Wörterbuch der Theaterpädagogik (erschienen 2003)

Gestaltpädagogik

In den 1950er/60er Jahren entstand in den USA die ,Humanistische Psychologie‘. Sie hat sich als ,Dritte Kraft‘ (vgl. Bugenthal) neben der Psychoanalyse und dem Behaviorismus zur einflussreichsten psychologischen Richtung des beginnenden 21. Jhs. entwickelt. Zu ihr zählen Konzepte wie die Gesprächspsychotherapie,  die  themenzentrierte Interaktion,  personenzentriertes Lernen, systemische Ansätze und die Gestalttherapie, auf deren Grundlagen die G basiert.

Aufgrund der Auswanderung deutscher PsychologInnen wie Charlotte Bühler, Ruth Cohn, Erich Fromm, Kurt Goldstein, Kurt Lewin, Fritz Perls u. a. nach Hitlers Machtergreifung entwickelte sich in den USA zwar eine amerikanische und doch eine europäisch geprägte humanistische Bewegung. Vom Geist der aufkeimenden Existenzphilosophie (Heidegger, Sartre) beeinflusst, gelangten die Konzepte schließlich zu ihrem Ausgangspunkt nach Deutschland zurück. Hier verbreiteten sie sich seit dem Ende der 1960er Jahre schnell und prägen heute die psychologische und pädagogische Debatte. Die Inhalte bestimmen europaweit viele Fort- und Weiterbildungsangebote. Auch unternehmerische Kommunikationsziele sind davon neu beeinflusst.

Die G beginnt 1977 ihren Weg mit dem Erscheinen des gleichnamigen Buches von Petzold/Brown, in dem der Begriff eingeführt wird und deutsche wie angloamerikanische  Autoren  über  Erfahrungen der Gestalttherapie in pädagogischen Kontexten berichten. Nach Cohn/Farau dient Gestalttherapie der Auflösung fehlgeleiteter und fixierter Strebungen, z. B. in den Kontaktvermeidungsmustern, während G sich auf die Erfüllung und Erweiterung des freien Potenzials bezieht, z. B. im variablen Handeln an der Kontaktgrenze.

G ist ein umfassendes Konzept ganzheitlicher Pädagogik, das die persönlichkeitsfördernden Ansätze und Methoden verschiedener Richtungen der Humanistischen Psychologie und Pädagogik mit der Tradition europäischer Reformpädagogik verbindet. Sie fragt, was es für die Entwicklung des Einzelnen bedeuten könnte, wenn Lehren und Lernen in einem ganzheitlichen Kontaktprozess auf den vier Ebenen ,Ich‘ (der Einzelne), ,Wir‘ (die Gruppe), ,E‘ (das Thema) und ,Globe‘ (die Um- und Mitwelt) stattfindet. Der Kern der G besteht darin, dass Lehrende wie Lernende optimale Kontaktmöglichkeiten entwickeln, und zwar in der Bezogenheit auf sich selbst, zu anderen, zu Situationen, Aufgaben und Zielen. Der wohlwollende und kritische Kontakt zu sich selbst sowie eine anteilnehmende Wahrnehmung nach außen begleiten alle G-Arbeitsschritte.

Die zentrale pädagogische Absicht verfolgt also das Ziel, befriedigende Beziehungen mit Menschen und zu Dingen im sozialen Umfeld herzustellen. Das bedeutet eine Verbesserung von Kontaktvoraussetzungen und von Beziehungsfähigkeit. Dabei hat ,Kontakt‘ mit der individuellen Disposition zu tun, wie eine Verbindung zur Außenwelt (Objektwelt) hergestellt werden kann. Die ,Beziehung‘ offenbart unter sozialen, kommunikativen und gruppendynamischen Aspekten, wie das Handeln eines Menschen zu anderen Menschen und Gegenständen vollzogen wird.

Fritz Perls (1883 in Berlin geboren) suchte die Anlehnung an Heideggers Konzept des ,In-der-Welt-Seins‘ und ,Mit-Seins‘ (vgl. Heidegger). Beide sehen den Menschen nicht nur mit einem ,Zentrum‘ oder einem ,Kern‘, sondern als ganze Person, dem ,Selbst‘, mit seiner Umwelt verbunden. Die ,Kontaktgrenze‘ ist keine Grenze zwischen, sondern eine Grenze mit der Außenwelt, d. h. der Mensch ist immer auch Teil der Umwelt. „An dieser Grenze ereignet sich das Leben in all seinen Erscheinungsformen.“ (Quittmann 119)

Im Augenblick, in dem sich diese Begegnung des Individuums (Subjekt) mit den Gegebenheiten der Umwelt (Objekte) ereignet, wird im Körper ein wichtiger Mechanismus in Gang gesetzt, der in seiner Wirkung die Qualität des Kontaktes bestimmt. Der Organismus unterliegt einem Prinzip, demzufolge  er in einem ständigen Wechsel von Gleichgewicht und Ungleichgewicht seine Bedürfnisse befriedigt (Prinzip der Homöostase). „Dieser Kontakt entsteht immer im Zusammenhang mit dem jeweils stärksten Bedürfnis des Organismus, das in Form von ,Gestaltbildung‘ als ,Figur‘ aus dem ,Hintergrund‘ der verschiedenartigsten Bedürfnisse hervortritt.“ (Quittmann 119f.)

Also verlangen nicht gleichzeitig alle Bedürfnisse mit derselben Kraft nach einer Befriedigung. Vielmehr bildet sich eine (Bedürfnis-)Konstellation, die auch als ,Gestalt‘ definiert ist. Sie besteht aus den Bedürfnissen, die im ,Hintergrund‘ gehalten werden und einem Bedürfnis, das sich als ,Figur‘ in den ,Vordergrund‘ drängt. Dieses Bedürfnis bestimmt hauptsächlich die Qualität des Kontaktes an der ,Kontaktgrenze‘.

Nicht nur die existenziellen Grundfragen wie Angst, Verzweiflung oder Scheitern, die nicht an die Kontaktgrenze gelassen werden, können jemanden belasten. Manchen Menschen fällt es schwer, Glück, Liebe und Freude als Figur im Vordergrund zu zeigen. Wer seinen im Hintergrund drängenden Bedürfnissen zu selten Gelegenheit gibt, sich als Figur im Vordergrund zu präsentieren, beachtet weder die eigenen Körpersignale ausreichend, noch reagiert sein Organismus im Einvernehmen mit den Gegebenheiten in der Außenwelt.

Die ThP ist prädestiniert, die Kontaktfähigkeit als Bestandteil unseres Lebensglücks und unserer Lebensenergie über das Medium des Spielens zu verbessern. Dabei sind einerseits die Reaktionen des inneren Erlebens auf die Außenimpulse wichtig und andererseits die Arbeit am Ausdruck, der auf der Basis unserer Wahrnehmungen schließlich das reale Kontaktverhalten steuert.

So eignet sich beispielsweise das verbreitete Improvisationstheater nach Keith Johnstone für die Realisierung von G-Zielen. Die Spielpartner sollen eine Grundhaltung aufbauen, in der sie sich gut wahrnehmen, sich gegenseitig unterstützen und so zu einem gemeinsamen Spiel kommen. Die für das Impro entscheidende Grundregel des ,Akzeptierens‘ kann gestaltpädagogisch als ,Gewahrsein‘ (awareness) begriffen werden, das unsere Kontakte prägt. Die spontanen Begegnungen fördern immer stärker die latenten Ausdrucksbedürfnisse aus dem Hintergrund zu Tage, um ihnen schließlich zur tragenden Figur im Vordergrund zu verhelfen.

Auch im Szenischen Spiel können G-Prinzipien angewendet werden, wenn die Erarbeitung einer Rolle mit dem Focus auf der Einfühlung in die Subjektivität einer Persönlichkeit passiert. „Einfühlung wird zu einer Vorgehensweise, die das Verhalten des Menschen verändert, indem es mit neuen Erfahrungen angereichert wird.“ (Ponick 72f.) „Im Einfühlungsprozeß kann ausgelotet werden, wie groß die Intensität des Bestrebens oder der Abwehr gegen diese Beziehung ist, beobachtet man die eigenen Gefühle darin.“ – so erläutert Ponick (ebd. 73) die Arbeitsweise Ingo Schellers.

Tiefgreifende Selbsterfahrung ist ein grundlegender Bestandteil von G-Weiterbildung. Nicht die Übernahme einer neuen Methode ist für SpielleiterInnen wichtig, sondern die Erweiterung und Vertiefung pädagogischer Wahrnehmung. Daraus kann eine verbesserte thp Qualität entstehen, die verstärkt auf die Entfaltung der gegenwärtigen Kontaktfähigkeiten von SpielerInnen achtet, um die Angst vor dem eigenen Ausdruck in einer neuen Gestalt zu  überwinden.

Bürmann, Jörg/Heinel, Jürgen (Hg.): Früchte der Gestaltpädagogik. Bad Heilbrunn 2000; Bugenthal, James F. T.: Challenges of Humanistic Psychology. New York 1967; Burow, Olaf-Axel: Gestaltpädagogik. Paderborn 1993; Cohn, Ruth C./Farau, Alfred: Gelebte Geschichte der Psychotherapie. Stuttgart 1984; Heidegger, Martin: Sein und Zeit.  Halle  1927;  Hoffmann,  Bernward/Wilhelm,  Edgar 1998a.: Ästhetik und Kommunikation. Paderborn 2003; Perls, Frederick S./Hefferline, Ralph F. u. a.: Gestalttherapie. München 2000; Petzold, Hilarion G./Brown, George Isac (Hg.): Gestalt-Pädagogik. München 1977; Ponick, Markus: Einfühlung im Szenischen Spiel. In: Korrespondenzen, 1999, H. 34; Quittmann, Helmut: Humanistische Psychologie. Göttingen 1985; Reichel, René: Das ist Gestaltpädagogik. Münster 1996; Scheller, Ingo: Szenisches Spiel. Handbuch für die pädagogische Praxis. Berlin 1998.

EDGAR WILHELM

Contact Improvisation – Gruppe – Körpersprache – Kommunikationstraining – Rollenspiel – Selbsterfahrung – Soziodrama – Theatertherapie