Wörterbuch der Theaterpädagogik (erschienen 2003)

Interaktion

I gilt als Bezeichnung für alle Vorgänge, die im zwischenmenschlichen Bereich ablaufen. Es ist das Geschehen zwischen zwei oder mehreren Personen, die wechselseitig aufeinander reagieren, sich gegenseitig beeinflussen und steuern. Voraussetzung für eine funktionierende I ist eine gewisse gegenseitige Voraussehbarkeit des Handelns, eine gewisse Übereinstimmung in Werten und Normen.

I ist im Theater ein wichtiger Faktor: Die Erarbeitung eines Stückes verlangt die differenzierte Analyse interaktiven Geschehens zwischen den Figuren. In der Inszenierung findet zwischen den Akteuren auf der Bühne verbale und nonverbale I statt. I existiert aber auch zwischen Bühne und Zuschauerraum: Aktionen provozieren Reaktionen, Geschehen verlangt Resonanz.

Von Interesse für die thp Arbeit ist I einerseits bezüglich der Analyse von Lehr-Lernprozessen und Gruppenführungsstrukturen, andererseits hinsichtlich des Einsatzes des Mediums Theater in der (schulischen) Erziehung.

Der Begriff der I basiert auf psychoanalytischen und gruppentherapeutischen Erfahrungen, aber auch auf Erkenntnissen aus Erziehungswissenschaft und Kommunikationsforschung. Auf der psychoanalytisch/gruppendynamischen Ebene ist es vor allem die von Cohn (1975) entwickelte Methode (TZI) zum lebendigen Lernen in → Gruppen (themenzentrierte I). Die Person des Lernenden wird als eine ,psychosomatische Ganzheit‘ betrachtet, die sich als eine Einheit von Wahrnehmung, Fühlen und Denken in wechselseitiger Verbundenheit mit ihrer sozialen Umwelt darstellt. Jede Lernsituation wird zuerst durch drei gleichrangige, gruppeninterne Faktoren bestimmt: das Ich des Lernenden, das Wir der Gruppe und das Es, den Lerngegenstand. Hinzu kommt als vierte Komponente die Umwelt (Globe). Sind diese Faktoren in einer dynamischen Balance, kann Angst reduziert, eine offene und vertrauensvolle Haltung zum Menschen gefördert und damit humanes Lernen ermöglicht werden.

In der Verknüpfung von I mit → Kommunikation sind es v. a. die Kommunikationstheorien von Watzlawick und Habermas, die Erkenntnisse über interaktive Prozesse erbracht haben: Kommunikation ist ohne I nicht denkbar – wer dem anderen Informationen mitteilt, setzt voraus, dass er kommunikationsfähig ist, beeinflusst und steuert ihn zugleich. Ebenso ist I ohne Kommunikation unmöglich – wer mit dem anderen in Beziehung tritt, übermittelt ihm zugleich Informationen. Soziales Lernen ist auf I angewiesen, hingegen ist nicht jede I sozial erwünschtes Lernen.

Wenn unter I-prozessen alles subsumiert wird, was sich zwischen Lehrenden und Lernenden, unter (voneinander) Lernenden, im Spannungsbereich des sozialen Umfeldes und im Lerngegenstand selbst abspielt, so wird deutlich, dass I sich durch eine hohe Komplexität von verbalen und nichtverbalen Signalen, von kognitiven und emotiven Elementen auszeichnet. Seit Ende der 1960er Jahre war auch die Untersuchung dieser Bereiche Gegenstand intensiver Forschung (vgl. Nickel 1976). Für die Beschreibung und Erklärung von Iprozessen ist eine Reihe von unterschiedlichen Modellen entwickelt worden, die jeweils bestimmte Aspekte des Geschehens fokussieren:

Der dimensionsanalytische Aspekt untersuchte vor allem Lehrverhalten (vgl. Tausch u. a.), der sozialpsychologisch-kognitive Aspekt die interpersonale Wahrnehmung (vgl. Jahnke), in den letzten Jahren erweitert durch den Einbezug emotiver Elemente (Sympathie, Angst, Erleben usw.). Ein weiterer Aspekt konzentriert sich auf die Analyse des sprachlichen Geschehens im Lehr-Lernprozess und wird als konversationsanalytische Konzepte zusammengefasst. Schließlich bildet ein weiteres Denkmodell die Idee des Unterrichts als soziale Situation, basierend auf soziologischen Theorien wie Symbolischer Interaktionismus und handlungstheoretische Konzepte. Dabei wird die Lehr-Lern-Situation als ein sozialer Ort des Aushandelns von Bedeutungen, von Routinen,  Ritualen  –  kurz:  von  Wirklichkeit  im Sinne des je persönlich erfahrenen Lebenszusammenhangs – verstanden (vgl. Heinze).

Im Zusammenhang mit thp I sind insbesondere Untersuchungen der Lehr-/Lernsituation von Interesse. R. und A.-M. Tausch formulierten im Rahmen ihrer Forschungsarbeit über Erziehungsverhalten folgende ,Grundwerte menschlichen Zusammenlebens‘: Selbstbestimmung und Achtung der Person, Förderung der seelischen und körperlichen Funktionsfähigkeit, Förderung des Zusammenlebens in sinnvollen sozialen Ordnungen. Aus diesen Grundwerten lassen sich Verhaltensmaßstäbe ableiten, die für interaktives Geschehen bzw. für ein positives Lehrund Lernklima förderlich sind:

Lehrende leben in der I vor allem Achtung, Wärme und Rücksichtnahme. Sie demonstrieren einfühlendes, nichtwertendes Verstehen, zeigen sich im Umgang mit Schülern echt und aufrichtig, sie versuchen nicht, den Schülern eine Rolle vorzuspielen und ihre wahren Empfindungen und Gedanken vor ihnen zu verbergen. Sie beeinflussen die Schüler im Unterricht durch fördernde, zum Lernen anregende Aktivitäten, ohne den Schülern ihr Verhalten im Einzelnen vorzuschreiben und ihnen alle Möglichkeiten für selbstbestimmtes Handeln zu rauben.

Im Bedingungsgeflecht des Gruppengeschehens müssen alle Mitglieder gleichberechtigt sein. Wo einer bestimmt, hat die Gruppenaktivität keinen Platz mehr. Wenn Ruth Cohn von Gruppenleitung spricht, meint sie nicht eine anordnende Instanz, sondern vielmehr eine  Integration:  Der  Gruppenleiter  ist  Teil,  übernimmt aber gleichzeitig die Verantwortung für das Gleichgewicht in der Gruppe. Aktive I lässt also alle Beteiligten gleichwertig miteinander und voneinander lernen und hilft dabei, wesentliche soziale Kompetenzen wie Teamfähigkeit, Rücksichtnahme, Kommunikations- und Kritikfähigkeit zu entwickeln und sich damit auch aktiv mit Begrenzungen, Regeln und Richtlinien auseinander zu setzen bzw. diese sinnstiftend zu erstellen.

Wer sich mit I-pädagogik und sozialem Lernen beschäftigt, dem fällt die Vielzahl theaternaher Begriffe auf: verbale und nonverbale Kommunikation, Gestik und Mimik, Aktion und Reaktion, Rollenverhalten und situationsgerechtes Handeln.

Es erstaunt wenig, dass sich ThP und I-pädagogik gegen- und wechselseitig angeregt und aufeinander Bezug genommen haben. Insbesondere in den 1970er Jahren boomten die verbindenden Publikationen aus den beiden Bereichen: Erinnert sei an die mehrbändige Ausgabe der Interaktionsspiele für Kinder und Jugendliche (Vopel 1976), an Gudjons Spielbuch der Interaktionserziehung (1987) wie an Nickels (1976) Untersuchungen zu Spiel, Theater und I oder Ehlerts (1986) Versuch, die beiden Wurzeln der ThP – Theater und Pädagogik– in Verbindung zu bringen und die gesellschaftsanalytischen und -kritischen Ansätze von Luhmann, Feldenkrais und Freire mit den großen Theatertheoretikern und -reformern Grotowski, Brecht, Stanislawski und Boal zu verknüpfen.

Die ThP stellte sich in den Dienst einer emanzipatorischen und mitunter auch politisch-gesellschaftlichen Erziehung zu Eigenverantwortung und Selbstkompetenz. Die I-erziehung umgekehrt trug bei zur Veränderung der Theaterarbeit in Richtung Gruppenprozess, brachte ein neues Verständnis der ,Regieführung‘ und der Ausgestaltung von Teamarbeit und gemeinsamer spielerischer Recherche theatraler Stoffe. Das Medium Theater unterstützte Erziehung, theatrale Elemente wie Rollenspiel, schauspieltechnische Wahrnehmungs- und Sensibilisierungsübungen oder integrierte Spiele zur Gruppenbildung in die pädagogische Arbeit, während die I-pädagogik zur Analyse gruppendynamischer Prozesse beitrug.

Theatrale  Formen  wurden  pädagogisiert,Spiel Mittel zum Zweck. Auch Darstellendes Spiel und Ierziehung in der Folge der 1968er Jahre wurden instrumentalisiert: Jugendtheatergruppen und professionelles Kindertheater gingen Hand in Hand in ihrem emanzipatorischen Anspruch, eine Welt zu schaffen, die besser – oder zumindest anders – war als die bestehende, was sowohl politisches Bewusstsein, Rollenverhalten als auch gruppendynamische Prozesse anbelangte. Zu vermuten ist, dass sich hinter der Selbstlosigkeit eines Spielleiters nicht selten auch klare gesellschaftskritische Ziel- und Wertvorstellungen verbargen.

Seit Anfang der 1990er Jahre hat der Begriff der I im thp Bereich an Bedeutung verloren. Inhaltlich, insbesondere was Gruppenleitung, Lehr- und Rollenverständnis anbelangt, hat er sich weitgehend institutionalisiert – sowohl autoritäre Regieführung als auch künstlerische Selbtverwirklichung des Leiters scheinen in der professionellen thp Praxis weitgehend überwunden. Hinsichtlich der politisch-emanzipatorischen Ebene haben sich die Gewichte einer heutigen ThP verschoben: Es geht nicht mehr in erster Linie um gesellschaftliche Veränderung und Reflexion von Gruppenverhalten und Selbstwahrnehmung; im Vordergrund steht heute eher das Spiel an sich, die Lust am Fantasieren und die Anregung persönlicher Kreativität– die Behauptung des homo sapiens als homo ludens also. So sind gruppendynamische Prozesse – Klassenzusammenhalt, Gesprächskultur, Gewaltlosigkeit – zwar nach wie vor anstrebenswerte Dimensionen thp Arbeit, doch wird Theater nicht mehr dazu gebraucht, diese Ziele zu erreichen. Theater und Spiel sind sich vielmehr selbst genug, und wenn dabei und beiläufig eine Gruppe zusammenwächst, wenn offene Kommunikation und Selbstbestimmung funktionieren, so nimmt man dies als erwünschte Nebenwirkung gern in Kauf. Ein positives Gruppenklima ist ohnehin unabdingbare Komponente für das Gelingen eines künstlerischen Gemeinschaftswerkes. Anstelle des  Begriffs ,Interaktionsspiele‘ wird heute lieber von Einstimmungsübungen und Warming-Up gesprochen. Wenn realitätsbezogene Alltagserlebnisse von Jugendlichen auf die Bühne kommen, so geht es dabei primär um Geschichten und weniger um die Analyse sozialen Lebens. Vielleicht ist es das gewachsene Selbstvertrauen der ThP, dass künstlerische Prozesse immer und ganz selbstverständlich auch fruchtbar sind für Selbstwert, persönliche Kompetenz und Gemeinschaftsfähigkeit.

Theaterpädagogen sehen sich zu Beginn des 3. Jahrtausends eher als Künstler, denn als Pädagogen, Theater als Kunstform eher als ihr Medium, denn Erziehung mittels theatraler Elemente. Wenn ThP es trotzdem schafft, etwas zur Selbstfindung, zur Ganzwerdung und zur gesellschaftlichen Wahrnehmung der Lernenden – zur Selbst-, Sozial- und Sachkompetenz – beizutragen, so ist damit außer dem Begriff selbst also eigentlich nichts verloren.

Cohn, Ruth C.: Von der Psychoanalyse zur themenzentrierten Interaktion. Stuttgart 1975; Ehlert, Dietmar: Theaterpädagogik. Leseund Arbeitsbuch für Spielleiter und Laienspielgruppen. München 1986; Gudjons, Herbert: Spielbuch Interaktionserziehung. Schriften zur Beratung und Therapie im Raum der Schule und Erziehung, Bd. 1. Bad Heilbrunn 1987; Habermas, Jürgen: Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der kommunikativen Kompetenz. In: Habermas, Jürgen/Luhmann, Niklas: Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie – was leistet die Systemforschung? Frankfurt a. M. 1971; Heinze, Thomas: Unterricht als soziale Situation. Zur Interaktion von Schülern und Lehrern. München 1976; Jahnke, Jürgen: Interpersonale Wahrnehmung. Stuttgart 1975; Nickel, Hans-Wolfgang: Überlegungen zur Struktur von Spiel und Theater. In: Zs. für Pädagogik, 1975, 1976 3; Ders.: Spiel-, Theater-, Interaktions-Pädagogik. Recklinghausen 1976; Tausch, Reinhard/Tausch, Anne-Marie: Erziehungspsychologie. Begegnung von Person zu Person. Göttingen 1977; Vopel, Klaus W.: Interaktionsspiele für Jugendliche. Lebendiges Lernen und Lehren. Hamburg 1981; Watzlawick, Paul: Menschliche Kommunikation. Formen, Störungen, Paradoxien. Bern, Stuttgart, Wien 1974.

ROGER LILLE

→ Authentizität – Kommunikationstraining – Lebensbegleitendes Lernen – Regie – Rhetorik – Sprechen – Theatralisierung (von Lehrund Lernprozessen) – Theatre in Education