Wörterbuch der Theaterpädagogik (erschienen 2003)

Recherche

Seit dem 18. Jh. ist der Begriff im Deutschen gebräuchlich und bezeichnete ursprünglich: (1.) Suche nach, Nachforschung, Ermittlung; (2.) (wissenschaftliche) Forschung; (3.) Streben nach Vorteilen, Vollkommenheit; (4.) feiner Geschmack; in der Gegenwart ausschließlich in den zwei erstgenannten Bedeutungsvarianten.

Die verbreitetste Anwendung findet der Begriff im Journalismus. In diesem Zusammenhang ist nach Haller Recherchieren ein Verfahren „im weiteren Sinne […] zur adäquaten Abbildung realer, d. h. sinnlich wahrgenommener Wirklichkeit mit den Mitteln der Sprache“ und „im engeren Sinne […] zur Beschaffung und Beurteilung von Aussagen, die ohne dieses Verfahren nicht preisgegeben, also nicht publik würden“ (Haller 215).

Unter R werden vielfältige journalistische Aktivitäten zusammengefasst. Diese reichen von der Themenformulierung (orientiert an der Relevanz einer Information), über die Materialbeschaffung (methodisches Befragen von Experten bzw. Augenzeugen, orientiert vor allem an den vier ersten ,w‘-Fragen – ,wer‘, ,was‘,,wann‘, ,wo‘ –, mit deren Hilfe der Sachverhalt geklärt wird) bis zur Auswertung der R (Überprüfung und Erweiterung der Informationen z. B. durch Heranziehen von Archivmaterialien, Berichten, Gutachten, Experten, orientierend an den ,w‘-Fragen ,wie‘ und vor allem ,warum‘, mit deren Hilfe eine Deutung unternommen wird) (vgl. Haller 15ff.).

Die Übernahme des Begriffes in den Kontext des Theaters nahm ihren Anfang zu Beginn des 20. Jhs. im Zusammenhang mit der Entstehung des Zeitstückes. Dieses entwickelte sich in den 1920er Jahren „aus der Kritik an zeitlos-überzeitlichen Problemstellungen des traditionellen Bühnenwerkes“ (Brauneck u. a. 1119) und orientierte sich in starkem Maße am „Enthüllungsjournalismus eines Egon Erwin Kisch“ (ebd.). Ziel dieses Theaters, das sich als ,Gebrauchskunst‘ verstand, war eine Aktivierung der Zuschauer durch die mittels des Theaters wirkungsintensivierte „Entfesselung der Tatsachen“ (ebd.), was eine starke Orientierung an Form und Inhalt der (Zeitungs-)Reportage sowie an der R als deren Grundlage zur Folge hatte. Berühmte Beispiele sind Revolte im Erziehungshaus von Peter Martin Lampel (1928) und § 218 von Carl Credé (1929)  in  der  Inszenierung  durch  Erwin Piscator. Die weitestgehende Übertragung der weiteren wie engeren Bedeutung des R-begriffes ins Theater findet sich auch im ,dokumentarischen Theater‘ der 1960er Jahre (Rolf Hochhuth, Heinar Kipphardt, Peter Weiss). Dort wurde im Unterschied zum Zeitstück auf authentisches Geschichtsmaterial zurückgegriffen, mit dem Ziel, „die durch journalistische Recherche zu ermittelnden historischen Fakten […] ohne ‚Beschädigungen‘ des Inhalts in eine bühnengerechte Dramenform zu bringen“ (Brauneck u.a. 278). Diese enge Bindung an die sprachdominierte Bedeutung des Begriffes (R im weiteren Sinne nach Haller) wird im Theater seit den 1960er/70er Jahren, bedingt u.a. durch die in der jüngeren Theatergeschichte nachweisbaren ,Performatisierungsschübe‘ (vgl. Fischer-Lichte) weitestgehend aufgegeben. Auf diese Weise wird R auch als spielerisches Verfahren relevant und die Reichweite der Suche auf sprachliches, kinästhetisches, akustisches, visuelles und haptisches Zeichenmaterial in seiner jeweiligen Bedeutung und spezifischen ,Materialität‘ ausgedehnt.

Der Begriff der R wird zunehmend gebraucht, um im Theater (aber auch in Tanz- und modernen Musikproduktionen) eine Arbeitsweise zu charakterisieren, die nicht von einem fertigen Stücktext bzw. einer Partitur ausgeht, sondern das Material für die betreffende Produktion erst sucht, sammelt bzw. produziert. Dabei kann die R, vergleichbar eher mit der journalistischen Vorgehensweise, aber auch der ,Feldforschung‘ in der Ethnologie, im Vorfeld der eigentlichen Produktion stattfinden und in einen (Autoren-)Text münden (vgl. Koch). Beispiele hierfür sind die Arbeitsweise des emanzipativen Kinder- und Jugendtheaters (Grips Theater Berlin) und daraus hervorgegangener Theaterformen,  des  Unternehmenstheaters  u. a.  In  eher performativ ausgerichteten Formen verschwimmt die Grenze zwischen R und Produktion. So kann der Such- und Forschungsprozess mit Hilfe von (verschiedenen) Rahmungen zum eigentlichen Produktionsprozess werden und bis in die Aufführung hinein sichtbar bleiben (vgl. Inszenierungen bei Pina Bausch, Frank Castorf bzw. Live-Art bei Forced Entertainment, Gob Squad, She She Pop).

Im thp Zusammenhang wird der Begriff durch seine Loslösung von der singulären Tätigkeit eines Autors interessant. Er findet demzufolge zur Charakterisierung von Verfahren in der ,Sammelphase‘ (vgl. Steinl) des Materials innerhalb einer Eigenproduktion Verwendung. Dabei wird als entscheidend herausgestellt, dass es bei der Vielfalt der R-möglichkeiten um die Themenformulierung, Sammlung und Deutung des Materials aus der Perspektive der jeweils produzierenden Gruppe heraus gehen soll (vgl. Nickel; Lippert). Die zunehmende Verwendung des Begriffes begründet sich auch im Charakter des Materials in der Medien- bzw. Inszenierungsgesellschaft: Wie in der Definierung des journalistischen Verfahrens im engeren Sinne deutlich wird, ist die R zu verstehen als „eine Ersatzhandlung für den Vor-Ort-Berichterstatter, […] [als] Second-hand-Journalismus“ (Haller 215). Dies korrespondiert mit der sich verändernden Qualität der Erfahrung vor allem junger SpielerInnen, die immer weniger durch das direkte Erleben von Ereignissen geprägt ist als durch deren Vermittlung über die neuen Medien. Aus der Einbeziehung des Materials dieser ,second-hand-experience‘ (Forced Entertainment) ergeben sich methodische und formale Konsequenzen für die R wie für die Eigenproduktion insgesamt, die sich u.a. in einer aus der engen Beziehung zwischen Theater und neuen Medien resultierenden Vermischung der Gattungsgrenzen zeigt.

Brandstetter, Gabriele/Bormann, Hans-Friedrich: An der Schwelle. Performance als Forschungslabor. In: Seitz, Hanne (Hg.): Schreiben auf Wasser. Performative Verfahren in Kunst, Wissenschaft und Bildung. Essen 1999; Brauneck, Manfred/Schneilin, Gérard (Hg.): Theaterlexikon. Begriffe und Epochen, Bühnen und Ensembles. Reinbek 1992; Etchels, Tim: Certain Fragments. Contemporary Performance and Forced Entertainment. London 1999; FischerLichte, Erika: ,Ah, die alten Fragen ‘ und wie die Theatertheorie heute mit ihnen umgeht. In: Nickel, Hans-Wolfgang (Hg.): Symposion Theatertheorie. LAG-Materialien 39/40, Berlin 1999; Gumbrecht, Hans Ulrich/Pfeiffer, K. Ludwig (Hg.): Materialität der Kommunikation. Frankfurt a. M. 1988; Haller, Michael: Recherchieren. Ein Handbuch für Journalisten. München 1991; Kluge, Friedrich: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Berlin, New York 1999; Koch, Gerd: TheaterSpiel als szenische Sozialforschung. In: Belgrad, Jürgen (Hg.): TheaterSpiel. Hohengehren 1997; Langenscheidts Großwörterbuch Französisch. Hg. v. Erich Weis. Berlin, München, Wien, Zürich 1978; Lippert, Elinor: Geschichte(n) spielen. In: Theater in der Schule. Hg. v. der Körber-Stiftung u. der BAG Darstellendes Spiel. Hamburg 2000; Nickel, Hans-Wolfgang: Spielleitung im Jugendamateurtheater. In: Ritter, Hans Martin (Hg.): Spielund Theaterpädagogik. Ein Modell. HdK, Institut für Spiel und Theaterpädagogik 1990; Steinl, Winfried: Textgebundene Eigenproduktion. In: Theater in der Schule, a.a.O.

UTE PINKERT

Authentizität    –    Experiment    –    Happening    – Narratives Interview – Performance – Prozess und Produkt – Spaß – Tanzpädagogik – Theaterarbeit in sozialen Feldern