Wörterbuch der Theaterpädagogik (erschienen 2003)

Psychodrama

Das  P  geht  auf  Jacob  Levi  Moreno  (1889-1975) zurück; Moreno entwickelte auch das  Soziodrama als eine dem P verwandte Form. P gilt als ,therapeutisches Theater‘. Das Verhältnis von Kunst, Bildung und Therapie ist im P aber keineswegs eindeutig in Richtung Therapie entschieden. Es muss allerdings die Differenz beachtet werden zwischen P als ,therapeutischem Theater‘ und als Therapieform. Das P-Theater hat Moreno mit professionellen Schauspielern aus dem Stegreiftheater entwickelt. Erst in Verbindung von drei Elementen – nämlich der Gruppenpsychotherapie, der Soziometrie und dem P – hat er sein eigentlich therapeutisches Konzept geformt.

P als Theaterform kann als radikale Variante des zeitgenössischen nichtschriftlichen Theaters angesehen werden (vgl. Fox 1996). Es steht damit in einer Traditionslinie, die das Kunstverständnis der literarischen Kultur mit dem Anspruch an Objektivität, intellektueller und ästhetischer Distanz sowie der Ausformung von Theater zu kommerziellen Zwecken problematisiert und bewusst relativiert.

Morenos Anspruch war zunächst, das Theater vom Text (,Konserve‘) und den Schauspieler zur Spontaneität und schöpferischen Arbeit zu befreien. Später will er den ,Kreator‘ in jedem Menschen wecken. Morenos Zivilisationskritik richtet sich auf verschiedene Entfremdungserscheinungen der Modernen (vgl. Kaufmann), insbesondere Zweckrationalität, Verlust von Bindungen und eine Verdinglichung zwischenmenschlicher Beziehungen. Moreno will die Spontaneität der Menschen beleben und Begegnungen ermöglichen (vgl. Buber). Durch Theater können seiner Meinung nach entsprechend heilsame Erfahrungen gemacht und Veränderungen eingeleitet  werden.

P entwickelte sich deshalb folgerichtig zum Laientheater unter professioneller Anleitung. Es kommt ohne  Text  und  Autor  aus,  setzt  auf  die  Gruppe (Ensemble), lebt von der Improvisation, braucht Spontaneität und will Authentizität statt ästhetische Perfektion. Allerdings wird der Autor durch zwei andere ,Rollen‘ ersetzt, die des Protagonisten und des Spielleiters/Direktors. Die Trennung zwischen SchauSpieler und Zuschauer ist ,gelockert‘. Zuschauer werden zu ,ZuschauSpielern‘ (vgl. Boal). Sie können jederzeit in das Bühnen-Spiel eingreifen oder in dieses einbezogen werden. P schöpft aus dem Leben der Beteiligten, die im Spiel zu einem deutlicheren und klaren Bewusstsein ihrer Lage finden. Nicht die Aufführung ist das Ziel, sondern der Weg.

Die Kontroverse, ob Handeln vor dem Gefühl steht oder umgekehrt, ist bei Moreno entschieden: Gefühle lösen Handeln aus und Handeln Gefühle. Die psychodramatische Bühnenarbeit aber setzt ,außen‘ an, durch die Bestimmung von Bühne und Zuschauer- bzw. ZuschauSpieler-Raum, durch die Einrichtung der Szene, Einführung in Rollen, szenische Aktion, Wiederholungen, Verzögern, Beschleunigen, Einfrieren, Doppeln, Rollenwechsel oder Rollentausch usw. Über diese ,äußeren‘ Handlungen und Aktionen werden Gefühle und Befindlichkeiten hervorgerufen, den Spielern spürbar, ausgedrückt, schrittweise und ,achtsam‘ verstärkt und dadurch das zunächst Unverfügbare verfügbar.

,Katharsis‘ zur ,Befreiung‘ von Gefühlen kann bei Spielern und Zuschauern erlebt, soll aber nicht ,provoziert‘ werden (vgl. Leutz). Möglicherweise liegt hier die Grenze zum ,eigentlich‘ Therapeutischen. Die Betonung der heilsamen Wirkung kathartischen Erlebens mag jedenfalls ein wesentlicher Grund für die Einordnung des P als ,therapeutisches‘ Theater und teilweise seine Ablehnung sein. Allerdings wird das Phänomen der Katharsis auch positiv gewürdigt (vgl. Cole; Fox 1996). Grenzen zur Therapie gelten auch im literarischen Theater als fließend. Schechner (1990) beispielsweise bezeichnet den Unterschied zwischen einem psychologischen und künstlerischen Schauspiel als nur graduell.

Nach seinen Literatur- und Theaterexperimenten in Wien vor allem zwischen 1920 und 1930 versucht Moreno in den USA im Kunstbereich Fuß zu fassen. Diese Versuche sind offenbar wenig erfolgreich (vgl. Fox 1993, 7ff.). Morenos Theaterarbeit mit Benachteiligten und Mitgliedern sozialer Randgruppen dagegen zeigt Erfolge, die durchaus beitragen, das P als ,Dramatherapie‘ weiter zu entwickeln und in diesem Bereich sozialer und psychiatrisch-therapeutischer Arbeit zu verankern. Insgesamt ist P als Therapie seit den 1960er Jahren ein wachsender und seit den 1980er Jahren ein sich organisierender Bereich. Darüber hinaus hat sich das P auch in ,Formaten‘ wie Beratung und Supervision (vgl. Buer), (Weiter-)Bildung und Unterricht etablieren können (vgl. Wittinger).

Trotz ausdrücklicher Abgrenzungsbemühungen vom P als ,Therapie‘ auf Seiten des Theaters, auch aufgrund unzureichender Kenntnisse der Methoden, werden bei genauerer Kenntnis vielfach Auffassungskorrekturen erkennbar oder auch psychodramaähnliche Elemente in eigene Theater-Konzeptionen aufgenommen (vgl. Boal; Brook 1968; Schechner 1973; 1990; Spolin). Umgekehrt hat sich das P Morenos theoretisch und praktisch differenziert und weiter entwickelt, nicht zuletzt durch Verbindungen zu anderen Verfahren, die mit der Person der Leiter und Dramadirektoren, ihrer spezifischen Herkunft aus Theater, Therapie, ThP und anderen pädagogischen Bereichen verknüpft sind.

Ahrends, Günter (Hg.): Konstantin Stanislawski. Neue Aspekte und Perspektiven. Tübingen 1992; Anderson, Walt (Hg.): Therapy in the Arts. New York 1977; Boal, Augusto: Theater der Unterdrückten. Übungen und Spiele für Schauspieler   und   Nicht-Schauspieler.   Frankfurt   a. M.  1996; Brook, Peter: The Empty Space. London 1968; Ders.: Leaning on the Moment. In: Parabola, 1979, H. 4; Bruner, Jerome: Actual Minds, Possible Worlds. Cambridge 1986; Buber, Martin: Ich und Du. In: Ders.: Das dialogische Prinzip. Heidelberg 1984; Buer, Ferdinand (Hg.): Morenos therapeutische Philosophie. Opladen 1999; Chalkin, Joseph: The Prensence of the Actor. New York 1974; Cole, David: The Theatrical Event. Middeltown/Ct. 1975; Fox, Jonathan (Hg.): The Essential Moreno – Writings on Psychodrama, Group Method and Spontaneity. New York 1987; Ders.: Der Einfluß des Stegreiftheaters in New York. In: Jahrbuch für Psychodrama, psychosozialePraxis und Gesellschaftspolitik. Opladen 1993; Ders.: Renaissance einer alten Tradition. Playback Theater. Köln 1996 [Originalausgabe: Acts of Service. Spontaneity, Commitment, Tradition in the NonScripted Theater. New York 1986]; Hare, Paul A.: Bibliography of the Works of J. L. Moreno. In: Group Psychotherapy, 1989, H. 38; Heilpern, John: Peter Brooks TheaterSafari. Hamburg1979; Johnstone, Keith: Improvisation und Theater. Berlin 1993; Jürgens, M./Buer, F.: Das Theater mit dem Psychodrama. Theaterästhetische Betrachtungen. In: Buer, Ferdinand (Hg.): Jahrbuch für Psychodrama, Psychosoziale Praxis und Gesellschaftspolitik. Opladen 1993; Kaufmann, Franz-Xavier: Religion und Modernität. Sozialwissenschaftliche Perspektiven. Tübingen 1989; Leutz, Grete: Das klassische Psychodrama nach J. L. Moreno. Berlin 1974; Marineau, Rene F.: Jacob Levy Moreno 1889-1974. Father of Psychodrama, Sociometry, and Group Psychotherapy. London 1989; Moreno, Jacob Levy: An die Leser zum Aufstand gegen die Autoren. In: Der Neue Daimon, 1919; Ders.: Das Stegreiftheater. Potsdam, Berlin 1923 [erweiterte engl. Auflage: The Theatre of Spontaneity. New York 1947]; Ders.: Rede über die Begegnung. Potsdam 1924; Ders.: Soziometrie als experimentelle Methode. Paderborn 1981; Moossen, Inge: Theater als Kunst. Sinn und Unsinn des Stanislawski-Systems. Frankfurt a. M. 1993; Schechner, Richard: Environmental Theater. New York 1973; Ders.: Theater-Anthropology. Spiel und Ritual im Kulturvergleich. Reinbek 1990; Schmidt-Ranson, Ina: Brechts Lehrstücke in ihrer Beziehung zum Therapeutischen. In: Petzold, Hilarion, G. (Hg.): Dramatische Therapie. Stuttgart 1982; Schribner, Sylvia/Cole, Michael: The Psychology of Literacy. Cambridge 1981; Spolin, Viola: Improvisationstechniken. Paderborn 1983; Wittinger, Thomas: Psychodrama in der Bildungsarbeit. Mainz 2000.

BEATRIX  WILDT

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