Wörterbuch der Theaterpädagogik (erschienen 2003)

Schattentheater

In  der  Ästhetik  des  S  wird  das → Medium  zur  Botschaft, der Schatten zum Ort produktiver → Phantasie, denn Schatten verleihen den Dingen in ihrer Spiegelung/Doppelung eine Dimension des Mysteriösen, bereits sichtbar in den ersten menschlichen Kunstspuren, den schemenhaften Silhouetten vorgeschichtlicher Höhlenbilder. Der Schatten gilt als Sitz der Seele, sein Verlust wird interpretiert als existenzielle Bedrohung. Der Schattenraum, vor allem in mythisch verwurzelten Kulturen, schafft Verbindung zur Welt der Toten, so die Legende aus China, 2. Jh. v. Chr. Hier entstand das Figurenschattenspiel, ab 11. Jh. schriftlich belegt, und wurde im ostasiatischen Raum zur bedeutendsten Volks- und höfischen Kunst, zentrale Instanz zur Schaffung kultureller Identität. Die Kunst des S korrespondiert mit östlicher Philosophie einer intuitiv-erfahrbaren räumlichen Einheit von Gegensätzen, Leben und Tod, Synthese von Bejahung und Verneinung, Phänomene, die im westlichen Denken zeitlich getrennt wahrgenommen werden. So liegt in Platons Höhlengleichnis die Wahrheit hinter den Schatten, intellektuell zu durchdringen auf dem Weg zur Erkenntnis. Das westliche Bild vom Schatten bleibt das Fremde, bedrohlich, weil rational nicht fassbar; vielleicht daher das S lediglich als spielerische Unterhaltung in Form von Silhouettentheater auf Jahrmärkten, in Familien; Ausnahme blieben spektakuläre S-Performances (Seraphin 1770 in Versailles, Cabaret du Chat Noir am Montmarte 1887); Lotte Reinigers kunstvolle Silhouettenfilme ab 1919.

Die radikale Neu-Orientierung der Kunst zu Beginn des 20. Jhs. schuf in der Konstruktion antinaturalistischer Bildmuster ohne Zentralperspektive sowie in der gleichberechtigten Handhabung von Farbe, Form und Figur der Bühnenkunst neue Wahrnehmungsräume. Die Bildende Kunst hatte die → Regie übernommen wie im zeitgenössischen → Bildertheater
ein Prozess, der zur Rezeption des S als Kunstform auch im westlichen Kulturkreis führte.

Durch Integration des S in den Kanon thp Methoden wird intellektuelles Sprechtheater ergänzt durch eine eher imaginativ-emotionale Aneignung von Wirklichkeit; denn durch die Reduktion des plastischen Körpers zur zweidimensionalen Fläche, verborgen hinter  der  Schattenwand  agierend,  verdichtet  sich die „Als-ob“-Realität des Theaters zur Abstraktion, wird zum Projektionsraum eigensprachlicher Phantasie der Rezipienten. Schattenfiguren in ihrer Formvereinfachung, schnell aus Pappe geschnitten, mitunter kunstvoll montiert, oder menschliche Schatten, deren → Körpersprache/Gestik  stilisiert,  werden  in einem bewussten schauspielerischen Akt parallel zur Schattenwand geführt; Einsatz der Lichtquellen, auch farbig,  Overheadprojektor/Film/Dia-Einblendungen je nach ihrer Nähe/Distanz zu den Objekten mit verändernder Wirkung auf die Bildersprache/Atmosphäre des S – in seiner Bandbreite von der Inszenierung sozialkritischer Satiren, poetischer Fabeln bis zum absurden Spiel von Farbklecksen, Tönen, Wortfetzen, visuellen Landschaftsbildern setzt S erfundene oder gefundene Geschichten in einen fernen Raum, geheimnisvoll, und, die Wirklichkeit verfremdend, schafft es theatrale Zeichen neu, eigenwillig, Räume öffnend für tiefere Schichten des Seelischen.

Canacakis, Jorgos/Haehnel, Gerd/Sauerland, Georg/Söll, Florian: Wir spielen mit unserem Schatten. Hamburg 1986; Reusch, Rainer: Schattentheater. 2 Bde. Schwäbisch  Gmünd 2001; Rüster, Barbara: Schattentheater. In: Korrespondenzen, 1995, H. 23/25; Schönewolf, Herta: Play with Light and Shadow. London 1968;  www.schattentheater.de.

BARBARA RÜSTER

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