Wörterbuch der Theaterpädagogik (erschienen 2003)

Freies Volkstheater

Im Kontext der 1968er Bewegung werden auch die Formen des Straßentheaters und des Agitprop-Theaters der Weimarer Republik wiederentdeckt. Dabei dominiert die politische Absicht häufig über die ästhetische Form. Schauspieler mit und ohne Ausbildung spielen zusammen und organisieren sich selbst. An Stelle von Hierarchie und strikter Arbeitsteilung tritt oft das Kollektiv. Viele Theaterstücke werden gemeinsam entwickelt, inszeniert und gespielt. Erreichen will man das Volk außerhalb der städtischen Theater: Lehrlinge, Schüler, Arbeiter. Deshalb wird das Publikum aufgesucht, man spielt in Jugend- und Kulturzentren, Kneipen, Zelten, auf der Straße und knüpft so an die Tradition des alten Wandertheaters an. Man kann diese Entwicklung auch als Weiterführung und Erneuerung der Volksstück-Tradition ansehen. Aktuelle gesellschaftliche und politische Konflikte werden aufgegriffen, um Macht- und Interessenstrukturen aufzudecken. „Aus der Perspektive einer ‚Geschichtsschreibung von unten‘ werden historische Ereignisse und traditionelle Stoffe neu aufgerollt. […] Nicht die Kunst-Sprache literarischer Werke, sondern die alltäglichen Sprachgewohnheiten der Zuschauer werden unter dem Diktum ‚Verständlichkeit‘ zum Material des Theaters. Nicht nur gezwungenermaßen versteht sich das freie als ein armes Theater. […] In der Realität gefundene Situationen, z. T. erst durch Erforschung  anderer  Lebensmilieus,  durch  Recherche verfügbar gemacht, werden Ausgangspunkt szenischer Improvisationen. Und: zunehmend gewinnen Komik – und zwar in ihrer subversiven Form, die das von Angst befreiende Lachen hervorbringt – und die Sinnlichkeit  ausgelassener  körperlicher  Aktion  an Bedeutung.“ (Volkstheater heute 7f.)

In den 1970er/80er Jahren entstanden so unterschiedliche Gruppen wie z. B. das Hoffmanns Comic Theater, die Theatermanufaktur, die Rote Rübe, das Mobile Rhein Main Theater, Theaterwehr Brandheide, der Theaterhof Priessenthal und das Chawwerusch Theater. Vorbilder für das Neue Volkstheater der Freien Theater waren u. a. Brechts episches Theater, die Commedia dell’Arte und Theaterschaffende aus anderen Ländern wie La Mama, San Francisco Mime Troupe und Bread and Puppet aus Amerika. Dario Fo zeigt in seinen Stücken (Zufälliger Tod eines Anarchisten; Bezahlt wird nicht) und Monologen (Mistero Buffo; Geschichte einer Tigerin), wie Theater einerseits unterhaltsam und komisch und andererseits trotzdem inhaltlich und parteiisch sein kann. Mit seinem Theater erreicht der Allroundkünstler, zusammen mit Franca Rame, ein Massenpublikum. Wie Fo bezieht sich auch Ariane Mnouchkine vom Théâtre du Soleil auf Formen der Commedia, ohne wie dieser direkt agitieren zu wollen. Ihre szenische Montage über das Revolutionsjahr 1789 wurde zum Vorbild für viele Volkstheaterprojekte.

Die Erfahrungen des Freien Theaters mit den Versuchen über ein Neues Volkstheater schlugen sich auch in der ThP nieder. Es entstanden verschiedenste Projekte, in denen sich Laien mit thp Mitteln mit historischen oder Alltagsthemen auseinander setzten und ihre Erfahrungen in Theaterstücken veröffentlichten (z. B. Chawwerusch). In den Städten und besonders auch auf dem Land gibt es eine große Anzahl von Theatervereinen, die die unterschiedlichsten Stücke erarbeiten und bei einem breiten Publikum auf reges Interesse stoßen (vgl. z. B. Mertz über Tiroler Volkstheater). Dabei finden sich im Repertoire nicht nur anspruchslose Schwänke. Die Theaterlandschaft hat sich auch in diesem Bereich gewaltig geändert, was aber bisher nicht adäquat dokumentiert wurde. Immer noch funktionieren, besonders in Deutschland, die Abgrenzungen zwischen Komik und Ernst, Unterhaltung und Inhalt, Dialekt und Hochsprache, Realität und Kunst, Amateur und Profi. Nach wie vor hat das Volkstheater damit zu kämpfen, dass es sich ständig legitimieren muss, da es in Sprache, Inhalt und Form als minderwertig gegenüber dem ,anderen‘ Theater angesehen wird.

Chawwerusch Theater: ,Starker Duwak‘, ,Wasser Weiber weiße Wäsch‘, ,Nuff un nunner‘. Dokumentationen über Theaterprojekte und Spurensuche. Herxheim 1991–1998; Mertz, Peter: Wo die Väter herrschten. Volkstheater – nicht nur in Tirol. Wien 1985; Seym, Simone: Volkstheatertradition in Frankreich. In: Das Théâtre du Soleil. Ariane Mnouchkines Ästhetik des Theaters. Stuttgart 1992; Volkstheater heute. In: TheaterZeitSchrift, Berlin, 1987, H. 21.

WALTER  MENZLAW

Volksbühne – Volksstück