Unterbrechung der Abläufe‘ in Raum und Zeit (vgl. Benjamin 519ff.). „Während das Lehrstücktheater die durch Stillstellung aufgedeckte Verhältnismäßigkeit menschlicher Handlungen und Verhaltensweisen als textliches Muster präsentiert und einem spielenden Kollektiv zur Konkretisierung aufgibt, ist die Erzeugung des Spielimpulses und Untersuchungsgegenstandes bei → Boal schon Sache der Spielenden und ihres Spielleiters. Sie produzieren die Muster ihrer gesellschaftlichen Verstricktheit im Tableau, das dann als neuer Spielanlass von allen Beteiligten ‚sozialisiert‘ wird – über Identifikation, Wiedererkennen oder Resonanz.“ (Ruping 2002, 1; vgl. auch Ruping 1984) Boal kreiert eine „Antithese zur monologischen Aktion“ (Wiegand 61), indem er einen zwischenmenschlichen, solidarischen→ Dialog im ästhetischen Raum initiiert. Der ästhetische Raum entsteht bei Boal durch die Definition einer ,Plattform‘ (Boal 1999, 27) als Bühne. Seine drei wesentlichen Eigenschaften sind Teil der Boalschen Grundlagentheorie, die auch im S umgesetzt wird:

Plastizität (Boal 1999, 30ff.): Mit Hilfe der Bühnen-Verabredung kann die physikalische Materialität eines Raumes bzw. eines Gegenstandes allein durch Behauptung einer anderen Bedeutung in die Bühnenrealität jedes vorgestellten Raumes und Gegenstandes verwandelt werden. Entsprechend erhalten im S Erinnerungen und Vorstellungen von Unterdrückung Plastizität in der ästhetischen Form des Tableaus. Eine dargestellte → Geste  wird  darin  als  eine  bestimmte soziale Haltung behauptet und als solche im Rahmen der Bühnensituation ‚für wahr‘ genommen. Die bezeichnete Unterdrückung ist in der räumlichen und zeitlichen Realität der Übungssituation jedoch nicht wirklich vorhanden.

Dichotomie (Boal 1999, 32ff.): Die Plastizität des ästhetischen Raumes bedingt die Mehrdeutigkeit des Daseins eines Darstellers auf der Bühne. Der Schauspieler behauptet eine Rollenfigur, ist dabei gleichzeitig er selbst und somit fähig zur Selbstbeobachtung.

Der Darsteller im S verkörpert seine Figur in ihrer sozialen Grundhaltung und agiert in der szenischen Auseinandersetzung in deren Handlungsradius, wie er selbst ihn sich vorstellt. Er nimmt also die Perspektive seiner Rollenfigur ein und bleibt dennoch Beobachter der Handlungen seiner Figur im → Spiel (vorausgesetzt sein reales Selbst gewährt eine Distanz zur Rolle).

Telemikroskopie (Boal 1999, 38ff.): Die Darstellung im ästhetischen Raum erscheint konzentrierter, zugespitzter als vergleichbare Handlungen in der Realität. Handlungen, Beziehungen, Körperhaltungen können fokussiert, gleichsam ‚herangezoomt‘ werden, so dass dahinter die entsprechenden sozialen Haltungen erkennbar werden. Die ‚Stillstellung des Geschehens‘ im S verdichtet soziale Haltungen auf eindeutige Gesten (Körperhaltungen) und Beziehungsstrukturen (Blickrichtungen, Position der Figuren zueinander). Die Einigung der→ Gruppe auf ein Realbild konzentriert die individuellen Vorstellungen in einer kollektiven Essenz der Darstellung und verweist auf die gesellschaftliche und politische Dimension der dargestellten Situationen.

Methodisch gliedert sich das S in drei Arbeitsphasen

(vgl. Boal 1989, 71ff.):

  1. Realbild: Die Mitwirkenden bilden Statuengruppen zu einem Thema der Unterdrückung, das für die angesprochene Gruppe relevant ist. Im dialogischen Prozess zwischen Vorschlag, Korrektur und Modifizierung der dargestellten Bilder einigt sich die Gruppe auf ein Realbild, das alle akzeptieren, da es die wichtigsten Aspekte der kollektiven Vorstellung von Unterdrückung vereint.
  2. Idealbild: Die spect-actors finden ebenfalls dialogisch zu einem Statuenbild, das die Auflösung der Unterdrückungssituation darstellt; „the image of ideality, the world as it could be“ (Boal 1992, 2).
  3. Übergangsbild: In dieser Phase steht die szenische Auseinandersetzung mit der Leerstelle zwischen Real- und Idealbild im Mittelpunkt. Zunächst werden wiederum verschiedene Statuengruppen aufgebaut, die eine Entwicklung vom Ausgangs- zum Schlussbild zeigen (Image of the Possible Transition). Schließlich folgt die szenische Umsetzung des Überganges durch die Darsteller: Sie agieren (jetzt in Bewegung) mit den anderen Statuen/Rollenfiguren aus der individuellen Verkörperung ihrer Rollen heraus mit dem Ziel, die Lösung des Idealbildes zu erreichen. Insbesondere diese > Improvisation birgt die Erkenntnismöglichkeit der Beteiligten über die konstitutive Macht des Zusammenwirkens sozialer Haltungen in Unterdrückungssituationen: „In den Rollenphantasien bricht sich das Wünschbare am Machbaren“ (Eggers u. a. 85).

Methodik und→ Didaktik des TdU bewegen sich im thp Spannungsfeld zwischen pädagogischer Zweckgebundenheit und ästhetischem Spielrahmen. Während Boals angewandte ,Pädagogik der Unterdrückten‘ (Freire) in der Methode des → Forumtheaters wohl notwendig zur Anwendung kommen muss, weil hier das Erkenntnisinteresse der → ZuschauSpieler die Gestaltungsform evoziert, wurde und wird S in der ThP vielseitig modifiziert. S ist als ‚Standbild-Methode‘  (Scheller  59ff.)  weit  verbreitet,  wird  häufig jedoch ohne den sozialpolitischen und pädagogischen Überbau des TdU praktiziert (vgl. Anwendungsvarianten in Ruping 1993). Zum einen werden nicht zwangsläufig Gewalt- und Unterdrückungsstrukturen thematisiert; zum anderen obliegt es selbst dann dem fachlichen Selbstverständnis des thp Spielleiters, ob die Gestaltung sich anhand der Untersuchung von gesellschaftlichen Haltungen (vgl. das ,gestische Prinzip‘ bei Brecht; Ritter 15ff.) oder von individuell-persönlichen Verhaltensweisen vollzieht.

Benjamin, Walter: Was ist das epische Theater? Eine Studie über Brecht. In: Ders.: Aufsätze, Essays, Vorträge. Gesammelte  Schriften,  Bd.  2/2.  Frankfurt  a.  M.  1991;  Boal, Augusto: Theater der Unterdrückten. Übungen und Spiele für Schauspieler und Nicht-Schauspieler. Frankfurt a. M. 1989; Ders.: Games for Actors and Non-Actors. London, New York 1992; Ders.: Legislative Theatre. Using performance to make politics. London, New York 1998; Ders.: Der Regenbogen der Wünsche. Methoden aus Theater und Therapie. Seelze 1999; Eggers, Carsten/Fink, Jan-Dirk/ Thrun, Jessica: Der Übergang als Aufgabe. Das Statuentheater. In: Ruping 1993, a.a.O.; Feldhendler, Daniel: Psychodrama und Theater der Unterdrückten. Frankfurt a. M. 1992; Freire, Paulo: Pädagogik der Unterdrückten. Bildung als Praxis der Freiheit. Reinbek 1998; Herzog, Sybille: Augusto Boals Zentrum des Theaters der Unterdrückten in Paris. Theaterarbeit in der Erwachsenenbildung. Münster 1997; Ritter, Hans Martin: Das gestische Prinzip bei Bertolt Brecht. Köln 1986; Ruping, Bernd: Material und Methode. Zur Theorie und Praxis des Brechtschen Lehrstücks. Münster 1984; Ders. (Hg.): Gebraucht das Theater. Erfahrungen, Varianten, Kritik. Münster 1993; Ders.: Statuentheater zwischen Boal und Brecht [unveröffentlichtes Manuskript]. In: Institut für Theaterpädagogik. Materialien zur Theaterpädagogik. Lingen 2002; Scheller, Ingo: Szenisches Spiel. Handbuch für die pädagogische Praxis. Berlin 1998; Wiegand, Helmut: Die Entwicklung des Theaters der Unterdrückten seit Beginn der achtziger Jahre. Stuttgart 1999.

MICHAELA GÜNTHER

→  Gestus – Körper- und Bewegungsstudium – Körpersprache – Lehrstück – Rollenspiel – Selbsterfahrung – Spielleitung – Stillstand