Wörterbuch der Theaterpädagogik (erschienen 2003)

Off-Theater

Die Wurzeln des OT liegen in der New Yorker Off-und Off-Off-Broadway-Bewegung, es ist heute eine international verbreitete, neben den staatlich subventionierten und kommerziell ausgerichteten Theatern existierende Theaterform. Zum Off-Broadway, der sich in den ersten Jahren des 20. Jhs. zu entwickeln begann und in den 1950er Jahren seine Blütezeit erlebte, zählen die kleinen Theater abseits der großen kommerziellen Bühnen am New Yorker Broadway und Times Square, die nicht mehr als 300 Zuschauern Platz bieten und (infolgedessen) nicht an eine Mindestgage für die Darsteller gebunden sind. Der Off-Broadway war zunächst eine Theaterbewegung der New Yorker Intelligenz, die künstlerisch bedeutsame Stücke finanziell unaufwändig und ohne kommerziellen Anspruch auf die Bühne bringen wollte. Es entstanden Gruppen wie die ,Washington Square Players‘ und die ,Provincetown Players‘, die teilweise auch Amateure beschäftigten und häufig trotz des künstlerischen Erfolges nur wenige Jahre bestanden, weil gerade der Erfolg viele Autoren, Schauspieler, Regisseure und Ausstatter an die großen Theater oder nach Hollywood brachte. Zahlreiche Stücke zunächst noch unbekannter, später weltberühmter Autoren wie Tennessee Williams oder Edward Albee erlebten im Off-Broadway ihre Uraufführung. Daneben kam es jedoch auch zur Aufführung selten gespielter, vergessener oder am Broadway durchgefallener Stücke. Ab den 1960ern wurde der Off-Broadway zunehmend die kleinere Version des Broadway und konzentriert sich heute auf kommerziell orientierte Aufführungen von Klassikern bzw. von Stücken bereits etablierter junger Autoren.

Die Funktion des Entdeckens und Experimentierens hatte bereits in den 1960ern der Off-Off-Broadway übernommen. Man wollte sich ausdrücklich vom kommerziellen Theater am Broadway, aber auch vom Off-Broadway, der sich in seinem kommerziellen Anspruch kaum noch vom Broadway unterschied, distanzieren. Die Aufführungen des Off-Off-Broadway fanden nicht mehr im herkömmlichen Theaterraum, sondern in Cafés, Kirchen, Lofts oder Warenhäusern hauptsächlich in der New Yorker Lower Eastside und in Greenwich Village in der Regel vor nicht mehr als 100  Zuschauern  statt.  Die  Inszenierungen  waren häufig politisch motiviert und entstanden durch kollektives Experimentieren, auch unter Einbeziehung des Publikums. Kennzeichnend für den Off-Off-Broadway sind die seit Beginn der 1960er Jahre wie Pilze aus dem Boden schießenden Theatergruppen/-kollektive (z. B. ,La Mama Experimental Theatre Club‘, ,Judson Poets Theatre‘, ,Open Theatre‘, ,Performance Group‘, ,Wooster Group‘, ,Bread and Puppet Theatre‘, ,Living Theatre‘), in denen sich professionelle mit nichtprofessionellen Künstlern und Theatermachern zusammenfanden, um vor allem Grenzen herkömmlicher (Schauspiel-)Inszenierungen und damit auch Genregrenzen zu sprengen. Bildende Kunst, Tanz, Musik, Film wurden wesentliche Elemente der häufig nur wenige Male gezeigten Aufführungen. Junge amerikanische Autoren wie Ed Bullins, Rosalyn Drexler, Israel Horowitz oder Sam Shepard wurden dadurch bekannt und fanden in den 1970er Jahren sogar Verlage, die ihre Stücke herausgaben.

Unter dem Einfluss dieser Bewegung und im Zusammenhang mit der politischen Entwicklung gründeten sich in den 1960er Jahren in ganz Europa freie Theatergruppen, die bei aller Disparität im künstlerischen Ansatz doch eines gemeinsam hatten: Sie wollten außerhalb der staatlich subventionierten Bühnen in einem nichthierarchisch organisierten Miteinander von Künstlern und Laien Aufführungen erarbeiten, in deren Zentrum nicht der literarische Text, sondern die Übermittlung einer (politischen) Botschaft stand. Je nach (Theater-)Tradition und spezieller politischer Situation fanden sich diese Gruppen vorwiegend in den europäischen Metropolen zusammen. Wichtige Gruppen sind die 1962 gegründete ,Lindsay Kemp Company‘ (hervorgegangen aus dem ,Fringe Theatre‘ in   Edinburgh/Großbritannien),   Jérôme Savarys ,Théâtre panique‘ bzw. ,Grand Magique Circus‘ und Ariane Mnouchkines ,Théâtre du Soleil‘ (Frankreich),Nuova Scena‘ und ,La Commune‘ unter der Leitung von Franca Rame und Dario Fo (Italien). Wesentlich für den Austausch dieser Gruppen waren internationale Treffen wie das ,Edinburgh Festival‘ oder das ,Holland-Festival‘. In beiden Teilen Deutschlands ging der Impuls für das OT besonders von den Studentenbühnen aus. Gruppen wie die ,Studiobühne‘ in Erlangen, ,die andere bühne‘ in West-Berlin oder die ,neue bühne‘ in Frankfurt a. M. sind in den 1960er Jahren in der BRD Vertreter eines experimentellen, politisch eingreifenden Theaters. Ende der 1960er Jahre entstanden im Zusammenhang mit der politischen Entwicklung zahlreiche Straßentheater, unter deren Einfluss sich wiederum neue Theatergruppen gründeten, z. B. die ,Theatermanufaktur‘ (seit 1973) und das ,Zan Pollo Theater‘ (seit 1976) in West-Berlin, die ,Pantomimenbühne‘ (seit 1968) und die Gruppe ,Zinnober‘ (seit 1980) in Ost-Berlin. In den 1970er/80er Jahren nahm die Anzahl freier Theatergruppen rasant zu. Längst dominierte nicht mehr das Sprechtheater, es gab auch freie Opern- und Tanztheatergruppen. Kinder- und Jugendtheatergruppen entstanden (nach dem Vorbild des Berliner ,Grips-Theaters‘), im Zuge der feministischen Bewegung Ende der 1970er Jahre gründeten sich Frauentheatergruppen (das ,Aachener Frauenkabarett‘, 1978; ,Die Witwen‘, 1979). Daneben gab es Lehrlingstheater (,Rote Steine‘, ,Rote Nelke‘ in West-Berlin), Studenten-Kabaretts, Theaterkollektive (bestehend aus Schauspielschülern; z. B. ,Rote Rübe‘ 1970 in München), Theater der Bürgerinitiativen (die ,Theaterwehr Brandheide‘ mit Anti-Atomkraft-Stücken; das ,Mobile-Rhein-Main-Theater‘ mit Stücken für gewerkschaftliche Aktionen), Volks-, Animations- und Mitspieltheater.

Seit Beginn der 1990er Jahre besteht das OT in der BRD (wie auch in Europa) weniger aus freien Gruppen, als vielmehr aus freien Produktionen. Regisseure suchen sich ihr Ensemble für die beabsichtigte Inszenierung und eine (abhängig von den finanziellen Mitteln meistens sehr kurze) Aufführungsserie zusammen (stagione-Prinzip bzw. ,pick-up-company‘). Die Abgrenzung zum Staats- und Stadttheater ist zwar noch vorhanden, es ist jedoch eine immer stärkere wechselseitige Beeinflussung zu erkennen, z. B. setzen sich zunehmend Kooperationsmodelle zwischen Off- und staatlich subventioniertem Theater durch. Künstler aus den Staats- und Stadttheatern sind immer häufiger als Gäste im OT anzutreffen; auch der umgekehrte Fall tritt, wenn auch seltener, ein. Mittlerweile gibt es sogar an den staatlich subventionierten Bühnen Bemühungen, die organisatorischen Strukturen denen des OT anzugleichen, um einerseits in Anbetracht der degressiven finanziellen Unterstützung überhaupt weiter existieren zu können, andererseits aber auch künstlerisch flexibler zu sein. Für Inhalt und Form der OT-Produktionen wird die geringe finanzielle Ausstattung (Projektmittel der Länder und Kommunen, teilweise private Sponsoren) immer mehr prägend. So gibt es immer wieder Entdeckungen z. B. bei Kammeropern, einem aufgrund der wenigen beteiligten Sänger und Musiker häufig gewählten Genre in der Off-Oper. Auch junge Autoren tragen diesem Trend Rechnung und schreiben Stücke für kleinere Personage. Darauf reagieren wiederum die OT-Festivals und veranstalten Reihen wie das ,Solo-Duo-Festival‘ (Theater am Halleschen Ufer, Berlin) oder den Wettbewerb ,Das beste deutsche Tanzsolo‘ im Rahmen des alljährlich in Leipzig stattfindenden Festivals für zeitgenössisches europäisches Theater ,euro-scene‘.

Banham, Martin (Hg.): The Cambridge Guide to World Theatre. Cambridge u.a.1988; Büscher, Barbara/Schlewitt, Carena (Hg.): Freies Theater. Deutsch-Deutsche Materialien. Hagen 1991; Fröhlich, Pea: Das nicht-kommerzielle amerikanische Theater. Lampertheim 1974; Krug, Hartmut/ Kranz, Dieter u.a.: Schwerpunkt Oper off. In: Die Deutsche Bühne, 2001, H.  6.

GABI BEIER

Experiment  –  Freies  Volkstheater  –  Happening  – Interaktion – Kabarett –Mitspiel(theater) – Performance – Projekt – Szenische Lesung – Theater als öffentliche Institution – ZuschauSpieler