Wörterbuch der Theaterpädagogik (erschienen 2003)

Lehrstück

L ist ein von Bertolt Brecht eingeführter thp Spieltyp mit Musik, der unter Verzicht auf Indoktrination das Potenzial zur Veränderung gesellschaftlicher Strukturen stärken soll und für den er ein eigenes Textgenre entwickelte, das nicht mit den Vorlagen für das ,epische Theater‘ identisch ist.

Anfang der 1980er Jahre, etwa fünf Jahre nachdem die ersten Praxisversuche mit dem L eingesetzt hatten, wurden diese in den Zusammenhang der damals aktuellen Theoriediskussionen gestellt: Theorie der Politischen Bildung v. a. von Oskar Negt, des Alltagsbewusstseins von Thomas Leithäuser u. a., der sozialen Lebenswelt von Alfred Schütz und Thomas Luckmann, des symbolischen Interaktionismus von George Herbert Mead und der ,szenische‘ Ansatz der Psychoanalyse von Alfred Lorenzer. Der Impuls, die lange wenig beachteten L als Instrument emanzipativer Pädagogik zu nutzen, hatte sich indessen aus der Beschäftigung mit Brecht ergeben: „Das Lehrstück lehrt dadurch, daß es gespielt, nicht dadurch, daß es gesehen wird.“ „Die Große Pädagogik […] hebt das System Spieler und Zuschauer auf. Sie kennt nur mehr Spieler, die zugleich Studierende sind.“ „Indem die jungen Leute im Spiele Taten vollbringen, die ihrer eigenen Betrachtung unterworfen sind, werden sie für den Staat erzogen.“ (zit. n. Steinweg 1976, Nr. 145, 29, 53)

Die neuere L-Forschung hatte 1964 begonnen, indem die Konsequenzen dieser und vieler ähnlicher Sätze für die Deutung der L-Texte durchdacht wurden. Ergebnis: Das Verdikt der marxistischen wie der bürgerlichen Literaturkritik, das L sei eine letztlich misslungene, spröde und ,mechanistische‘ (oder vulgärmarxistische) Übergangserscheinung auf dem Weg zum ,reifen‘ epischen Theater, ist aufzuheben: Die in den L-Texten vergeblich gesuchte Individualität ersteht in der Realisation durch die L-Spieler! Das Spiel stellt ihre sozialen und politischen Erfahrungen, ihre Emotionalität in all ihren Nuancen und Farben, ihre Lebensfragen und ihr Denken in den Mittelpunkt. Der Text bietet den Rahmen, die Folie für die Subjektivität der Spieler, sie selbst sind der Mittelpunkt der ,Übung‘, als die Brecht das L bezeichnet. Alle Sinnbezüge der Texte erschließen sich aus diesem Punkt. Diese vielfältigen Bezüge können hier nicht dargestellt werden (vgl. Steinweg 1972; 1995a).

Seit den 1970er Jahren entspann sich eine lebhafte Debatte zur L-Theorie (u. a. Steinweg 1976; Ruping), die bis in die 1990er Jahre fortgeführt wurde. Eine neue Debatte entstand, als Krabiel 1993 den Versuch vorlegte, den L-Typus noch einmal ganz anders zu bestimmen, nämlich als Musikgenre (vgl. u. a. Steinweg 1995a; 1995b; Vaßen 1996; Hartung 2003).

Die große Herausforderung der 1970er/80er Jahre war indessen nicht die Theorie, sondern die thp Praxis mit dem L, und zwar in doppelter Hinsicht: War es trotz der seit 1930 fast vollständig veränderten politischen Rahmen- und Rezeptionsbedingungen – die Maßnahme z. B. wurde für Arbeiterchöre geschrieben – möglich, den ,trockenen‘ L-Texten einen elektrisierenden Funken im Sinne ,politischer Bildung‘ zu entlocken? Und wie war es möglich, das Ineins von ,Taten‘ und ,Betrachtung‘ zu organisieren, das den pädagogischen Kern des L-Ansatzes ausmacht?

Als erster stellte sich einer der großen Regisseure und Brechtschüler dieser Aufgabe: 1975 führte Benno Besson zusammen mit Karge/Langhoff mit achtzig Werktätigen einer Fabrik in Terni (Italien) ein Seminar zu Die Ausnahme und die Regel durch. Der Versuch wurde mit interessanten Ergebnissen unter den ganz anderen politischen Bedingungen der DDR einige Monate später mit Mitarbeitern von zwei Großbetrieben wiederholt. Fast gleichzeitig führte der holländische Regisseur Paul Binnerts bei einer als Lernprozess angelegten Arbeit mit der Maßnahme ein durchgehendes ,Stilprinzip‘ als konstitutives Element des L-Prozesses ein. Hans Martin Ritter initiierte in Berlin die Integration von Versuchen mit dem L in die Ausbildung von Lehrern, und an drei Jugendbildungsstätten in Hessen und Berlin wurden Versuche mit L als Methode der außerschulischen Lehrlingsbildung durchgeführt.

Wie aber ein Spielprozess insbesondere mit Jugendlichen, in dem L-Texte im Mittelpunkt stehen, so strukturiert werden kann, dass nachhaltige Erkenntnisprozesse und Haltungsänderungen in Gang gesetzt werden, und wie solche Erkenntnisprozesse im L-Kurs bei jungen Leuten verlaufen, das konnte erst in einem mehrjährigen, von der ,Berghof Stiftung für Konfliktforschung‘ geförderten thp Forschungsprojekt ermittelt werden, das im Zusammenhang der Auseinandersetzung mit ,Gewalt‘ als zentralem Gegenstand der politischen Bildung stand (vgl. Heidefuß u. a.). Dabei stellte sich u. a. heraus, dass der L-Text allein nicht ausreicht, um selbstreflexive Prozesse in Gang zu setzen, sondern dass dafür spezielle Aktivitäten zur Körperaktivierung und vor allem spezifische Regeln erforderlich sind, die den Spielprozess strukturieren (u. a. Feedback  jedes  Teilnehmers  zu  jeder  Spielszene über die Wahrnehmungen und damit verbundene Bedeutungen; keine Bewertung des Spiels; strenge Abfolge von unabgesprochenen, abgesprochenen und ,fixierten‘ Spielversionen, bei denen gezielt mit alternativem Verhalten experimentiert wird; strenges Festhalten am Text; Verzicht auf psychologisierende Deutung – vgl. Steinweg 1995a, 23ff.).

Dieses Forschungsprojekt wurde jedoch nicht isoliert verfolgt, sondern war eingebettet in eine Vielzahl von unterschiedlichen Ansätzen, die seit Ende der 1970er Jahre an vielen Orten entwickelt und erprobt wurden: in Berlin (Hans Martin Ritter, Gerburg de Atencio, später auch Gerd Koch), in Hamburg (Gerd Koch), in Hannover (Florian Vaßen, Ralf Schnell), in Münster (Martin Jürgens, Arnold Windeler, Bernd Ruping) in Oldenburg (Ingo Scheller) entwickelten sich Zentren des L-Spiels. Der ästhetische Faktor hat in diesen Ansätzen unterschiedliches Gewicht, das Ziel ist aber immer ein pädagogisch-politisches: die Entwicklung eines Lernzusammenhangs, der Erlebnis und Reflexion, Sinnlichkeit und Abstraktion, Theorie und Praxis aufs Engste miteinander verbindet. Alle L-Ansätze arbeiten mit dem – bereits von Brecht geforderten – Rollentausch als ein Mittel, unterschiedliche Perspektiven auf die soziale und ästhetische Wahrnehmung zu gewinnen und die Routine des Alltagshandelns und der Alltagswahrnehmung aufzulösen.

Die meisten Ansätze beschränken sich auf Kurzzeitpädagogik (ein Wochenende, maximal eine ganze Woche). In dieser Zeit wäre die spielerische Erarbeitung eines ganzen L allenfalls ohne gemeinsame Reflexion möglich. Nur mit einzelnen Szenen zu arbeiten, ist – neben dem meist notgedrungenen Verzicht auf die mlehrstückbegleitende Musik – eine gravierende Veränderung gegenüber der von Brecht intendierten LPraxis.

1980 wurde von den genannten Zentren die bis heute aktive Gesellschaft für Theaterpädagogik gegründet. Der Band Assoziales Theater. Spielversuche mit Lehrstück und Anstiftung zur Praxis (vgl. Koch u. a.) dokumentiert die Experimente und Diskussionen in dieser ersten Phase der Gesellschaft und die Vielfalt der methodischen und didaktischen Zugänge. Assoziales Theater spielt auf den ,bösen Baal den Asozialen‘ an, von Brecht in manchen Manuskripten mit Doppel-s geschrieben, vor allem aber auf einen Vorgang, der für das Lernen im L konstitutiv ist: Es ist so gut wie unmöglich, eine L-Szene auch nur dreimal zu spielen, ohne dass sich – meistens sehr konkrete – Assoziationen an erlebte Wirklichkeit einstellen, meistens an konfliktive, gewaltsame oder gewaltträchtige Situationen, also Asozialität. Das L-Spiel verbindet das Persönliche, d. h. die individuelle Erfahrung in Konflikten des unmittelbaren Handlungs- und Lebenszusammenhangs mit dem Politischen, d.h. mit Konflikterfahrungen in Institutionen, im Beruf, in politischen Gruppierungen, mit politischen Gegnern oder sozial Mächtigen.

L-Experimente zielen auf die Differenz zwischen Bewusstsein, Ideologie und Haltung (Brecht spricht von ,Ideologiezertrümmerung‘). Entscheidend ist das ,Betrachten‘ der im Spiel sichtbar werdenden Haltungen und die damit entstehende Selbstdistanz. ,Betrachten‘ heißt zunächst – und auch dies ist eine Neuerung gegenüber Brechts eigener Aufführungspraxis –, dass Beobachter und Mitspieler ihre Wahrnehmungen und die damit verknüpften Erinnerungen/Bedeutungen mitteilen. Das distanzierende Betrachten der eigenen Haltungen findet aber zusehends auch unmittelbar im Akt des Spielens statt. Man sieht sich selber zu.

Dadurch kann sich eine Haltung – mit Brecht eine komplexe Einheit von geistigen und körperlichen Momenten – verändern, die in konfliktiven Situationen das Handeln steuert, was über politische Anund Absichten weit hinaus geht. Im L nehmen die TeilnehmerInnen selbst körperlich eine Haltung ein und fühlen aus dieser Haltung heraus, sozusagen mit aktivierter Sinnlichkeit (vgl. Steinweg 1979; Heidefuß u. a.). In diesem Prozess wird es möglich, Haltungen nachhaltig zu verändern, die uns daran hindern, unsere subjektiven politischen oder sozialen Ziele zu realisieren.

L-Spiel wurde und wird seit den 1970er Jahren in den unterschiedlichsten Zusammenhängen eingesetzt: als Mittel der kollektiven Selbstreflexion von Sozialarbeitern, in der Gefangenenarbeit, in der außerschulischen politischen Bildung mit Jugendlichen, zunehmend auch mit Erwachsenen, in der Friedenserziehung, in politologischen und germanistischen Einführungsveranstaltungen, als Instrument des interkulturellen Dialogs – Spielen in mehreren Sprachen gleichzeitig – (vgl. Maringer u.a.) und im Kontext der Trainings für einen gewaltreduzierenden Umgang mit Konflikten.

Nachfolgend werden mit Ausnahme weniger Grundtexte nur die Arbeiten aufgeführt, die nicht in der Bibliographie bei Steinweg 1995a bzw. in den Lehrstück-Bibliographien in Koch/Steinweg/Vaßen und Fornoff/Vaßen angegeben sind.

Brecht, Bertolt: Der Lindberghflug (1929, später umbenannt in Der Ozeanflug, 1948); Das Badener Lehrstück vom Einverständnis (1929); Der Jasager/Der Neinsager (1930); Der böse Baal der Asoziale (1930, posthum veröffentlichtes Fragment); Die Maßnahme (1930/31); Die Ausnahme und die Regel (1932– 1939); Die Horatier und die Kuriatier (1934).

Fornoff, Roger/Vaßen, Florian: Lehrstückbibliographie. In: Korrespondenzen, 1994, H. 19/20/21; Hartung, Günter: Geschichte des Brechtschen Lehrstücks. In: Ders.: Der Dichter Bertolt Brecht. Leipzig 2003; Heidefuß, Wolfgang/ Petsch, Peter/Steinweg, Reiner: Weil wir ohne Waffen sind. Ein theaterpädagogisches Forschungsprojekt zur Politischen Bildung. Nach einem Vorschlag von Bertolt Brecht. Frankfurt a. M. 1986; Koch, Gerd/Steinweg, Reiner/Vaßen, Florian (Hg.): Assoziales Theater. Spielversuche mit Lehrstücken und Anstiftung zur Praxis. Köln 1984; Krabiel, KlausDieter: Brechts Lehrstücke. Entstehung und Entwicklung eines Spieltyps. Stuttgart, Weimar 1993; Maringer, Eva/ Wrentschur, Michael: Ja nemam kabat. Mrznu. Lehrstückspiel zum Thema Gewalt in der interkulturellen Jugendarbeit. In: Korrespondenzen, 1995, H. 23/24/25; Steinweg, Reiner: Das Lehrstück. Brechts Theorie einer politischästhetischen Erziehung. Stuttgart 1972; Ders. (Hg.): Brechts Modell der Lehrstücke. Zeugnisse, Diskussion, Erfahrungen. Frankfurt a. M. 1976; Ders.: Neues vom alten Brecht, oder: Friedensarbeit und Sinnlichkeit. In: antimilitarismus information, 1979, H. 7; Ders.: Lehrstück und episches Theater. Brechts Theorie und die theaterpädagogische Praxis. Frankfurt a. M. 1995a; Ders.: Re-Konstruktion, Irrtum, Entwicklung oder Denken fürs Museum. In: Brecht-Jahrbuch, Bd. 20. Madison 1995b; Vaßen, Florian: Brecht und die absolute Wahrheit des Herrn Kra oder Auf einen groben Klotz gehört ein grober Keil. In: Korrespondenzen, 1996, H. 27.

REINER STEINWEG

Hochschuldidaktik  –  Kommunikationstraining  – Szenische Interpretation