Wörterbuch der Theaterpädagogik (erschienen 2003)

Sprecherziehung

S gliedert sich traditionellerweise in den elementaren Bereich der Sprechbildung (Atem- und Artikulationsschulung  und  Stimmbildung),  die → Rhetorik  oder Rhetorische Kommunikation, die Sprechkunst oder Ästhetische Kommunikation und Aspekte der Sprechtherapie. In die elementare Sprechbildung spielen verschiedentlich Einflüsse der Gesangsausbildung hinein, die sich historisch früher entwickelt hat. In der Rhetorik knüpft die S an antike Vorgaben an. Auch das Theater, vor allem das pädagogische Theater, exemplarisch  das  protestantische → Schuldrama  oder  das Jesuitendrama im 16./17. Jh., hat immanent sprecherzieherische, vor allem rhetorische Bildungsmomente vertreten und ist darüber hinaus – in Deutschland seit dem Ende des 18. Jhs. – für die Ausbildung einer allgemeinen, überregional gültigen Hochsprache von Bedeutung. Die Sprechkunst umfasst die Rezitation und das → Sprechen auf der Schauspielbühne. In seinen Regeln für Schauspieler hat Goethe beide Ausdrucksformen klassisch unterschieden: Die Rezitation beschreibt er als den Vortrag, „der zwischen der kalten und ruhigen und der höchst aufgeregten Sprache in der Mitte liegt. Der Zuhörer fühle immer, daß hier von einem dritten Objekte die Rede sei. […] Der Rezitierende […] verleugnet sein Naturell, seine Individualität dadurch nicht.“ Das schauspielerische  Sprechen „dagegen verlangt, daß ich mich ganz in die Lage und Stimmung dessen versetze, dessen Rolle ich deklamiere […], so daß ich jede leidenschaftliche Regung als wirklich gegenwärtig mit zu empfinden scheine“ (Goethe, 14, 75ff.). Entscheidende Impulse für die Entwicklung der S im engeren Sinn und zur Etablierung des Fachs an den Universitäten zu Anfang des 20. Jhs. gehen von der→ Reformpädagogik und der Lehrerbildung aus. In Deutschland sind daran zunächst wesentlich Vertreter des Theaters beteiligt.

Die S für das Theater hat neben den elementaren Problemen der Sprechbildung vor allem Fragen des Sprechausdrucks und der Rollengestaltung im Blick und die Kommunikationsprozesse zwischen den Partnern bzw. den Figuren auf der Bühne und dem Publikum. Wichtige Aspekte sind die doppelte räumliche Ausrichtung jeder Äußerung, damit verbunden die Tragfähigkeit und Durchschlagskraft der Stimme und die Deutlichkeit und Verständlichkeit des Gesagten und schließlich die Fähigkeit, Momente der szenischen Situation differenziert zu spiegeln. Die ,Überaufgabe‘ der S – mit → Stanislawski zu reden – ist darüber hinaus der rhetorische Aspekt des Theaterereignisses: die besondere Form des Gesprächs zwischen Bühne und Parkett. Die zentrale Herausforderung ist das Sprechen in der szenischen Situation und die fiktive Wirklichkeit aller Figuren und Handlungen und damit aller Äußerungen und ihrer Motive. Von daher ist die S immer mit dem ganzen schauspielerischen Akt und den Fragen des → Spiels und der Darstellung verbunden (vgl. Klawitter u. a.; Ritter 1999; 2002).

Die S hat in ihren methodischen Ansätzen grundsätzlich zu berücksichtigen, dass Sprechen Teil einer Handlung und zugleich selbst Handlung und Körperaktion ist, dass diese Handlung unter dem Aspekt doppelter Aufmerksamkeit erfolgt und sich in fiktiven Situationen ereignet. Es ist notwendig, diese Aspekte bereits in den elementaren Prozessen der Sprechbildung, der Atem- und Artikulationsschulung und der Stimmbildung zu berücksichtigen. Die adäquate Methodik ist von daher in einem radikalen Sinn ganzheitlich. Sie ist handlungsorientiert, setzt an Körperaktionen im Raum und am Moment des Gestischen, dem Partner- und Publikumsbezug an und nicht zuletzt an Vorstellungen und Phantasiewelten. Letztlich haben sich alle technischen oder auch handwerklichen Aspekte des Sprechens unmerklich in die szenische Situation einzufügen. Die schauspieltheoretischen Überlegungen Stanislawskis, → Brechts und Michail → Cechovs oder auch die Theateranthropologie Eugenio Barbas geben für diese Fragen wichtige sprecherzieherische Impulse.

Der erste Anstoß zum Theaterereignis geht häufig vom Literaturtext aus. Die Sprache ist vorgegeben, während sie in natürlichen Situationen eine Folgeerscheinung der Handlungsmotive und der Prozesse des Erlebens und Denkens ist. Die S hat die Aufgabe, den Weg zu diesen Motiven und Prozessen neu zu öffnen und die geäußerten Worte in ihnen zu begründen. Der Text wird also nicht in erster Linie interpretiert, sondern im Handeln, Denken, Erleben neu verankert. Es ist sinnvoll, diesen Prozess über situatives Spiel mit frei improvisierter Rede oder auch mit phantasiesprachlichen Elementen zu eröffnen. Daneben hat die spontane szenische → Improvisation, das freie Spiel mit Situationen und Rollen, für unmittelbare Verbindung von situativem Handeln und Rede auch sprecherzieherisch einen Eigenwert.

Ein besonderer Aspekt im Umgang mit Theaterliteratur ist die Arbeit an Versen. In natürlichen Sprechabläufen entsteht der Sprechrhythmus unmittelbar aus der Heftigkeit des Affekts, aus der Zielbestimmtheit des Denkens und durch die wechselnde Präsenz der Vorstellungen. Das ist prinzipiell auch für das Sprechen von Versen zu bewahren. Allerdings ergibt sich aus der Konfrontation mit den verschiedenen Versmaßen immer auch ein Widerspruch zwischen den Akzenten des Sinns und denen des Verses. Dominiert der Versrhythmus zu sehr, so zerstört er das situative Moment des Sprechens, dominiert die Situation, so zerfällt das Versmaß. Fruchtbar wird der Widerspruch insbesondere, wenn die formalen Momente der Verssprache zur Steigerung situativer Momente führen (vgl. Ritter 1999, 155ff.).

In der traditionellen Schauspielausbildung gehört die S – ähnlich wie die Körperarbeit – vielfach noch zu den technischen Fächern, die Zulieferarbeit für die szenische Arbeit leisten. Sie beschränkt sich dabei vielfach auf die Probleme der elementaren Sprechbildung. Die umfassendste Darstellung dieses Verständnisses von S leistet Egon Aderholds Sprecherziehung des Schauspielers. In dieses Verständnis fügen sich auch die zahlreichen sprechtechnischen Übungsbücher ein. Das älteste dieser Art – in vielem überholt, aber immer noch häufig zitiert und verwendet – ist der Kleine Hey. Dem gegenüber stehen Konzeptionen einer integrativen und komplexen S, die sich am Begriff des Gestischen orientieren oder generell die schauspielerische Praxis als Ganzes und in ihren inneren Wechselbezügen sehen (vgl. z. B. Klawitter u. a.; Ritter). Sie sind nicht nur für ein modernes Verständnis von Schauspielausbildung relevant, sondern sind im Rahmen thp Arbeit mit nicht-professionellen Spielern in jedem Fall einem vor allem technischen Verständnis von S vorzuziehen. Erst mit diesem komplexen Verständnis fügt sich die S schließlich – über das Einüben in sprachliche und ästhetische Normen hinaus – in neuzeitliche Konzepte einer ästhetischen Bildung.

Aderhold, Egon: Sprecherziehung des Schauspielers. Berlin 1993; Bayerische Theater Akademie (Hg.): Integration von Sprecherziehung, Liedgestaltung und Körperarbeit in der Ausbildung zum Schauspieler. München 1998; Dies. (Hg.): Rollenunterricht, Sprecherziehung, Stimmbildung und Körperarbeit in der Ausbildung zum Schauspieler. München 2000; Geißner, Hellmut: sprechen. In: Klöden, Georg von (Hg.): Grundlagen der Schauspielkunst. Velber 1965; Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke. Zürich 1977; Klawitter, Klaus/Minnich, Herbert: Sprechen. In: Ebert, Gerhard/Penka, Rudolf: Schauspielen. Handbuch der Schauspiel-Ausbildung. Berlin 1991; Meyer-Kalkus, Reinhart: Stimme und Sprechkünste im 20. Jahrhundert. Berlin 2001; Ritter, Hans Martin: Wort und Wirklichkeit auf der Bühne. Münster 1997; Ders.: Sprechen auf der Bühne. Ein Lehr- und Arbeitsbuch. Berlin 1999; Ders.: Bühnenrollen. Grundfragen einer Sprecherziehung des Schauspielers. In: Barthel, Henner (Hg.): Zum Wissenschaftsverständnis der Sprechwissenschaft. München 2002; Wolf, Edith/Aderhold, Egon: Sprecherzieherisches Übungsbuch. Berlin 1989.

HANS  MARTIN RITTER

Atmung – Sprachtherapie