Wörterbuch der Theaterpädagogik (erschienen 2003)

Soziodrama

Das  S  nach  Jacob  Moreno  gehört  ebenso  wie  das von ihm entwickelte  Psychodrama in die Kategorie des nicht textgebundenen Theaters (vgl. Fox). S ist konzipiert als ,eingreifende‘ Theaterpraxis und will Veränderungen in  Gruppen und Inter-Gruppenbeziehungen herbeiführen. Das heißt, in der dramatischen Aktion sollen Gruppenbeziehungen aufgedeckt, Probleme verdeutlicht und Lösungen gesucht bzw. erarbeitet werden. Die Gruppe ist demnach also das ,Subjekt‘, das auf die Bühne gestellt wird, nicht der Einzelne.

Unter Gruppe versteht Moreno eine nach bestimmten Merkmalen klassifizierbare und sich von anderen Gruppen unterscheidende konkrete Ansammlung von Menschen. Allerdings geht es ihm nicht um soziologische (,Oberflächen‘-)Merkmale von Gruppen. Vielmehr versucht er, die emotionale und oft unbewusst wirksame ,Tiefenstruktur‘ einer Gruppe zu erreichen und darüber das Potenzial und eine Dynamik für Veränderungen. Zur Untersuchung dieser Tiefenstruktur und die sich darüber abbildenden Beziehungsmuster und Rollen (vgl. Petzold u.a.) in und zwischen Gruppen entwickelte Moreno die Soziometrie (vgl. Moreno 1981) als ein spezielles Verfahren. Sie kann im Rahmen des S auch als ,soziometrische Aktion‘ durchgeführt werden und darüber soziodramatische Qualität gewinnen. Entsprechend geht es nicht um Befindlichkeiten und Wirklichkeitskonstruktionen von Einzelnen, sondern um die Herstellung einer ,inter-subjektiven Wahrheit‘ in und zwischen Gruppen und die gemeinsame Arbeit an sozialen Veränderungen  (vgl. Moreno 1943; 1946). Dennoch gilt für das S wie auch für das Psychodrama, dass emotionale Erfahrungen, Verstehen und rationale Einsicht der Einzelnen entscheidend für Veränderungen sind.

Soziometrie und S (wie auch Psychodrama) können unter bestimmten Format-Bedingungen auf unterschiedliche Weise verknüpft werden. Das heißt, es kommt auf die jeweilige institutionelle Rahmung der einzelnen Verfahren an. Theater, Unterricht, Therapie und Beratung können als unterschiedliche Formate gelten, denen Verfahren beispielsweise wie S oder Psychodrama flexibel anzupassen sind. Die Unterscheidung zwischen Formaten und Verfahren stammt nicht von Moreno (vgl. Wildt). Er hat sein Augenmerk vielmehr auf die Entwicklung der Verfahren gelegt in der Vorstellung, ,radikal‘ Theater zu machen, unter welchen Bedingungen auch immer. Auch eine Abgrenzung zwischen S und Psychodrama ist bei Moreno nicht in jedem Fall möglich, es gibt immer wieder Überschneidungen. Offenbar ist es häufig eine Frage des Fokus, ob eine Situation bzw. Produktion psychodramatisch oder soziodramatisch aufgefasst wird. Moreno verweist darauf, dass das Kollektive im Privaten erscheint und gesellschaftliche und soziale Ereignisse den Einzelnen zutiefst betreffen.

Moreno selbst hat vielfach mit Angehörigen sog. Randgruppen psychodramatisch gearbeitet. Dazu gehört etwa die Arbeit mit (jüdischen) Flüchtlingen, mit Prostituierten, straffälligen Jugendlichen und später vor allem mit psychisch bzw. psychiatrisch Kranken, also mit Menschen, zu deren Problemen soziale Stigmatisierungsprozesse und gesellschaftliche Ausgrenzungsprozesse beitragen. Die soziodramatischen Aspekte dieser Arbeit hat Moreno immer wieder betont.

Verfahrenstechnisch ist die soziodramatische Arbeit durchaus vom Psychodrama zu unterscheiden (vgl. Geisler). Die Gruppe bzw. die Gruppen arbeiten zu einem ,Thema‘, das mit der ,Tiefenstruktur‘ der Gruppe in Beziehung steht. In der soziodramatischen Bühnenarbeit  bringen  die  verschiedenen  Gruppen  ihre ,Sichtweise‘, ihr Anliegen, ihre Lage und Betroffenheit auf die Bühne. Es gibt die Möglichkeit ,in Gruppe‘, aber auch als Einzelne ,in Stellvertretung‘ zu agieren. Dabei werden – wie im Psychodrama – Rollentausch, Rollenfeedback, Wiederholung, Einfrieren, Beschleunigen, Spiegeln usw. methodisch eingesetzt und Besonderheiten der Gruppenaktion Rechnung getragen. Beispielsweise ist beim S mit einer gesteigerten Dynamik zu rechnen, insbesondere dann, wenn Konfliktlagen aktuell sind und ,echte‘ Kontrahenten auf der Bühne agieren. Dabei geht es vor allem um Aufklärung und Lösungsversuche aus unterschiedlichen Interessenlagen und Rollenperspektiven. Hier liegt im Übrigen ein gravierender Unterschied zum protagonistenzentrierten Psychodrama, wo der Protagonist im Mittelpunkt steht (vgl. Geisler u. a.), dagegen gibt es Gemeinsamkeiten etwa zum Theateransatz von Augusto > Boal, insbesondere ,Blockaden‘ wegzuräumen, die sozialen und gesellschaftlichen Veränderungen im Wege stehen (vgl. > Feldhendler).

Buer, Ferdinand (Hg.): Morenos therapeutische Weltordnung. Opladen 1999; Feldhendler, Daniel: Psychodrama und Theater der Unterdrückten. Frankfurt a. M. 1989; Fox, Jonathan: Morenos Stegreiftheater in New York. In: Jahrbuch für Psychodrama, psychosoziale Praxis und Gesellschaftspolitik. Opladen 1994; Geisler, Friedel: Zwischen Kulturen und Welten. Soziodrama nur ein Arrangement der psychodramatischen Bildungsarbeit? In: Wittinger, Thomas (Hg.): Psychodrama in der Bildungsarbeit. Mainz 2000; Geisler, Friedel/Görmar, Frank: Der Rollentausch mit dem Feind. In: Jahrbuch, a.a.O., 1996; Moldowsky, Stan: Sociodrama Session at the Mansfield Theatre. In: Group Psychotherapy, Psychodrama and Sociometry, 1950, H. 3; Moreno, Jacob L.: Soziodrama. Beacon 1943; Ders.: Psychodrama 1. Beacon 1946; Ders.: Soziometrie als experimentelle Methode. Paderborn 1981; Ders.: Auszüge aus der Autobiographie. Köln 1995; Petzold, Hilarion/Mathias, Ulrike: Rollenentwicklung und Identität. Paderborn 1982; Wildt, Beatrix: Wie psychodramatisch verfahren an der Universität? In:  Wittinger, a.a.O.

BEATRIX  WILDT

Dialog  –  Gefängnistheater  –  Rollenspiel  –  Supervision – Theatertherapie – Zielgruppe