Wörterbuch der Theaterpädagogik (erschienen 2003)

Schulmusical

Die Geschichte des deutschen S, bei dem durch Gesang, Tanz und szenische Darstellung eine durchgehende Handlung dargestellt wird, beginnt mit ersten Kompositionen um 1970 und entwickelt sich explosionsartig Ende der 1980er Jahre. Dieser Boom hält bis heute an. Zur Vorgeschichte gehört die Entwicklung des kommerziellen, vorwiegend amerikanischen Musicals und dessen Rezeption in Deutschland. Diese Entwicklung vollzieht sich ab 1900 als „Geschichte der schrittweisen Integration“ (Schmidt-Joos 48) so heterogener Elemente wie amerikanischer Minstrel-Show und europäischer Operettentradition, später des Jazz und der Rock-Pop-Musik. Schmelztiegel der Elemente ist der New Yorker Broadway, ab 1960 auch London. Mit der Premiere und dem sensationellen Erfolg von Andrew Lloyd Webbers Cats 1986 in Hamburg wird das Musical in Deutschland gesellschaftsfähig.

Durch Adornos Kritik der ,musikpädagogischen Musik‘ (vgl. Adorno) waren in den 1960er Jahren schulische Theateraufführungen als musisches Tun verdächtig geworden. In den 1970er Jahren vollzieht sich in der Musikpädagogik eine Wende von der kunstwerklichen Objektorientierung zu eher subjektorientierten Konzeptionen, wie u. a. die Konzeptionen des handlungsorientierten, des erfahrungserschließenden und des schülerorientierten Musikunterrichts. Schlagwörter wie ganzheitliches Lernen, Produktorientierung und Projektlernen werden zu Idealen auch des Musikunterrichts. In dieser veränderten (musik-) pädagogischen Situation herrschen nach dem Erfolg von Cats äußerst günstige Bedingungen für eine schulische Adaption der Gattung Musical.

Systematisch lässt sich S einerseits begrifflich bestimmen, andererseits zeigt das Epitheton Schul an, dass hier der Gegenstand Musical in den Bereich pädagogischer Intentionalität und der sie ordnenden Systematik gerät. Kann Musical begrifflich leicht zusammen mit Oper, Operette usw. unter den Oberbegriff Musiktheater subsumiert werden, ist es andererseits unmöglich, die Spezifik des Musicals zu benennen. Weder Sujet, noch Entstehungsort der Gattung oder verwendeter Musikstil lassen sich als trennscharfe Kriterien verwenden. In der musikpädagogischen Fachliteratur wird einfach von Musical gesprochen (vgl. Reiß u. a. 1996). Schulische Musicalaufführungen werden häufig im Untertitel als S angekündigt. Ob sich der Begriff S als terminus technicus für die gemeinte Sache durchsetzen wird, bleibt abzuwarten.

In der Musikpädagogik unterscheidet man fünf musikalische Verhaltensweisen, die in einem handlungsorientierten Musikunterricht zugleich die Zieldimensionen pädagogischer Intentionalität sind, nämlich Produktion (Erfinden von Musik), Reproduktion, Rezeption, Reflexion und Transposition (Umsetzen von Musik in ein anderes Medium). Musicalinszenierungen bieten in diesem Sinne zahlreiche Handlungsanlässe. Über die musikalischen Ziele hinaus verspricht man sich die Verwirklichung allgemeinpädagogischer Ziele wie Selbstständigkeit, Zuverlässigkeit und Kooperationsbereitschaft (vgl. Erwe 6; Beckmann 44; Bührig 1994, 39).

Methode: S werden in der Regel nicht im Fachunterricht, sondern in schulischen Arbeitsgemeinschaften (vgl. Bührig 1994), manchmal in Projektwochen (vgl. Abel 198) erarbeitet bzw. vorbereitet. Die Verknüpfung von Literatur, Musik, Tanz, darstellender und bildender Kunst sprengen schulische Fachgrenzen und führen fast zwangsläufig zu fächerübergreifendem Unterricht (vgl. Erwe 6). Die Arbeitsteiligkeit eröffnet zahlreiche Differenzierungsmöglichkeiten, wodurch individuelle Handlungskompetenzen berücksichtigt werden können. Das Gesangsideal des Musicals kommt den Hörgewohnheiten heutiger Jugendlicher und ihrer musikalischen Sozialisation durch Pop-Musik entgegen (vgl. Erwe 5).

Gelegentlich wird von der Schul-Inszenierung großer Broadway-Musicals berichtet. Dies dürfte aber eher die Ausnahme sein, weil solche Musicals für professionelle Sänger, Tänzer und Darsteller geschrieben sind. Für den pädagogischen Gebrauch veröffentlichte Musicals sind für jugendliche Laiendarsteller konzipiert und überfordern nicht die musikalischen Möglichkeiten. Besonders geeignet sind hier englische Stücke (vgl. Schoenebeck 1997, 6). Über das Repertoire informieren kommentierte Stückeverzeichnisse (vgl. Reiß u. a. 1990; Reiß u. a. 1996). Um sich der Schulsituation optimal anzupassen, wird auch ganz auf vorgegebenes Material verzichtet (vgl. Bührig 1993, 30). Musikpädagogisch bedeutsam sind Versuche, mit Schülern selbst Musicals zu komponieren (vgl. Abel; Riemenschneider u. a.). Methodische Anregungen zur Produktion von Musik gibt Mechthild von Schoenebeck (1984).

Prinzipiell besteht die Gefahr eines Rückfalls in musisches Tun, mit seinem unkritischen Werkeln, irrationalem Gemeinschaftserlebnis und Verzicht auf Reflexion. Pädagogisch ebenso fragwürdig ist eine Pseudoprofessionalisierung mit einer Tendenz zum Marktgängig-Monumentalen (vgl. Schoenebeck 1997, 5), wie er bei der Inszenierung von Standardwerken zu beobachten ist. Chancen auf ästhetischen Erfahrungsgewinn werden vertan, wenn sich der Musikstil einseitig am gängig Populären orientiert. S lassen sich in der Schule nur arbeitsteilig realisieren. So wichtig die sich daraus ergebenden Differenzierungsmöglichkeiten auch sind, es macht einen Unterschied, ob jemand das → Bühnenbild gestaltet oder eine Solopartie singt. Es ergibt sich eine Tendenz, z. B. gute Sänger immer wieder als Sänger einzusetzen. Solche Förderung eines Talents ist durchaus wünschenswert. Ebenso wichtig aber ist kompensatorisches Lernen, bei dem individuelle Schwächen in der musikalischen Handlungskompetenz abgebaut werden. Dafür dürfte in einem Musicalprojekt kaum Zeit sein. Musicalprojekte sind für LehrerInnen zeit- und arbeitsintensiv. Diese Mehrarbeit wird meist in ihrer Freizeit geleistet. Hier bedarf es einer realistischen Arbeitszeitermittlung, die den Rahmen starrer Deputatsgrenzen sprengen wird.

Abel, Jörg Michael: Wir komponieren ein Musical. Dokumentation und Reflexion eines Schülerprojekts. In: Musik und Bildung, 1990, H. 4; Adorno, Theodor W.: Thesen gegen die musikpädagogische Musik. In: Heise, Walter/ Hopf, Helmut u. a. (Hg.): Quellentexte zur Musikpädagogik. Regensburg 1973; Bartosch, Günter: Die ganze Welt des Musicals. Wiesbaden 1981; Beckmann, Gerd: Schülerorientiertes Musiktheater – Musical. In: Musik und Bildung, 1991, Bührig, Dieter: Warum denn nicht gleich ‚Anatevka‘? Ein gewöhnlicher Schulchor führt ungewöhnliche Stücke auf. In: Musik und Unterricht, 1993, H. 20; Ders.: Lebensweltbezug in der AG-Arbeit? Projektunterricht! In: Musik und Bildung, 1994, H. 4; Erwe, Hans-Joachim: Das Musical. Populäres Musiktheater in der Schule. In: Musik und Unterricht, 1995, H. 30; Hombach-Voßen, Hildegard: Musiktheater – wie macht man das? Anregungen zum praktischen Arbeiten. In: Musik und Unterricht, 1997, H. 44; Reiß, Gunter/Schoenebeck, Mechthild von: Schülertheater mit Musik. Ein kommentiertes Stückeverzeichnis. Frechen 1990; Dies./Helms, Dietrich: Musicals nicht nur für Kinder. Ein kommentiertes Stückeverzeichnis. Regensburg 1996; Riemenschneider, Horst/Wisskirchen,  Hubert: Lisetta und Zwei vier Eins. Kinderoper – von Kindern. In: Musik und Unterricht, 1993, H. 20; Schmidt-Joos, Siegfried: Das Musical. München 1965; Schoenebeck, Mechthild von: Aspekte der musikalischen Arbeit in der Musical-Werkstatt. In: Musik und Bildung, 1984, H. 6; Dies.: Eselsohren, leere Ränge und Styropor-Mauern. Eine Anstiftung zum Musiktheater. In: Musik und Unterricht, 1990, H. 5; Dies.: Musiktheater in der Schule. Der Königsweg der ästhetischen Erziehung? In: Musik und Unterricht, 1997, H. 44; Ziegenbalg, Ute: Das internationale Musical. Herdecke 1994.

MATTHIAS FLÄMIG

Schuloper – Schultheater – Szenische Interpretation von Musiktheater