Wörterbuch der Theaterpädagogik (erschienen 2003)

Forumtheater

F ist eine weltweit verbreitete Form des politisch-pädagogischen Mitspiel- und Improvisationstheaters, die  von Augusto  Boal  im  lateinamerikanischen Kontext der 1970er Jahre entwickelt wurde und zum Theater  der Unterdrückten  gehört.  Mit  F  wurden Formen von sozialer und politischer Unterdrückung bewusst gemacht und Themen wie Macht- und Gewaltmissbrauch der Ordnungskräfte, Rassismus, Sexismus, unerträgliche Arbeitsbedingungen und niedrige Löhne als Ausdruck ökonomischer Abhängigkeit und Ausbeutung behandelt. F zielt(e) auf die Entwicklung  einer  kollektiven  (Handlungs-)Perspektive gegenüber  gesellschaftlichen  Missständen.  Es soll(te) „Proberaum für die Revolution“, für Befreiung und Veränderung im „wirklichen Leben“ sein und war mit Fragen der Umsetzung von Strategien, die im Forum ‚geprobt‘ wurden, mit der gesellschaftlich-politischen Praxis sehr eng verknüpft (vgl. Boal 1989 u. Boal in Frey 73).

Neben dem Einfluss von Boal war für das F die ,Pädagogik  der  Unterdrückten‘  von  Paulo Freire (1982) maßgeblich. Durch eine enge Verbindung von Aktion und Reflexion sollten Menschen von ZuschauerInnen zu NeuschöpferInnen von Welt werden. F ist eine öffentliche, theatrale Diskussion, in der das Publikum alternative Handlungen und Handlungsweisen zu einer vorgegebenen, vorgespielten Szenenfolge ausprobieren kann. Trotz unterschiedlicher stilistischer, ästhetischer und kultureller Ausprägungen weist F folgende generelle Merkmale auf (vgl. Boal 1992,224ff.):

  1. Eine F-Szene entwickelt sich aus einem Konflikt zwischen ,Protagonist‘ (Unterdrücktem) und ,Antagonist‘ (Unterdrücker), deren Haltungen und Ansichten im Szenenverlauf sichtbar werden. Am dramatischen Höhepunkt der Szene scheitert der ,Protagonist‘ mit seinem Anliegen, der ,Antagonist‘ behält die Macht. Neben den beiden Hauptakteuren kann es eine Reihe weiterer Rollen geben, die als verlängerter Arm des Antagonisten und als powerless observer die Macht des Antagonisten noch verstärken oder sich mit dem Anliegen des Protagonisten
  2. F folgt einem eigenen Aufführungssetting, bei dem die Hauptrolle das Publikum spielt, das vom Zuschauer zum Teilnehmer, Protagonisten und Verantwortungsträger des theatralen Geschehens wird, in dem es die unterdrückten, ohnmächtigen Figuren ersetzen und an ihrer Stelle die anfänglich vorgegebene dramatische Handlung verwandeln, mögliche neue Lösungen probieren und Veränderungsmöglichkeiten diskutieren kann (vgl. Boal 1989, 43). Die SchauspielerInnen trachten danach, die Szene den möglichst gleichen Verlauf nehmen zu lassen, während das Publikum versucht, dem Geschehen eine Wendung zu geben. Das F weist Gemeinsamkeiten mit den fixierten Versionen im Lehrstückspiel (vgl. Steinweg ) auf, indem – ähnlich einem ,soziologischen Experiment‘ – die gleiche, wiederholbare Szene mit immer neuen Haltungen und Handlungen konfrontiert wird.
  3. Ein wesentliches Merkmal besteht in der Rolle des Spielleiters – dem Joker –, der auf die Einhaltung der Spielregeln achtet, zwischen dem Geschehen auf der Bühne und dem Publikum vermittelt, Einstiege zur Diskussion stellt und damit das Publikum zu einem kontinuierlichen, kollektiven und dialektischen Reflexionsprozess und einer inhaltlichen Auseinandersetzung aktiviert.
  1. Bestimmend für das F ist außerdem, dass es die Zuschauenden für Handlungen im wirklichen Leben stimuliert, bereichert und vorbereitet: „Der Zuschauer, der in einer Forumtheater-Sitzung fähig gewesen ist zu einem Akt der Befreiung, will diesen auch draußen, im Leben, vollbringen, nicht nur in der fiktiven Realität des Theaters“ (Boal 1989, 68f.).

Ausgangspunkt für F-Szenen sind individuelle und kollektive Erfahrungen von Ohnmacht und Unterdrückung, von sozialen und politischen Konflikten bzw. Problemen. Mithilfe einer Reihe von Probetechniken (vgl. Boal 1992, 211f.) werden sie in einem ästhetischen Gestaltungsprozess zu einer verallgemeinerbaren, theatralen Szene oder Szenenfolge verdichtet. In der entwickelten Szene soll deutlich werden, worin der Konflikt, das Problem oder die Unterdrückung bzw. das Interesse und der Wunsch nach Veränderung bestehen. Diese Ausgangsszene wird auch das Anti-Modell genannt.

Durch den Prozess einer F-Aufführung führt der ‚Joker‘. Am Beginn steht ein gemeinsames WarmingUp, in dem (schau-)spielerische Fähigkeiten der Beteiligten geweckt werden. Das anschließend gezeigte Anti-Modell wird zum Motor für das Mitspielen des Publikums, „das den schlechten sozialen Alltag, wie er vorgeführt wird, nicht mehr hinnehmen möchte“ (Richter  1989, 76).

In der Forumphase, die nach Spielregeln verläuft (vgl. Boal 1992, 232ff.), wird die Szene nochmals vom Anfang an gespielt, bis ein/e ZuschauerIn Stop! ruft und damit das Spielgeschehen unterbricht. Die DarstellerInnen auf der Bühne frieren in ihren Handlungen ein. Der/die ZuschauerIn schlüpft in die Rolle des Protagonisten/der Protagonistin, spielt an der unterbrochenen Stelle weiter und zeigt seine/ihre Idee, während die restlichen SchauspielerInnen aus ihrem Rollenwissen heraus agieren. Lösungsvorschläge für die Szene werden durchagiert und in ihren Folgen transparent gemacht. Handeln und Erkenntnis entfalten sich in einem solchen dramatischen Labor gemeinsam. So können Ideen kritisch überprüft und versuchsweise in die Theater-Praxis umgesetzt werden. Dabei ist die gute Debatte und die ständige Suche nach Handlungsmöglichkeiten wichtiger als die einzig richtige Lösung (ebd. 230f.).

Als Abschluss der Forumphase können Lösungsansätze auf ihre Umsetzbarkeit hin diskutiert werden. In der Geschichte des F führte das auch zur spontanen Bildung von neuen Projekt-, Aktions- oder Selbsthilfegruppen, wenn das F nicht schon selbst Teil einer politischen Kampagne zur Lösung von sozialen oder politischen Problemen gewesen war (vgl. Richter 77). F versteht sich als Werkzeug von Empowerment und richtet sich besonders an Gruppen und Communities, die mit Krisen und Konflikten zu kämpfen haben und gesellschaftlich benachteiligt sind. Es stellt im Legislativen Theater eine direkte Verbindung von betroffenen Bevölkerungsgruppen zu politisch-legislativen Entscheidungsträgern her (vgl. Boal 1998).

Kritik am F äußert sich aus verschiedenen Richtungen: So wird auf die Gefahr verwiesen, dass F in Klischees verhaftet bleibt, einfache Erklärungsmodelle entwickelt und gesellschaftliche Wirklichkeit nur reproduziert, anstatt „gesellschaftliche Konflikte und Widersprüche, deren Erscheinungsbild nicht eindeutig und offensichtlich ist“ (Vaßen 277), sichtbar und veränderbar zu machen. Ähnlich argumentiert Koch (218): F könne zu „statisch/statuarisch“ sein, indem es „historische Abläufe und Veränderungspotentiale, die schon im Leben und Agieren der Menschen miteinander gegeben sind“, zu wenig ernst nimmt.

Die Kritik verweist auf eine wichtige Bedingung für gelingendes F: Damit F Strukturen gesellschaftlicher Wirklichkeit in ästhetisch ansprechender Weise sichtbar und bewusst macht, die zum Mitspielen provoziert und ermutigt, sind der erfahrene, kompetente und zeitintensive Umgang mit einer Reihe von Arbeits- und Probetechniken notwendig (vgl. Wrentschur 5; Piepel 126ff.). Unter dieser Prämisse eröffnet F das Entdecken und das Erleben neuer Handlungsmöglichkeiten gegenüber erstarrten, unveränderlich und einengend wirkenden Situationen und Strukturen (vgl. Neuroth 132).

Kritisch gegen das Konzept von F wird auch eingewendet, dass Konflikte z. T. individualisiert werden und das Nachdenken über politische Organisation(sformen), die ,Selbstverständigung‘ lernender Kollektive und das Finden breiterer gesellschaftlicher Lösungen eher begrenzt bleiben (vgl. Ruping 1991, 74; Schutzman u. a. 145). Andererseits zeigen die Erfahrungen mit dem Legislativen Theater, dass F sich gut als Werkzeug für politische Beteiligung eignet.

Zu fragen ist, ob und unter welchen Rahmenbedingungen die Übertragung von im Theaterspiel neu entdeckten und erprobten Handlungsweisen in den Alltag gelingen kann. Bislang seltene Forschungen zu dieser Frage weisen in die Richtung des Gelingens (vgl. Baumann; Wrentschur 351ff.).

Baumann, Till: Von der Politisierung des Theaters zur Theatralisierung der Politik. Theater der Unterdrückten im Rio  de Janeiro der 90er Jahre. Stuttgart 2000; Boal, Augusto: Theater der Unterdrückten. Übungen und Spiele für Schauspieler und Nicht-Schauspieler. Frankfurt a. M. 1989; Ders.: Games for Actors and Non-Actors. New York 1992; Ders.: Legislative Theatre. Using Performance to make Politics. London, New York 1998; Freire, Paulo: Pädagogik der Unterdrückten. Bildung als Praxis der Freiheit. Reinbek 1982; Frey, Barbara: Das Theater der Unterdrückten in Europa. Magisterarbeit, FB Kommunikationswissenschaften, FU Berlin 1989; Koch, Gerd: ,… gegen den Strich bürsten!‘ Versuche mit Augusto Boals Theatervorschlägen. Ein Bericht. In: Ruping, a.a.O.; Neuroth, Simone: Augusto Boals ,Theater der Unterdrückten‘ in der pädagogischen Praxis. Weinheim 1994; Piepel, Arnold: Handlungsmodelle für die Zukunft – das Forumtheater. In: Ruping, a.a.O.; Richter, Kurt-F.: Integrative Therapie. Gestaltarbeit mit Forumtheater. Ein Versuch, Gestaltarbeit mit den Methoden soziokultureller Großgruppenarbeit zu verbinden. In: Gestalt und Integration. Zs. für ganzheitliche und kreative Therapie, 1989, H. 2 – 1990, H. 1; Ruping, Bernd (Hg.): Gebraucht das Theater. Die Vorschläge von Augusto Boal. Erfahrungen, Varianten, Kritik. Lingen, Remscheid 1991; Ders.: Vom szenischen Erkunden psychosozialer Befindlichkeiten. Erfahrungen mit einem Workshop zum Theater der Unterdrückten 1989. In: Ders., a.a.O.; Schutzman, Mady: Brechtian Shamanism. The political therapy of Augusto Boal. In: Schutzman/Cohen-Cruz, a.a.O.; Schutzman, Mady/Cohen-Cruz, Jan (Hg.): Playing Boal. Theatre, Therapy, Activism. London, New York 1995; Steinweg, Reiner: Lehrstück und episches Theater. Brechts Theorie und die theaterpädagogische Praxis. Frankfurt a. M. 1995; Vaßen, Florian: Wider die Banalität des Alltags. Acht Punkte zu Augusto Boal. Probleme und Möglichkeiten des ,Theaters der Unterdrückten‘. In: Ruping, a.a.O.; Wrentschur, Michael: Theaterpädagogische Wege in den  öffentlichen Raum. Zwischen struktureller Gewalt und lebendiger Beteiligung. Dissertation, Universität Graz 2000; Ders./ARGE FORUMTHEATER (Hg.): Forumtheater in Österreich. Praxis – Projekte – Gruppen. Wien  1999.

MICHAEL WRENTSCHUR

Experiment – Gruppe – Lehrstück – Regenbogen der Wünsche – Statuentheater – Theater der Unterdrückten – Theatersport – Theatre in Education – Unsichtbares Theater – Zeitungstheater – Zielgruppe – ZuschauSpieler