Wörterbuch der Theaterpädagogik (erschienen 2003)

Lehrstückbegleitende Musik

LM hat sich vor allem in Verbindung mit Brechts Lehrstücken  prägend  und  öffentlichkeitswirksam ausgebildet. Wie bestimmend Brecht die Rolle der Musik dabei sah, zeigt die Tatsache, dass er führende Komponisten des 20. Jhs. zur Mitarbeit aufforderte. Über Kurt Weill, Paul Hindemith, Hanns Eisler, Paul Dessau und Kurt Schwaen flossen Tendenzen der neuen Musik in die Lehrstücke mit ein: durch Weill die  Auseinandersetzung  mit  Formen  des  Jazz, der populären  Musik  und  der  Kammer bzw. Schuloper, durch Hindemith die Gemeinschafts-, Singund Spielmusik außerhalb des professionellen Konzertbetriebs, durch Eisler die Auseinandersetzung mit der Oratorienform und der vorklassischen Musik sowie ihre Einbindung in Formen proletarischer Kampfmusik, durch Dessau die Zwölftontechnik und durch Schwaen der Versuch, eine komplexe Musik für Kinder zu schreiben, ohne ,kindertümelnd‘ zu sein.

Auch zahlreiche andere Komponisten haben vor allem Ende der 1920er Jahre LM geschrieben, darunter Ernst Toch zu Das Wasser (Alfred Döblin), Hermann Reutter zu Der neue Hiob (Robert Seitz), Paul Dessau zu Das Eisenbahnspiel (Robert Seitz), Paul Höffer zu Das schwarze Schaf (Robert Seitz) oder Wolfgang Fortner zu Cress ertrinkt (Andreas Zeitler). Die Zahl der musikbegleiteten Lehrstücke wuchs sprunghaft an und hatte zur Folge, dass der Gattungsbegriff des musikbegleiteten Lehrstücks in Beliebigkeit und Unschärfe auf andere Kunstgattungen – auch Oper und Schauspiel – übertragen wurde und eine breite Diskussion in den Medien nach sich zog (vgl. Kolland 1978). Auch nach 1945 wurde zu Lehrstücken Musik komponiert, wie 1956 zu Brechts Die Ausnahme und die Regel durch Dieter de la Motte.

Brechts Lehrstücke enthielten von Anbeginn Musik als integrierenden Bestandteil. So zeigt die Entstehungsgeschichte der Maßnahme, wie Brecht und Eisler in enger, kritischer Produktionsgemeinschaft Text und Musik entwickelten. Die Lehrstücke sind ausnahmslos Modelle eines spezifischen Musik-Theaters, das es in dieser Konstellation bisher nicht gab. Neuere Versuche, das Lehrstück den traditionellen vokalmusikalischen Genres zuzurechnen (vgl. Krabiel 4), sind ebenso problematisch, wie die seitens der Literatur- und Theaterwissenschaft lange praktizierte Ignorierung oder Vernachlässigung der musikalischen Dimension. Denn dieser Lehrstücktypus konstituiert sich weder in literarischer, theatralischer oder musikalischer Prägung, sondern vielmehr als ein sich durch alle Teile bedingender und miteinander verschränkter Komplex, ganz im Sinne von Brechts Ensemble-Gedanken der Künste.

Zu Brechts erstem Lehrstück, das zunächst den Titel Lehrstück trug, schrieb Hindemith die Musik. Er kam 1926 mit der aus der Wandervogel-Bewegung hervorgegangenen Jugendbewegung zusammen und zielte darauf ab, das dort gepflegte Repertoire von Barock- und Volksmusik durch eine qualitativ hochstehende, zeitgenössische Laienmusik zu erweitern. Diese ,Aufwertung‘ des musizierenden Laien durch Hindemith traf mit Brechts Absichten zusammen, Zielgruppen jenseits des kommerziellen Kunstbetriebs anzusprechen. Hindemiths Partitur entsprach diesem Bedürfnis: Er ließ Stärke wie Besetzung des Orchesters offen und differenzierte nur zwischen hohen, mittleren und tiefen Stimmen. Traditionell vorgeschrieben ist lediglich das Fernorchester, d. h. Musikübertragung z. B. mittels Rundfunk. Durch Unstimmigkeiten zwischen Brecht und dem Komponisten – nicht zuletzt wegen nachträglicher Eingriffe Brechts in die Textstruktur – besteht seit 1958 ein Aufführungsverbot der Musik.

Während sich das Lehrstück – später Badener Lehrstück vom Einverständnis benannt – noch auf Darbietungsformen des Theaters oder Konzertsaals bezog, sollte der von Hindemith und Weill zunächst gemeinsam vertonte Lindberghflug die technischen Verbreitungsmöglichkeiten des Rundfunks nutzen. Brecht beabsichtigte einen Gebrauch des Radios jenseits konventioneller Programmvermittlung und bot mit einem auf Interaktivität zielenden Dialog zwischen dem Rundfunk (dem Musik-, Geräusch- und Textlieferanten) und dem Hörer (der simultan Teile des Lehrstücks singen und sprechen soll) einen weit in die Zukunft greifenden Modellversuch an. Wie beim Badener Lehrstück trat auch hier die Situation ein, dass die von Weill und Hindemith gemeinsam vertonte Fassung zur weiteren Aufführung nicht freigegeben wurde. Eine von Weill im Herbst 1929 vertonte Fassung wird aber bis heute aufgeführt, sei es im Konzert, als TV-Film oder als CD-Aufnahme. Auch Der Jasager mit Weills Musik, ein Werk, das der Komponist als ,Schuloper‘ bezeichnete, wird immer wieder gespielt. Sehr erfolgreich ist auch Die Ausnahme und die Regel als das im Inund Ausland meistgespielte Lehrstück, wozu Dessau 1948 die Musik schrieb.

Die intendierte Praktikabilität der Lehrstücke und ihrer Musik stand immer wieder im Widerspruch zu den Aufführungsverboten des Badener Lehrstücks, des Lindberghflugs und der Maßnahme. Dabei spielten spätere Textänderungen (welche die musikalische Ausführung partiell oder gänzlich undurchführbar machten), ästhetische wie politische Gründe eine Rolle. Das Aufführungsverbot der Erben und der Vertrieb des Notenmaterials durch Verlage gibt diesen Lehrstücken bis heute einen geschlossenen und ,offiziellen‘ Kunstcharakter mit Copyright-Absicherung. Dieser erschwert oder verhindert das ursprünglich von Brecht beabsichtigte Eingreifen der Spielenden in Musik und Text im Sinne einer aktualisierenden Anpassung, Vereinfachung und Streichung von Text- und Musikpassagen.

Weiterhin hat die Unkenntnis der Musik zu Brechts Lehrstücken ihren tatsächlichen Schwierigkeitsgrad lange verschleiert. So enthalten die Kompositionen Weills, Hindemiths, Eislers, Dessaus und Schwaens spieltechnische Anforderungen, die nur von semiprofessionellen Laien oder Berufsmusikern bewältigt werden können. Auch die Chöre der Maßnahme beziehen sich auf den hohen Standard der Arbeitermusikbewegung der Weimarer Republik, der mit dem Machtantritt der Nationalsozialisten zerschlagen wurde. Nach dem 2. Weltkrieg ist dieses Niveau nicht mehr erreicht worden. Das hat zur Folge, dass heute die LM überwiegend durch gut ausgebildete MusikerInnen aufgeführt wird.

Dümling, Albrecht: Laßt Euch nicht verführen. München 1985; Knopf, Jan (Hg.): Brecht-Handbuch, Bd. 1. Stuttgart, Weimar 2001; Kolland, Dorothea (Hg.): Musik und Gesellschaft 1930/31. Arbeitsblätter für soziale Musikpflege und Musikpflege. Reprint. Berlin 1978; Dies.: Musik und Lehrstück. In: Gellert, Inge/Koch, Gerd/Vaßen, Florian (Hg.): Maßnehmen. Bertolt Brecht/Hanns Eislers Lehrstück Die Maßnahme. Köthen 1999; Krabiel, Klaus-Dieter: Brechts Lehrstücke. Entstehung und Entwicklung eines Spieltyps. Stuttgart 1993; Lucchesi, Joachim: ,Das Stück wirkt mit der Musik ganz anders!‘ In: Gellert, a.a.O.; Lucchesi, Joachim/ Shull, Ronald: Musik bei Brecht. Frankfurt a. M. 1988; Rienäcker, Gerd: Musik als Agens. In: Gellert, a.a.O.; Weill, Kurt: Musik und musikalisches Theater. Mainz 2000.

JOACHIM  LUCCHESI

Arbeitertheater  –  Chorisches  Sprechen  /  Sprechchor – Ensemble der Künste – Reformpädagogik – Schulmusical – Theaterlied